Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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19. Sonntag nach Trinitatis
10. Oktober 1999
Markus 1, 32-39

Walter Meyer-Roscher

Anmerkungen zur Predigt

Der Predigttext:

"Am Abend aber, da die Sonne untergegangen war, brachten sie zu ihm alle Kranken und Besessenen. Die ganze Stadt versammelte sich vor der Tür. Er half vielen Kranken, die mit mancherlei Gebrechen beladen waren, trieb viele böse Geister aus und ließ die Geister nicht reden, denn sie kannten ihn. Und des Morgens vor Tage stand er auf und ging hinaus. Er ging an eine einsame Stätte und betete daselbst. Simon mit denen, die bei ihm waren, eilte ihm nach. Als sie ihn fanden, sprachen sie zu ihm: Jedermann sucht dich. Und er sprach zu ihnen: Lasst uns anderswohin in die nächsten Städte gehen, dass ich daselbst auch predige; denn dazu bin ich gekommen. Und er kam und predigte in ihren Synagogen in ganz Galiäa und trieb die bösen Geister aus."

Liebe Gemeinde,

I.
"Jedermann sucht dich" - ja, damals! Aber heute sprechen die Zahlen eine andere Sprache und die sogenannten Realisten, die auf Zahlen fixiert sind, sagen: Immer weniger suchen ihn. Sie raten den Kirchen zum Rückzug aus der Öffentlichkeit und in die Nischen der Gesellschaft. Sie raten uns in unseren Gemeinden, die Verkündigung des Evangeliums auf die Kerngemeinde auszurichten und das Gemeindeleben ausschließlich für die, die schon immer dazu gehörten und auch weiter dazu gehören wollen, zu gestalten. Kirche für Insider, eine "geschlossene Gesellschaft"!

Lassen wir uns von den Zahlen und von den vorgeblichen Realisten beeindrucken? Verschließen wir die Träume und Hoffnungen von damals in der Erinnerung? "Jedermann sucht dich" - ist das heute wirklich nur noch eine Illusion?

II.
Der Evangelist schildert am Beginn der Wirksamkeit Jesu die unglaublichen Erwartungen vieler Kranker. Unter den Kranken aber sind es vor allem die von bösen Geistern Besessenen, die ihn suchen. Heilung von ihrer Besessenheit erhoffen sie sich, Heilung von den Mächten, die sie mit zerstörerischer Gewalt beherrschen, hin- und herreißen, orientierungslos, handlungsunfähig, lebensuntüchtig machen - oder eben auch "wahnsinnig", einem Wahn verfallen.

Das aber können uns die Realisten doch nun gerade nicht einreden: Die Überzeugung, dass Besessenheit lediglich ein Phänomen der Vergangenheit sei und eine aufgeklärte Gesellschaft nicht mehr zu beunruhigen brauche. Besessenheit von einem Geist, der Leben und Zusammenleben zerstören kann; Besessenheit von einer Macht, die alles Denken und Handeln beeinflusst, die einen euphorisch antreibt und die anderen ohnmächtig, willenlos macht - das gibt es auch heute. Die Wahnsinnigen und die Ohnmächtigen - ihre Zahl ist keineswegs rückläufig. Sie ist besorgniserregend angewachsen.

Günter Kunert meint sie wohl beide in seinem Gedicht: die, die von dem Wahn getrieben werden, dass alles machbar ist, und die, die diesen Machern und ihrem Wahn ausgeliefert sind.

"Nicht festzuhalten: Dieser Tag. Das Leben.
Gewebe löst sich auf und schwindet hin.
Was auch geschieht, du suchst den Sinn,
zumindest wirst du danach streben.
Erkenntnis die: Wir können uns nicht fassen
Und finden keinen, der uns Göttern gleicht.
Und keinen, der uns Hilfe reicht.
Wir sind uns ohne Gnade überlassen."

"Götterdämmerung" hat Günter Kunert sein Gedicht überschrieben. Wir haben uns selbst zu Göttern gemacht, meint er, und finden keinen, der uns Göttern gleicht.

III.
Sein wollen wie Gott - ein uralter Menschheitstraum. Und wieviel hat der Mensch schon erreicht, um der Realisierung dieses Traums ganz nahe zu kommen. Die Beherrschung der Natur und ihrer Gesetze ist Wirklichkeit geworden. Leben zu erzeugen, zu steuern und zu manipulieren, liegt im Bereich des Machbaren. Ja, wir finden keinen, der uns Göttern gleicht.

So wächst der Glaube an die Machbarkeit aller Dinge, auch an die Machbarkeit gelingenden Lebens und menschenwürdig geregelten Zusammenlebens. Das ist wie ein Zwang, der niemanden loslässt und alle erbarmungslos weitertreibt.

Aber wie kommt es, dass gleichzeitig die Leiden der Ohnmächtigen in unserer Welt überhand nehmen, dass Machtmissbrauch und Machbarkeitswahn so entsetzlich viele Opfer fordern? Das wahnsinnige Lebensgefühl "den Göttern gleich" - wie schnell verwandelt es sich in ein Gefühl von Orientierungslosigkeit, von Ohnmacht, von Resignation bei denen, die unter die Macher gefallen sind und sich aus eigener Kraft nicht wieder erheben können. Wir können es nicht fassen. Kunert versucht, weiter zu fragen und bekennt: "Wir können uns nicht fassen und finden keinen, der uns Göttern gleicht". Dann stehen wir gleichzeitig entsetzt vor den Folgen eines Machbarkeitswahns, der schon zur Besessenheit geworden ist. Wehe denen, die versagen oder die sich vertun, die etwas falsch gemacht haben! Wehe denen, die zurückbleiben, wenn Tempo gemacht wird! Und dann kann ohnmächtige Wut, Angst, die krank macht, Resignation, die alle Hoffnung verdorren läßt, zur Besessenheit werden - zu einem Zeitgeist, der hin- und herreißt, orientierungslos, handlungsunfähig und lebensuntüchtig macht.

Beide sind krank in ihrer Besessenheit und brauchen Heilung - die Macher und die Ohnmächtigen, die unter den Machern leiden.

"Erkenntnis die", schreibt Günter Kunert, "wir können uns nicht fassen und finden keinen, der uns Göttern gleicht und keinen, der uns Hilfe reicht. Wir sind uns ohne Gnade überlassen" - gnadenlos auf uns selbst zurückgeworfen! Wenn das unsere Zukunft ist, dann gnade uns Gott!

Wir sagen das so, wir gebrauchen diese Redensart, um unsere Ängste und Befürchtungen, aber auch ein gehöriges Maß an Resignation zum Ausdruck zu bringen. Und doch leuchtet in dieser Redewendung "dann gnade uns Gott" gleichzeitig auch eine Hoffnung auf - die Hoffnung auf einen Gott, der uns gnädig begegnet.

IV.
Jedermann sucht dich - keineswegs nur damals! Der Glaube an die Machbarkeit gelingenden Lebens wird sehr schnell brüchig, und dann steigt die Sehnsucht auf - die Sehnsucht nach Heilung von den unseligen Geistern, die ein Leben zerstören und das Zusammenleben in einer Gesellschaft auseinander reißen können. Dann wächst die Sehnsucht nach glaubwürdigen Kriterien des Menschseins und nach gelingendem Leben - gerade auch unter dem Ansturm der Probleme, unter dem Druck vielfacher Anforderungen und vielfacher Verunsicherung.

"Jedermann sucht dich" - und Jesus nimmt die Sehnsucht der Menschen nach Heilung auf. Der Evangelist zeichnet ein Bild, in dem bestimmte Züge des Wirkens Jesu besonders hervortreten: Die Offenheit, mit der er auf Menschen zugeht, ohne sie auf Bedingungen für Heilung und Heil festzulegen; die Bereitschaft, dorthin zu gehen, wo die einen ihr Unwesen treiben und die anderen sich quälen. Allen wendet er sich zu, den Besessenen, den Heillosen. Seine Nähe bringt die bösen Geister zum Schweigen. Das Bild spiegelt eine Souveränität wider, die aus dem Bewusstsein erwächst, einen göttlichen Auftrag zu haben. Schließlich lässt es eine tiefe Geborgenheit ahnen, aus der heraus Jesus lebt, aus der heraus er redet und handelt.

Wenn der Evangelist schreibt, dass Jesus noch vor dem Anbruch des neuen Tages, der mit neuen Herausforderungen auf ihn zukommt, die Einsamkeit sucht und betet, dann schließt das für ihn ein: Erfahrung der Nähe Gottes, Konzentration auf das, was das Leben trägt, ein Grundvertrauen, dass Gott niemanden ohne Hilfe, ohne Gnade sich selbst überlässt.

"Wir finden keinen, der uns Göttern gleicht und keinen, der uns Hilfe reicht", schreibt Kunert. "Wir sind uns ohne Gnade überlassen." Der Evangelist entwirft ein Gegenbild - das Bild dessen, der in göttlichem Auftrag allen diesen gnädigen Gott nahebringen, allen Hilfe reichen will - denen, die sich von der Macht und von der wahnsinnigen Idee der Machbarkeit des Lebens rastlos vorwärts treiben lassen, und denen, die von der Angst besessen sind, den gnadenlosen Anforderungen nicht gewachsen zu sein.

Für Jesus sind und bleiben sie gleichermaßen Kinder Gottes. Darin liegt ihre Menschenwürde und darauf gründet sich der Wert ihres Lebens - unabhängig von ihren Erfolgen oder ihren Niederlagen, ihrer Macht oder ihrer Ohnmacht.

Gott gibt seine Kinder nicht auf. Er sucht sie, er begleitet sie mit seiner Gnade auch an den Grenzen, an denen wir nichts mehr festzuhalten haben, wenn alles sich auflöst und schwindet.

"Was auch geschieht, du suchst den Sinn", schreibt Kunert. Du wirst ihn finden, sagt Jesus, wenn du dich wie ein Kind diesem Vater und seiner Gnade anvertraust. Aus solcher Geborgenheit und aus der Erfahrung von Gnade erwächst Verantwortung - eine Verantwortung, die den Schöpfer als Geber des Lebens anerkennt, und eine fürsorgliche Verantwortung für die Mitmenschen, für die Welt.

Der Glaube an die Machbarkeit gelingenden Lebens hat seine Kehrseite. Er kennt keine letztgültige Verantwortung. Darum wächst die Sehnsucht nach glaubwürdigem Menschsein, nach Heilung von unmenschlicher Besessenheit, nach Heil. In dieser Situation erweist das Bild, das der Evangelist von Jesus zeichnet, seine bleibende Anziehungskraft. "Sie brachten zu ihm alle Kranken und Besessenen!". Das ist nicht nur die Erinnerung des Evangelisten. Sie können auch heute kommen - alle, die Heilung von ihrer Besessenheit suchen, von dem zwanghaften Glauben, alles selbst machen zu können, aber auch die, die dabei auf der Strecke bleiben und von krankhafter Angst beherrscht werden. Für alle ist er da. Wir sind eben nicht gnadenlos uns selbst über lassen, sondern können uns der Gnade eines anderen anvertrauen - Gott sei Dank!

Amen.

Anmerkungen zur Predigt:

Nach der gottesdienstlichen Ordnung unserer Kirche steht in den Bibeltexten für diesen Sonntag im Kirchenjahr der Zusammenhang von Heilung und Heil im Vordergrund. Darauf weist auch der Wochenspruch hin: "Heile du mich, Herr, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen" (Jeremia 17,14).

Der Predigttext berichtet summarisch von Krankenheilungen und in diesem Zusammenhang von den vielen Menschen, die Jesus suchen. Dabei nennt der Evangelist mehrfach die von bösen Geistern Besessenen, die Heilung von ihrer Besessenheit und Befreiung von einem Geist, der Leben und Zusammenleben zerstört, erhoffen. Ich versuche in der Predigt, solche Besessenheit als eine Krankheit unserer Zeit zu begreifen und zu beschreiben. Dabei will ich als lebenszerstörende Geister sowohl den Zeitgeist, der uns die Machbarkeit aller Dinge nahebringen will, als auch Angst, Ohnmacht und Resignation angesichts der Folgen des Machbarkeitswahns identifizieren.

Für den Zeitgeist mag das Bekenntnis des Homo Faber stehen: "Der Mensch ist der Ingenieur, der alles machen kann" (Max Frisch in seinem gleichnamigen Roman). Die Ohnmacht der Opfer hat Robert Jungk in seiner - längst Realität gewordenen - Vision "Die Zukunft hat schon begonnen" so beschrieben: "Der moderne Mensch wird wissenschaftlich beobachtet, auf seine Eignung geprüft, bis zum Äußersten seiner Fähigkeiten benutzt und wie irgendein anderes Werkzeug weggeworfen, sobald er den gewünschten Zweck nicht mehr erfüllt". Die Angst vor dem Weggeworfenwerden ist für viele längst zu einer lebenszerstörenden "Besessenheit" geworden. Für die Predigt soll ein Gedicht von Günter Kunert diesen Zusammenhang zwischen Machbarkeitswahn und anscheinend hoffnungsloser Ohnmacht herstellen. Ohne Heilung von diesen beiden "bösen Geistern" kann Leben nicht gelingen. Heilung und Heil erwartet der Evangelist von Jesus. Darum lässt er die Jünger sagen: "Jedermann sucht dich". Die Aktualität auch dieser Aussage möchte ich mit meiner Predigt erweisen.

Walter Meyer-Roscher, Landessuperintendent in Hildesheim

e-mail: hartmann.ked@t-online.de

 

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