Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Zweiter Weihnachtsfeiertag
26. Dezember 1999
Offenbarung 7, 9 – 17

Hartmut Jetter
Hinweise zur Gliederung der Predigt

Predigttext: Offenbarung 7, 9 – 17

Danach sah ich, Johannes, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen, 10und riefen mit großer Stimme: Das Heil ist bei dem, der auf dem Thron sitzt, unserm Gott, und dem Lamm!

11Und alle Engel standen rings um den Thron und um die (24) Ältesten und um die vier Gestalten und fielen nieder vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an 12und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

13Und einer der Ältesten fing an und sprach zu mir: Wer sind diese, die mit den weißen Kleidern angetan sind, und woher sind sie gekommen? 14Und ich sprach zu ihm: Mein Herr, du weißt es. Und er sprach zu mir: Diese sind’s, die gekommen sind aus der großen Trübsal und haben ihre Kleider gewaschen und haben ihre Kleider hell gemacht im Blut des Lammes. 15Darum sind sie vor dem Thron Gottes und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel; und der auf dem Thron sitzt, wird über ihnen wohnen. 16Sie werden nicht mehr hungern noch dürsten; es wird auch nicht auf ihnen lasten die Sonne oder irgendeine Hitze; 17denn das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und leiten zu den Quellen des lebendigen Wassers, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.

Predigt:

Da wird sich wohl manch einer die Augen reiben, wenn er diesen Text liest/oder hört, ausgerechnet aus dem Buch der Bibel, aus dem ohnehin kaum jemand klug wird. Dieser Text auch noch zum Tag nach dem Christtag, der für uns mit gutem Recht noch zu Weihnachten gehört? Es gibt ja gewiß nicht wenige Leute, die sich erst heute die Zeit nehmen, in eine Kirche zu gehen. Sie aber wollen eine Weihnachtspredigt hören! Mit diesem Text? Wie soll das ein Prediger hinbekommen?

I.

"Das ist wie Weihnachten!"

Vielleicht gelingt es zunächst mit einer Erinnerung: Es war im vergangenen Herbst, beim Europäischen Theologentag in Wien. Im Vordergrund des Interesses standen natürlich Vorlesungen und Diskussionen in den Fachgruppen, gescheit und bewandert, aber nicht selten auch an das Buch der Offenbarung mit seinen sieben Siegeln erinnernd.

Doch schon am ersten Tag machte ein "Geheimtip" die Runde: Gehen Sie unbedingt ins Konzert mit dem Wiener Singverein! Was gibt es Besonderes? Haben Sie schon einmal den Namen von Franz Schmidt gehört? Nicht daß ich wüßte! Hören Sie sich sein Oratorium an "Das Buch mit sieben Siegeln"! Ist das etwas Modernes? Wenn Sie so wollen: Ja! Und denken Sie nur: Uraufgeführt im Jahre 1938 (ausgerechnet!). – Also auf! Mit fliegender Eile zum Konzerthaus! Die letzten Karten gerade noch erwischt. Und nix wie rein! In großer Erwartung, was nun kommen soll. Da nimmt uns auch schon der Tenor mit seinem Introitus gefangen: "Gnade sei mit euch und Friede ...", gerade so wie es in den Anfangsversen der Offenbarung steht. – Fast zwei Stunden lauschen wir, hingerissen, fast atemlos. Ein Riesenchor und ein gewaltiges Orchester, "mit großer Stimme" (heißt es in unserem Text Vers 10). Ein Crescendo nach dem andern! Ein Hymnus um den andern, alle diesem Buch entnommen.

Was für ein Abend! Waren wir nicht geradezu im Himmel? Fassungslos sehen wir uns hinterher an: War das nicht wie Weihnachten? Und ich – ich dachte an meine Predigt fürs Internet zum 26. Dezember mit Offbg. 7. Ja: Musik so wie diese, mit ihren großen Chorwerken und ihrer das Herz anrührende Polyphonie, sie kann die Schatten und Nebel über unserem Alltag aufreißen und kann uns ein Stück weit in höhere Sphären entrücken. Brauchen wir das nicht auch heute, in unserer Zeit, wenigstens zwischendurch einmal? Einmal im Jahr, mit Weihnachten z. B.? Und was wären wir ohne solche Texte und ohne ihren Transzendenzbezug? Diese Hymnen sind ja die Vorlagen für alles, mit was uns im Lauf der Jahrhunderte evangelische und katholische Kirchenmusik beschenkt haben.

Zwei von diesen Ursprungshymnen lesen wir heute zu Weihnachten. Von ihnen geht der Weg unmittelbar weiter über das "Tedeum" des Ambrosius ("Großer Gott, wir loben Dich") und über das "Gloria sei dir gesungen" des Philipp Nicolai bis zum "Freue dich, o Christenheit", ohne das es bei uns nicht Weihnachten ist. Hier in Offbg. 7 sehen wir den Himmel offen und können den himmlischen Heeren in ihre Partituren schauen. Wir können sie hören, wie sie "mit Herzen, Mund und Händen" singen und spielen und konzertieren. Wie sollte meine Predigt diesem großartigen Text gewachsen sein? Liturgisch feiern müßte man ihn!

II.

Das Gotteslob der Christnacht

Vielleicht gelingt es noch am ehesten mit – ja, gerade mit einer Weihnachtspredigt. Denn zu welcher Zeit klingt das "Ehre sei Gott in der Höhe" machtvoller, überzeugender, als in der Heiligen Nacht? In der Nacht, in der sich sogar auch bei denen der Mund öffnet, die sonst nur still zuhören. Beim "Christ der Retter ist da" und beim "Himmlische Chöre jauchzen dir Ehre", da singen sie alle mit, vielleicht mit einer heimlichen Träne aus innerer Bewegung.

So spannt sich also doch von Offbg. 7 ein Bogen – hinüber zur Weihnachtsgeschichte, wie sie Lukas in seinem 2. Kapitel erzählt: Die Geschichte, die anhebt mit dem Kaiser Oktavian, genannt "Augustus", d. h. der Hocherhabene, und die endet bei Bethlehems Hirtenvolk und dem über ihnen geöffneten Himmel, aus dem gerade für sie die Botschaft kommt: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen" – diese einzigartige Botschaft, dieses einzig wahre Evangelium von Gottes rettender Liebe für alle Menschen bis heute. Und so laßt uns dieses "Gloria in excelsis deo" zwischendurch miteinander singen (mit dem Kanon aus Taizé, wie er in mehreren Regionalausgaben des Evangelischen Gesangbuchs steht oder mit dem deutsch gefaßten Kanon "Ehre sei Gott in der Höhe Nr. 26).

III.

Tröstung für die Verfolgten

Unsere Ohren sind noch ganz "auf Empfang" nach "oben" eingestellt und unsere inneren Augen sehen noch gebannt das Bild von der großen Huldigungszeremonie im Himmel. Aber mit unseren Füßen, da stehen wir – mit beiden! – noch ganz auf Gottes Erdboden. Und auf dem Erdboden – da steht auch unser altehrenwürdiger Text aus der Apokalypse des Johannes. Das macht ihn für uns so glaubwürdig! Offbg. 7 überspielt nichts und blendet nichts aus. Er bleibt lebensnah.

Die "Schaltstelle", wo direkt "von oben nach unten" "durchgestellt" wird, ist dort, wo es heißt: "Einer von den (24) Ältesten ..." (in der Rheinischen Kirche z. B. hat sich der schöne griechische Titel vom "Presbyter" noch erhalten!), aus dem "himmlischen Gemeindekirchenrat" nimmt Verbindung auf nach unten zu dem alten Jünger Johannes. Er stellt die Frage in den Raum: Wer sind sie denn, diese Scharen von Menschen ...? Und wo kommen die den her? Gesucht ist aber nicht eine geographische oder ethnische Antwort; die ist schon gegeben: Menschen "aus allen Nationen (!) und (Volks)Stämmen und Völkern und Sprachen" – gerade so wie heute bei einer Weltkirchenkonferenz oder bei Olympischen Spielen. Nein! Die Frage des himmlischen Presbyters geht in eine andere Richtung: Was haben diese vielen für eine Geschichte hinter sich? Was haben sie wohl durchgestanden, durchgelitten?

"Sie sind gekommen aus der großen Trübsal" – so lautet der Bescheid. Und Johannes samt allen, für die dieses Buch von der "geheimen Offenbarung" bestimmt ist, wissen Bescheid. Die "große Trübsal" – das ist die Erfahrung der Bekenner, das ist der Leidensweg der Blutzeugen, der Verfolgten und der Märtyrer. Das ist die Schar derer, die – mit Psalmen und christlichen Hymnen auf den Lippen – in römischen Kerkern geschmachtet und gelitten haben, die von Soldaten des römischen Kaisers (z. B. des Domitian) gefoltert und in der Arena den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen wurden. Weil sie Widerstand geleistet haben, weil sie sich nicht dem Kaiserkult gebeugt, sondern an ihrem Taufbekenntnis festgehalten haben, "bis zum Tode getreu" (Offbg. 2, 10). Der Himmel hat nicht und niemand vergessen!

Der 26. Dezember und seine kirchliche Doppelbedeutung

Der allererste, dem es so gegangen ist, das war der Diakon Stephanus. Ihm und seinem Gedächtnis hat schon die frühe Christenheit den Tag des 26. Dezember gewidmet, wahrscheinlich bereits vor der Zeit, daß dieser Tag als zweiter Weihnachtstag gefeiert wird, um damit die Bedeutung dieses Hochfestes der Christenheit noch zusätzlich zu unterstreichen. Stephanus – im Steinhagel seiner Feinde sah auch er "den Himmel offen und Jesus zur Rechten Gottes stehen" (Apostelgeschichte Kap. 7 Vers 55).

Seit den Zeiten "der großen Trübsal" ist die Offenbarung, besonders mit den Kapiteln 5 bis 7 das große Trostbuch der – wie es in der liturgischen Sprache der Kirche heißt – ecclesia militans, d. h., der Kirche, die hier unten auf der Erde noch manchen Kampf zu bestehen hat, der nichts erspart geblieben ist und bleiben wird an Verfolgung und Leiden, mit Hunger, Durst und sengender Hitze, ausgesetzt der Willkür von Despoten und Diktatoren, die es nicht hinnehmen können, daß sie nicht ihnen "Heil ...!" zurufen, sondern dem Einen, dem "König aller Könige und Herrn und aller Herren" (Kap. 19, 16).

Über 200 Jahre nach der Aufklärung, nach dem euphorischen Aufbruch der Allgemeinen Menschenrechte, müssen unsere Historiker feststellen, daß es in keinem Jahrhundert so viele verfolgte Christen gegeben hat wie in dem, das jetzt zu Ende geht. Wie viele namenlose Christen, die nicht nur Glaubenslieder gesungen haben, sondern auch für ihren Glauben den Kopf hingehalten haben; die lieber aus der Heimat ausgewandert sind als ihrem Glauben untreu zu werden; die sich als rückständig haben verspotten, sich gesellschaftlich haben diskriminieren lassen, und dies in Ländern, die die Freiheit des Gewissens und der Religion in ihrer Verfassung stehen hatten. Da stehen sie "vor dem Thron Gottes" – eine Riesenschar! Ganz in seiner Nähe, umhüllt von den Tröstungen des Glaubens und aufgehoben in der Fürsorge des "Lammes". Wieso "Lamm"? Wiederum weiß jeder aus der Gemeinde des Johannes, wer das ist: Niemand anderes als der, der den Weg des Opfers gegangen ist, ans Kreuz, und der den Weg zum Vater und zu den ewigen Wohnungen aufgetan hat. Das Lamm –ein Hoffnungszeichen im Kleinen, mitten im großen Bild der triumphalen Feier von Offbg. 7

IV.

Mit Zuversicht ins neue Jahr!

Heute ist der letzte Sonntag des scheidenden Jahres. Morgen gehen wir wieder – noch einmal – in den Alltag, in die letzten Arbeitstage dieses Jahrhunderts. Es soll Menschen geben, und gar nicht so wenige, die dem Jahrtausendwechsel mit Bangen entgegensehen und die geradezu apokalyptische Ängste an den Tag legen. Selbst coole high-tec-Fachleute sind froh, wenn ihre Computer nicht "abstürzen". Weltuntergangsstimmung? Nichts für uns! Offbg. 7 verbreitet alles andere als das große Bangen. Seine Grund-Farbe ist helles Weiß, die Farbe des Lichts, der Christusfeste und des Gewands der Täuflinge. Sein Grund-Ton ist C-Dur (nicht Moll). Und der letzte Hymnus heißt "Amen ... Amen", d. h. nach Luther: Ja, ja; so soll es geschehen. Brauchen wir mehr? Deshalb mit ganzer Zuversicht: In Gottes Namen! Amen.

P. S.: Letzte Meldung aus Kaliningrad/Königsberg vom 6. Dezember, übermittelt von Propst Beyer-Dresden: Nachdem Olga Kasatschenko, die Vorsitzende des Gemeinderats (der Evang.-lutherischen Gemeinde) von einem Jungen entbunden worden war, bringt ihr die Krankenschwester ein Bündel und fragt sie: Kannst du es gebrauchen? Olga denkt, es ist ihr Kind. Aber es ist das dritte Kind einer anderen Frau, der der Mann kurz vor der Entbindung weggelaufen ist. "Kannst Du es gebrauchen?" Und so kommt Olga mit "Zwillingen" nach Hause.

Auch eine Weihnachtsgeschichte? Eine aus unseren Tagen! (Vgl. Matth. 1, 19)

Hinweise zur Gliederung der Predigt:

Im Vordergrund der Vorbereitung standen zwei Fragen, die auch in der Predigt-Einleitung angesprochen werden:

  1. Wie soll ein solcher Text – die apokalyptische Schau eines himmlischen Gottesdienstes – in eine Predigt umgesetzt werden?
  2. Wie soll ein Bezug zu Weihnachten hergestellt werden und nicht nur zum 26. Dezember als Stephanustag?

Die Predigt versucht, den Text in 4 Richtungen zu aktualisieren:

  1. Für den Alltag – mit dem Beispiel selbst erlebter Musik über das Buch der Offenbarung.
  2. Für Weihnachten - mit dem "Gloria" der Engel als Höhepunkt von Offbg. 7 und Lukas 2.
  3. Als den "Trost-Text" der Bibel par excellence für die leidende und verfolgte Kirche aller Zeiten.
  4. Als Glaubensstärkung für den bevorstehenden Jahr(tausend)wechsel: Offbg. 7 als "Kontrast-Programm" gegen Weltuntergangsstimmung und Lebensängste.

Prof. Dr. Hartmut Jetter,
Oberkirchenrat i. R.
70619 Stuttgart, Bernsteinstraße 143


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