Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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2. Advent
5. Dezember 1999
Jesaja 63, 15 - 64,3

Paul Kluge

Anmerkung zur Predigt / Gebete / Liedvorschläge

Vielleicht, liebe Geschwister, kennen Sie Menschen, die mit der Zeit einsam, verbittert und ungerecht. Sie sehen ihre Fehler nicht ein, können sie deshalb auch nicht zugeben.

An solche Menschen erinnert mich der für heute vorgeschlagene Predigttext. Hier geht es jedoch nicht um einzelne Personen, sondern um ein ganzes Volk. Und das kam so:

Die nach Babylon entführten Israeliten waren nach langem Exil wieder zurückgekehrt. Was sie vorfanden, war nicht mehr die Heimat, die sie verlassen hatten: Andere Menschen hatten sich Land und Häuser angeeignet, die alten Ordnungen galten nicht mehr, vieles war zerstört - sogar der Tempel. Damit war die gewohnte Verbindung zu Gott abgebrochen. Die Menschen litten. Die Alten litten darunter, daß nichts mehr so war wie früher. Die Jungen litten darunter, daß sie nicht wußten, wo sie anfangen sollten; nicht wußten, was sie anfangen konnten.

So, wie ein Prophet das Volk im Exil getröstet hatte, wollte, mußte nun ein anderer den Menschen Mut machen, ihnen Zuversicht geben, Hoffnung. Darum hielt er sich oft an Orten auf, an denen Menschen sich versammelten: Er ging durch die Basare und über die Märkte, hielt sich an den Stadttoren auf und in den Karawansereien vor der Stadt; schlenderte durch die vornehmen Viertel innerhalb der Stadt, durch die Armenquartiere vor den Mauern. Wo Menschen zusammenstanden, stellte er sich dazu, hörte, worüber sie sprachen. Selten mischte er sich in die Gespräche ein, er sammelte Eindrücke. So konnte er sich am besten auf seine Predigten vorbereiten. Denn so erfuhr er, was die Menschen dachten, was sie bedrückte und worauf sie hofften.

Doch was er hörte, machte ihn nicht froh: Da gab es die einen, die fragten: "Wie kann Gott das zulassen! Sind wir nicht sein Volk, von ihm auserwählt; hat er nicht einen ewigen Bund mit uns geschlossen?

Dann gab es die anderen, die sagten: Wir glauben nicht mehr an Gott. Gäbe es ihn, wäre das alles nicht passiert. Nein, es kann keinen Gott geben!

Wo immer die Menschen über ihre Lage redeten: Nichts als Vorwürfe gegen Gott. Das deprimierte den Propheten, denn er hatte dem nichts entgegenzusetzen. Es waren ja auch seine Fragen, seine Zweifel, die er da von den Leuten auf der Straße hörte: Seine Eltern waren im Exil gestorben, in fremder Erde begraben. Sein Elternhaus war zerstört, und er hatte Mühe gehabt, überhaupt die Straße zu finden, in der es gestanden hatte. Alles sah so anders aus, als seine Eltern es ihm beschrieben hatten. Wo sein Vater seinen Gewürzladen gehabt hatte, betrieb jetzt jemand anderer einen Lederhandel. Seine Eltern waren wohlhabende, angesehene Leute gewesen; er lebte nun von dem, was andere für ihn übrig hatten. Daran mußte er bei seinen Predigten immer wieder denken, und das machte es ihm manchmal schwer, das Nötige zu sagen. Nur gut, daß seine Frau ihn verstand, seinen Auftrag und auch seine Zweifel.

"Die Leute sind voller Zorn gegen Gott," faßte er eines Abends seine Tageseindrücke zusammen. "Wie soll ich sie da mit meinem Predigen erreichen! Für alle Not und jedes Elend machen sie ihn verantwortlich, geben ihm die Schuld für ihr Versagen. Seit wir keinen König mehr haben, der für alles herhalten kann, ist es Gott. Jedenfalls, solange sie ihn nicht völlig leugnen. Dann sind die Umstände schuld oder frühere Generationen."

Seine Frau hatte aufmerksam zugehört. Sie hatte das Exil nicht erlebt, ihre Eltern waren zu arm, zu bedeutungslos gewesen, um weggeführt zu werden. Waren dann in ein leerstehendes Haus in der Stadt gezogen, wo sie zunächst ihr selbst gezogenes Gemüse verkauften und sich zu mittelständischen Gemüsehändlern emporarbeiteten. Als die Gefangenen zurückkehrten, hatten sie um ihr neues Zuhause gebangt. Doch es war keiner mit einem Rückführungsanspruch gekommen.

"Ich denke gerade an meine Mutter," sagte seine Frau. "Wie oft habe ich sie sagen hören: ‘Was können wir dafür, daß dies Haus leer stand! Hier ziehen wir nicht mehr aus!’ - Und wenn Vater dann darauf hinwies, daß das Haus doch eigentlich jemand anderem gehörte und wir sozusagen Gäste wären, dann brach jedesmal Streit aus. Oft rief Mutter dann unter Tränen: ‘Ich laß mir mein Haus nicht nehmen! Niemals!’ Mutter war einfach nicht in der Lage, die Ungerechtigkeit zu erkennen, die in ihrem ganz legalen Tun lag."

"Und du meinst," führte der Prophet ihren Gedanken aus, "die Zurückgekehrten sehen nicht ihren Anteil an der gegenwärtigen Lage oder den Anteil ihrer Ahnen; erkennen nicht, daß ihre jetzige Lage ein Ergebnis verfehlter Politik in der Vergangenheit ist; bedenken nicht, daß Gott die Sünden der Väter heimsucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied? Du könntest Recht haben. Doch würden sie ihren Anteil sehen, wäre Buße, wäre Umkehr fällig. Buße für Vergangenes, und Umkehr, damit so etwas nicht noch einmal passiert. Aber wer lernt schon aus der Geschichte, und wer ist schon bereit, von den Vätern begangenes Unrecht wieder gutzumachen! Da jammern und klagen sie lieber darüber, wie schlecht es ihnen geht, und geben Gott die Schuld. Machen ihn sogar dafür verantwortlich, daß sie nicht mehr an ihn glauben. Was soll ich kleines Licht da nur machen!"

"Auf jeden Fall mußt du dein kleines Licht leuchten lassen," ermunterte ihn seine Frau, "weiterhin und weithin. Weißt du, es ist immer gut, wenn mal jemand öffentlich laut sagt, was die Leute denken. Das bewirkt manch heilsamen Schrecken und ist besser, als den Leuten ihre Gedanken zu verbieten. Ich würde das als Gebet formulieren und damit zeigen, daß Gott ein offenes Ohr für die Not der Menschen hat, für seelische Not ebenso wie für materielle. Sogar für die Zweifel, die manche an ihm haben, und erst recht für alle Schuld, die sie tragen. Das ist doch das Große an unserem Gott, daß ihm nichts Menschliches fremd ist und wir alles vor ihn bringen dürfen!" "Ja, das ist das Große," pflichtete der Prophet bei. "Wir dürfen ihn um Gnade, um Vergebung bitten, um sein Erbarmen und um seine Liebe. Dann können wir aufatmen, dann werden wir wieder frei für das Leben. Was wir vor ihm ausgesprochen haben, bedrückt und belastet uns dann nicht mehr, denn barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte."

"Doch so lange die Menschen mit uneingestandener Schuld herumlaufen," wand seine Frau ein, rechnen sie mit Strafe. Bleibt diese dann aus, bestrafen sie sich manchmal sogar selber. Wir können ja fast nicht anders denken als ‘Strafe muß sein!’ Wenn aber Menschen ihre Schuld vor sich selber eingestehen, vor einander und vor Gott, werden sie frei für einen neuen Anfang. - Aber der Weg ist schwer für jeden, der sich seiner Schuld, seinem Versagen stellt, um davon befreit zu werden. Dabei können manche noch eher Strafe annehmen als Vergebung."

„Aber Vergebung ist der Weg Gottes," schloß der Prophet das Gespräch, holte dann sein Schreibzeug, schrieb eine Weile, strich durch, formulierte neu, bis er zufrieden war. Dann las er seiner Frau vor: (Jes 63, 15 - 64, 3, evtl. um 4 ergänzen).

"So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.

Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, Herr, bist unser Vater; "Unser Erlöser", das ist von alters her dein Name.

Warum läßt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, daß wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind. Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.

Ach daß du den Himmel zerrissest und führest herab, daß die Berge vor dir zerflössen wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, daß dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müßten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten - und führest herab, daß die Berge vor dir zerflössen - und das man von alters her nicht vernommen hat. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren."

Amen

Gebet:

Herr, unser Gott, wir wissen es: Oft gehen wir in die Irre, gehen Wege, die deine nicht sind; unsere Herzen sind hart gegen andere Menschen, in denen du uns begegnen willst; nicht dich fürchten und ehren wir, sondern die Herren der Welt und ihre falschen Götter. Dies und noch manches mehr wissen wir, doch wir können und wollen es nicht zugeben - weder vor uns selbst noch vor einander noch vor dir. Und anstatt in uns zu gehen, unser Versagen anzuerkennen und Buße zu tun, machen wir dich für unser Tun und Lassen verantwortlich, werfen dir vor, daß wir uns von dir entfernt haben und erwarten von dir, daß du zu uns umkehrst.

Und du gehst uns nach mit deinem Wort, du wirbst um uns, daß wir bei dir bleiben, kommst uns in deinem Sohn ganz nahe. Das übersteigt unser Verstehen, und wir können es nicht begreifen - und darum auch so schwer annehmen. Denn wer sich schuldig fühlt, erwartet Strafe; deshalb kann er Gnade und Vergebung, kann er nachfolgende Liebe nicht annehmen.

Guter Gott, wir bitten dich: Befreie uns aus unserem Denken von Schuld und Strafe; laß uns erkennen, daß unsere Schuld deine Liebe nur größer macht; öffne uns Herz und Verstand, deine Liebe anzunehmen.

(Gebet aus: Ideenbörse Sonntagspredigt, Heft 14/99, mvg-verlag Landsberg)

Liedvorschläge

Wie lieblich schön, Herr Zebaoth, EG 282, 1, 3, 6; Ach Gott, vom Himmel sieh darein, EG 273, 1, 4 - 6; Wachet auf, ruft uns die Stimme, EG 147, 3; O Heiland, reiß die Himmel auf, EG 7, 1, 4 - 7.

Anmerkung zur Predigt:

Die Predigt versucht, in narrativer Form das Verstehen des Predigttextes vorzubereiten, zum Text hinzuführen. Deshalb steht der Text auch am Ende der Predigt. Diese Reihenfolge hat der Autor in verschiedene Gemeinden erprobt und dafür positive Rückmeldungen erhalten

Paul Kluge Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk in der Kirchenprovinz Sachsen e. V. Postfach 84 39028 Magdeburg Privat: Wasserstraße 3 39114 Magdeburg E-Mail: Paul.Kluge@T-Online.de


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