Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres / Volkstrauertag
Lukas 16, 1-8 / 1.Korinther 4,1-5

Wolfgang Petrak

Liebe Gemeinde,

die Zeit ist da, wir können uns ihr nicht entziehen: Diesem Tag des Gedenkens an die Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft. Sich in dieser Zeit zu erinnern heißt, sich dem Vergessen entgegenzustellen. Es bedeutet, sich nicht einzugraben und im Schrecken des Gewesenen zu versinken, sondern um eine Zukunft zu wissen, die uns weiterbringt. Zu trauern heißt, bereit zu sein, den Schmerz aufzunehmen und zu teilen. Und es heißt, die Vergangenheit nicht zu verdrängen und die Gegenwart nicht zu einer bequemen Gabe, zu einer billigen Gnade später Geburt verkümmern zu lassen. Der Weite der Zeit können wir uns nicht entziehen. Sie ist da. Und das Wort ist auch da, das uns an diesem vorletzten Sonntag im Kirchenjahr gesagt ist (Verlesen des Textes Lk 16,1-7):...

Auch wenn es sich nur um etwas Vorletztes am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres zu handeln scheint: Man kann sich der Zeit nicht entziehen. Daß Jesus so etwas sagt! Und daß der Haushalter, der Herr Ökonom, es schließlich hinkriegt, irgendwie. Gewiß, er handelt eindeutig kriminell; er ist intelligent und Delinquent zugleich; nicht, daß lediglich seine Liquidität und Bonität infrage stünden: Nichts ist mehr mit dem Vermögen seines Herrn, gar nichts. Blowin`in the wind. Und trotzdem kann man sich diesem Menschen nicht entziehen. Das liegt nicht so sehr auf der Ebene des Mitleids mit dem fristlos Gekündigten, obwohl...Klar, man kann sich vorstellen, wie so etwas läuft.

Da wird der Haushalter von anderen "in böswilliger Absicht"( so müßte übersetzt werden,- Luther sagt "berüchtigt") beschuldigt. Zwischen der Pflicht zur Anzeige, der moralischen Entrüstung und dem vergnüglichen Händereiben Außenstehender paßt nicht einmal ein anonymer Brief. Mitleid regt sich wohl auch, wenn dem großen Agrarökonomen der totale Abstieg droht: Es würde gelten, mit den Händen den Spaten (nicht einmal den Pflug) zu führen; es würde zur Konsequenz haben, sich milder Wohltätigkeit auszuliefern." Haste mal ´ne Mark"; Platte zu machen; platt zu werden, wie auch andere platt gemacht werden: Mein Gott, so kann man doch nicht leben.

Er aber sagt sich." Mein Herr". Und dann gibt er die wohl zu Unrecht eingenommenen Zinsen zurück. Er gibt viel, genauer gesagt: 16,3 hl Öl und 65,2 hl Weizen. Jeder kann also die Umverteilung von oben nach unten sehen. Indeskann man nur ahnen, wie die Schuldscheine gezeichnet sind. Ist ja auch egal, Hauptsache...

Was ist die Hauptsache? Nichts ist darüber gesagt, wie es weitergeht. Ob der veruntreuende Hausverwalter nun zu einem Schlafplatz, ob sein Gewissen zu einem sanften Ruhekissen kommt. Es ist also nicht einfach: Ende gut, alles gut. Man weiß ja um seine Schuld und kann sich dem nicht entziehen. Trotzdem: Richtet nicht. Wartet ab. Denn der Herr sagt:(V. 8 lesen). Mein Gott, was kann mit einem Mal für eine Zukunft da sein! In ihr wird noch nicht einmal mit moralischen Maßstäben gerechnet, weil Gott zu seinem Recht kommt! Der kann man sich nicht entziehen!

II.

Ich kann mich den Bildern der letzten Woche nicht entziehen. Wie immer wieder im Fernsehen gezeigt wurde, wie der Schlagbaum am 9. November in der Bernauer Str. aufging. Menschen, die aus dem anderen Teil Deutschlands (so sagte man früher manchmal) herüber kamen, frei, lachen, weinend: Wahnsinn. Wie auf der Mauer getanzt wurde. Wie am Samstagmorgen es in unserer Stadt roch wie in Halle oder Karl-Marx-Stadt (auch so sagte man früher), wie die Geschäfte voll waren. Wie die Studenten aus Halle eine Woche später mit Politikern unserer Stadt (nicht alle Fraktionen trauten sich) diskutierten, über die Chancen der Grenzöffnung, über die damit verbundene Verkehrsproblematik, vor allem aber: was man gegenseitig voneinander lernen und welche gemeinsamen Perspektiven man entwerfen könne. Demokratischer Aufbruch. - In der letzten Woche redeten wir in unserem Männerkreis unter uns: "10 Jahre danach". Es wurde da gesagt, daß das Begrüßungsgeld damals ein Fehler gewesen sei, wegen der geweckten Erwartungshaltung. Mein Gott, die Bedeutung des Geldes und was alles davon abhängt, so daß man sich dem Bedürfnis nach materieller Sicherung nicht entziehen mag: Ist nicht die Freiheit, ist nicht die gemeinsame Zukunft uns etwas wert gewesen?

Wie noch der Schabowski auf der Pressekonferenz zum Schluß die beabsichtigte Grenzöffnung bekannt gab; dieses suchend-stotternd vorgetragene "Ab sofort", das Ströme der Freiheit eröffnete, bis dahin unvorstellbare Zukunft, vielleicht aus Unwissenheit, vielleicht aus Schlauheit bedingt. Er ist 10 Jahre später als einer der politisch für den Schießbefehl Verantwortlichen verurteilt worden. Ich dachte, ob man da so richten muß?. Doch er sagte in dieser Woche in einem Interview sinngemäß, daß ein Rechtsstaat keine andere Wahl habe als zu seinen Prinzipien zu stehen. Er selbst werde zu seiner Verantwortung stehen, sich nicht sozusagen einbuddeln, sondern dem Strafmaß stellen. Im übrigen meine er, daß man die von vielen herbei geredete Mauer im Kopf keine Wirklichkeit haben werde. Denn der Weg der Freiheit ist die Zukunft.

Ist es bei dem Haushalter, der Agrarökonom war, nicht auch so gewesen, daß die Zukunft mit einer gerechten Umverteilung von oben nach unten begann? Ist er selbst nicht auch schlitzohrig-schillerrnd-schuldig, also offen gewesen? Auch dieser Mann sprach nicht entschuldigend von den Verhältnissen und den damaligen Herren und deren Verantwortung, sondern er sagte :"Ich". Und: "Mein Herr". Dem kann man sich nicht entziehen.

Ich kann mich -obschon nach dem Krieg geboren- nicht unserer Geschichte entziehen. Wie ich damals zusammen mit meinem Vetter ( auch so sagte man damals) bei Sinalco und Topfkuchen am Katzentisch saß) während die Eltern und Tanten nach dem Kaffee schon bei Bier, Likör und Weinbrand angekommen waren und mit gelöster Zunge über Politik redeten. Namen waren aufzuschnappen: Adenauer, der die Gefangenen aus Rußland zurückgebracht hatte; Schumacher, der für die Wiedervereinigung gewesen war, aber anders. Vater sagte etwas vonThomas Dehler, die Tanten entgegneten mit Globke; Heinemann wurde auch genannt und Pieck.ein Nachbar sagte einmal leise, wie er in Rußland durch Blut gewatet war. Der Vater zeigte Bilder von seiner Flak: "Wir sind ja noch einmal davon gekommen", So hieß es. Und: " Es geht aufwärts" obwohl es in den 50iger Jahren mit unserer Familie finanziell abwärts ging.

Später saßen wir Jungens mit am Tisch, redeten, fragten. Ob sich die Eltern jemals gefragt hätten, was sie hätten tun müssen, als der Zahnarzt, der um die Ecke seine Praxis hatte, von der Gestapo abgeholt worden war? Die zögerlichen Antworten mit den Hinweisen auf das Nichtwissen, den Selbstschutz ließen dann den Nierentisch zur Anklagebank werden. Wir aber entzogen uns innerlich diesem Raum, indem wir meinten: unsere Generation werde es anders machen.

Es ist Gauck gewesen, der in dieser Woche im Anschluß an die Feierlichkeiten sagte, man müsse sich einmal vorstellen, die Stasi hätte ihre Einrichtungen -sagen wir einmal- in Wilhelmshaven oder in Hannover stehen gehabt: Wer weiß, ob wer von uns Wessis nicht auch aus Opportunismus und scheinbarer Schläue, aus Not und Überlebensdruck zum IM geworden wäre? Ja, ich muß mir auch vorstellen, wenn ich 1932/33 als Pastor es erlebt hätte, wie sich die vormals leeren Kirchen wieder füllten mit Leuten, die sonst nicht mehr da gewesen waren; mit modernen volkstümlichen Liedern und Liturgien, vielleicht wäre ich auch dabei gewesen, deutsch und scheinbar christlich zugleich ... Oh mein Gott, nein.

Ich sage jetzt nicht: richtet nicht. Dabei weiß nicht ich, ob ich gerichtet werde.

Wenn ich an die Entscheidungen dieses Jahres zurückdenke, die bedeuten, zum ersten Mal nach dem zweiten Weltkrieg sich wieder ein einem kriegerischen Einsatz zu beteiligen, weil nach aller Abwägung nur so die Menschenrechte geschützt werden konnten, so empfinde ich tiefe Zweifel. Nicht nur gegenüber den Regierenden, die doch meiner Generation angehören und deren Ziele ich eigentlich zu teilen meine. Sondern vor allem gegenüber mir selbst: Was würde ich anders machen, wenn nur die Wahl zwischen Schuld und Schuld bleibt? Sich in Gedanken und Skrupeln vergraben? Sich in den Spaß der Erlebnisgesellschaft hineinwerfen? Wer also wird mich befreien vom Gewicht unserer Zeit und meiner Schuld?

Über sich hat Paulus einmal dieses gesagt (vorlesen: 1. Kor 4,1-5). Es geht darum zu glauben, daß es über unsere Zeit noch eine andere Zeit gibt. Ihr können wir uns nicht entziehen. Sicher: ich weiß nicht, unter welchem Urteil ich einmal stehen werde. Doch daß es von Christus her eine Zukunft gibt, das ist gewiß. Deshalb kann ich schon jetzt sagen: Mein Herr und mein Gott.

Lieder: EG 145,,6f; 321,2 386,1+2

P. Wolfgang Petrak
St. Petri Weende
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