Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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1. Advent
28. November 1999
Römer 13, 8-12

Dietz Lange

Predigt über Röm. 13,8-12: "Die in der Nacht vom Tage reden"
1.Advent 1999, Universitätsgottesdienst, St.Nikolai Göttingen

Liebe Gemeinde!

I.

"Die jungen Leute von heute wollen nichts mehr leisten. Die haben es zu gut. Als wir jung waren, da mussten wir noch richtig ran! Da herrschte noch Zucht und Ordnung. Auch Kirche und Theologie waren noch intakt." So pflegen Angehörige meiner Generation häufig zu reden. Sie kennen das. Als ob der Konkurrenzkampf heute in allen Berufen nicht extrem hart wäre. Als ob die Aufbauzeit der 50er Jahre nicht auch von der Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit und von den vielen alten Seilschaften in führenden gesellschaftlichen Positionen geprägt gewesen wäre. Als ob Theologie und Kirche unter den heftigen Richtungstreitigkeiten der Zeit nicht auch mächtig zu leiden gehabt hätten. Vielleicht sind solche Schönrednereien nur eine Frage des Gedächtnisses. Wenn wir versuchen, uns zu erinnern, dann müsste uns doch eigentlich einfallen, was wir damals ständig zu hören bekamen: "Ja, zu meiner Zeit, da wurde uns nichts geschenkt. Was wir da leisten mussten, davon macht sich die Jugend von heute keinen Begriff. Und klare Maßstäbe, die gab es damals auch noch!" Wie vertraut! Die so genannte gute alte Zeit war für die damals ältere Generation die Weimarer Republik mit ihrem antidemokratischen Ressentiment und ihrem wachsenden politischen Extremismus.

Aber vielleicht sind solche Altersreden doch nicht nur eine Frage des Gedächtnisses, sondern auch ein psychologisch verständlicher Vorgang: Wer mein Alter erreicht hat, dem passiert es allzu leicht, dass er die Stimmung, die durch den Rückgang des eigenen Einflusses und allmählich auch der eigenen Kräfte entsteht, in die Zeitdiagnose einfließen lässt. So werden wir zu Leuten, die mitten am Tage von der Nacht reden, und zwar von einer Nacht, die nicht mehr aufhören wird. Universität und Kirche, Politik und Wirtschaft - alles nur noch ein einziger Trümmerhaufen? Immerhin wären es dann ja wir, die diesen Trümmerhaufen hinterlassen hätten!

Nun fällt allerdings auf, dass Pessimismus heute nicht nur eine Sache des Alters ist. "No future" ist schon durch seine neudeutsche Form als Jugend-Slang ausgewiesen. Das Ausbleiben der einst versprochenen "blühenden Landschaften", das Zerbröckeln des sozialen Kitts in vielen Bereichen der Gesellschaft, die anhaltende Arbeitslosigkeit, die Bedrohung der Altersversorgung und des Gesundheitssystems, Angst vor ökologischen Katastrophen, das alles sorgt für eine weit verbreitete, durch die Jahreszeiten hindurch anhaltende Novemberstimmung in unserem Land, quer durch die Generationen. Längst verflogen der Aufbruchs-Elan der 70er Jahre, als man den "Muff der 1000 Jahre" fortkehren wollte und meinte, das sozialistische Paradies auf Erden schaffen zu können. Stattdessen die Sorge, in den weltweit im Gang befindlichen Umbrüchen die Orientierung zu verlieren und den Anschluss zu verpassen. Hat also der Alterspessimismus dieses Mal doch Recht? Persönlich weigere ich mich, das zu glauben, aber die Frage bleibt offen. Wer wollte eine Prognose wagen?

II.

Mitten in diese Überlegungen hinein trifft der Satz des Paulus: "Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe." Aus einer zeitgeschichtlichen Analyse ist er allerdings nicht hervorgegangen. Der nahe Tag ist der Tag der Wiederkunft Christi, den man damals für unmittelbar bevorstehend hielt. Das scheint uns nun heute freilich am allerwenigsten weiterzuhelfen. Das "Kommen des Menschensohns in den Wolken", ist das nicht bloß eine alte mythologische Vorstellung, die für uns unwiederruflich vergangen ist? Sofern wir Christen sind, freuen wir uns in dieser Adventszeit auf Weihnachten - nicht auf den kommerziellen Rummel, der mit dem Verkauf von Schokoladen-Weihnachtsmännern ja schon vor Wochen eingesetzt hat, sondern auf das Fest der Liebe. Da ist noch christliche Substanz zu greifen. Aber die Wiederkunft Christi am Ende der Zeit - nachdem ohnehin der Zeitpunkt, den man damals dafür ins Auge gefasst hatte, längst vorüber ist?

Wir müssen uns klar machen, dass Paulus in Bildern redet. Das versteht sich bei diesem Thema eigentlich von selbst. Auch die Bestimmung eines Zeitpunktes für Christi Wiederkehr gehört auf die Bildseite. Worauf es ankommt, ist das, was der Tag bringen soll, von dessen Nähe hier bei vorgerückter Nacht gesprochen wird. Der Tag ist schon dabei anzubrechen, das heißt: Jesus ist dem Glaubenden schon jetzt gegenwärtig. Er begegnet uns zunächst in der Erinnerung an sein Wirken während seiner Lebenszeit in Palästina, in seinen uns heute unmittelbar anrührenden Gleichnissen, in seiner uns inspirierenden Lebensführung. Dabei ist er uns nicht bloß ein großes Vorbild. Im Glauben vernehmen wir in seinen Worten und in seinen Taten die Stimme Gottes. Die übergreift die Zeiten. Wenn Jesus damals öffentlich die Liebe Gottes verkündet hat, die Menschen ihre Gottlosigkeit vergeben will, so gilt das auch uns. Dafür hat Jesus sein Leben eingesetzt. Gott hat ihn nicht im Tod bleiben lassen, das heißt: er hat ihn nicht nur für unsere Erinnerung, sondern für unseren Glauben und damit für unser ganzes Leben zur Brücke zu sich selbst gemacht. Durch Jesu Gegenwart für den Glauben soll Gottes Liebe uns heute zukommen. Das betrifft unser Leben jetzt und auch unsere Zukunft.

III.

Was verändert sich durch solchen Glauben? Sicher nicht automatisch die äußeren Verhältnisse, in denen wir leben. Die politischen und wirtschaftlichen Probleme und die privaten Sorgen bleiben uns erhalten. Aber unsere Einstellung zu ihnen verändert sich. Weder der griesgrämige Spruch der Alten "Wir mussten damals richtig ran" noch das blauäugige Versprechen der Jungen "Wir schaffen eine bessere Welt" zählen. Paulus nennt das die "Werke des Gesetzes". Als Christen sollen wir nicht so "gesetzlich" leben, d. h. das, was wir für andere tun, nicht als eine Art Pflichtübung absolvieren. Zwar werden die gesellschaftlichen Leistungsanforderungen nicht geringer. Und es gibt auch nach wie vor feste Maßstäbe des Lebens; Paulus zitiert ganz traditionell die 10 Gebote. Aber all das erscheint in einem neuen Licht, im Licht der Liebe Gottes, die uns innerlich frei macht von dem Zwang, uns ständig beweisen zu müssen.

Gottes Liebe lässt es hell werden für uns. In ihrem Licht können wir uns sicher fühlen, so wie wir uns ja auch in menschlicher Liebe sicher fühlen. Aber im Unterschied zu menschlicher Liebe ist Gottes Liebe absolut verlässlich. Das lässt uns unsere Zeit gelassen beurteilen, ohne die generationsbedingten Vorurteile. Daraus ergibt sich ein differenziertes Bild von Chancen und Gefahren. So hat Paulus in diesem 13. Kapitel des Römerbriefs auf der einen Seite die Missstände und die Zügellosigkeit der Gesellschaft seiner Zeit schonungslos geißeln können, auf der anderen Seite aber hat er die Leistung der römischen Regierung, für öffentliche Ordnung und friedliches Zusammenleben ihrer Bürger zu sorgen, voll anerkannt und die christliche Gemeinde aufgerufen, sie in dieser Hinsicht durch Befolgen der Staatsgesetze zu unterstützen.

Der Ton liegt allerdings in den Sätzen, mit denen wir uns heute morgen beschäftigen, auf den Konsequenzen für die christliche Lebensführung. Die "Waffen des Lichts anlegen", oder auch einfach "den Herrn Jesus Christus anziehen", das bedeutet, das praktische Leben ganz von Gottes Liebe bestimmen zu lassen. Das Licht der göttlichen Liebe ist uns sozusagen mit der Taufe bereitgestellt worden. Wenn es denn überhaupt noch brennt, so muss es für alle sichtbar leuchten.

Paulus fasst das genauso wie Jesus in der Aufforderung zusammen: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst". Das klingt sehr einfach. Ich soll anderen Menschen zuteil werden lassen, was ich mir für mich auch wünsche. Nicht zu viel, nicht zu wenig, ein gesundes Mittelmaß. Das überfordert niemanden, ermöglicht ein spannungsfreies Zusammenleben. Aber stimmt das so? Vom gesunden Mittelmaß kann ich nicht leben. Jeder Mensch braucht mindestens von einigen anderen volle Offenheit und ganze Hingabe.

Sich selbst zu lieben heißt nichts anderes, als solche Liebe von anderen zu erwarten. So soll dann also auch unsere Liebe zu unseren Nächsten aussehen. Zu diesen Nächsten gehören auch die uns weniger angenehmen Zeitgenossen, ja sogar unsere Feinde, wie Jesus in seiner Radikalität gefordert hat. Geht denn das? Wenn wir es genau nehmen, fällt es uns schon den uns am nächsten stehenden Menschen gegenüber oft schwer, uns so intensiv auf ihre andere Art zu sein einzustellen, sie so rückhaltlos zu lieben. Welcher Mann würde schon von sich behaupten wollen, er sei seiner Frau immer völlig gerecht geworden, und welche Frau würde das von ihrem Verhältnis zu ihrem Mann sagen? Den anderen Menschen so zu lieben wie man sich selbst immer schon liebt, das ist in Wahrheit eine unendliche Aufgabe. Und wenn es dann auch noch um Menschen geht, die einem das schwer machen ...

Wenn wir die Liebe aus unserem eigenen guten Willen und aus unserer eigenen Kraft schöpfen sollten, wäre es geradezu unmöglich, unseren Nächsten wirklich so zu lieben, wie wir uns selbst lieben. Aber die "Waffen des Lichts", die wir anlegen sollen, sind nicht selbstgeschmiedet. Es ist die Liebe Gottes, die uns annimmt und die uns so überhaupt erst erlaubt, dass wir auch uns selbst annehmen, uns selbst lieben. Wenn wir uns von Gottes Liebe tragen lassen, dann ist das zwar sicher keine Garantie dafür, dass uns fortan das Leben mit unserer Familie, mit Freunden und Kollegen oder gar mit Neidern und Gegnern perfekt gelingen werde. Doch schafft sie immer wieder durchgreifende Klimaveränderungen zwischen Menschen, so dass auch unsere "Nächsten" merken können, dass "der Tag nahe ist".

IV.

Um diese Liebe Gottes, die mit Jesus in dieWelt gekommen ist und sich seither bis zu uns ausgebreitet hat und durch uns weiterwirken soll, um die geht es in der Adventszeit, der Zeit der Vorbereitung auf das Fest der Geburt Jesu. Diese Liebe trägt ein Leben lang und noch über den Tod hinaus; der nahe Tag ist letztlich die uns unvorstellbare Vollendung der Gemeinschaft mit Gott. Aber mit dem Kommen Jesu ist der Tag bereits angebrochen. Das ist das Licht, auf das wir symbolisch mit den Adventskerzen hinweisen. Wenn wir ihm folgen, dann wird der trübe Nebel der gegenwärtigen Novemberstimmung durchlässig für das Kommen Christi und seine lebensverändernde Macht. "Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe".

Amen.

Prof. Dr. Dietz Lange,
Insterburger Weg 1 Göttingen Tel. 0551-75455


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