Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Zweitletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 19. November 2000
Predigt über Offenbarung 2,8-11, verfaßt von Karin Klement

VORBEMERKUNGEN

"Dem Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe:
Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden:
Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut – du bist aber reich –
und die Lästerung von denen, die sagen, sie seien Juden, und sind`s nicht, sondern sind die Synagoge des Satans.
Fürchte dich nicht vor dem, was du leiden wirst! Siehe, der Teufel wird einige von euch ins Gefängnis werfen, damit ihr versucht werdet, und ihr werdet in Bedrängnis sein zehn Tage.
Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.
Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
Wer überwindet, dem soll kein Leid geschehen von dem zweiten Tode."

PREDIGT

(Kanzelgruß, danach eine bewusst langsame und deutliche Textlesung – wie eine Proklamation dessen, der da redet)

Liebe Gemeinde!

Müssen es denn immer so schwere und gewichtige Worte sein, die uns aus biblischen Texten entgegenklingen? Worte über Tod und Leben, Anfang und Ende, Erstes und Letztes; Worte, die das Leben nicht leicht–sinnig nehmen, sondern tiefgründig. Worte, die nicht sanft dahinplätschern, vielmehr den Raum, das Ohr und Innere mit Schwermut füllen. Wo bleibt in all dieser Realitätsnähe das Tröstende?

Ein Gespräch. Seit fast drei Monaten liegt seine Frau im Krankenhaus mit unerklärlichen Symptomen, eine Riesenmenge Wasser im Bauch. Zahlreiche schmerzhafte Untersuchungen hat sie erduldet, zweifelnde Fragen und missachtende, kränkende Verdächtigungen erfahren, Todesängste ausgestanden. Die Ursache ihrer Erkrankung blieb verborgen. Bis ein Arzt zur Endoskopie griff und das auf Röntgenbildern unerkannte Geheimnis lüftete: Dicht verschlossene Gefässe, die wohl bald zu ihrem Tod hätten führen können. Noch ist die Bedrohung nicht ganz abgewehrt, aber sie trägt nun einen Namen, ist erkannt und damit bekämpfbar. Erleichterung klingt aus der Stimme des Mannes, aber auch eine stille Sorge. Die Nähe des Todes hat sie beide verändert. Nichts ist mehr, wie zuvor, nichts mehr so selbstverständlich. Sie nehmen die ihnen für einander geschenkte Zeit intensiver und mit großer Dankbarkeit entgegen. Und wissen zugleich, dass jeder Augenblick nur ein Geschenk auf Zeit ist. Sie haben die Nähe des Todes gespürt, wie einen eisigen Windhauch auf ungeschützter Haut. Sie haben die Trennung vor sich gesehen – und wurden zugleich davor bewahrt. „Was war schlimmer,“ stellt der Enkelsohn die entscheidende Frage: „die anderthalb Jahre Kriegserfahrung, die du Tag und Nacht im Dreck liegend und unter Lebensgefahr verbrachtest? Oder diese Zeit der Krankheit und Ungewissheit?“ Für den Großvater ist die Antwort eindeutig: Damals ging es nur um sein eigenes Leben, hier aber ging es um das Leben eines über alles geliebten Menschen. Damals war er noch jung, der Tod eine zwar sichtbare, doch für sich selber nicht wirklich vorstellbare Möglichkeit. Heute ist sie nähergerückt für ihn selbst wie auch für den Menschen, den er liebt; das Sterben ist erschreckend realistisch und unvermeidlich geworden.

Ist es nicht beinahe immer so, dass – trotz unserer Vorkenntnisse – der Tod wie ein völlig überraschender Gast die Tür aufreißt und Menschen einander ent-reißt?? Das schreckliche Unglück in der Zugseilbahn von Kaprun hat uns erneut solche dunklen Erfahrungen von sinnloser Zerstörung, vom Tod unschuldiger Menschen und tiefster Gottverlassenheit offenbart. Wir leben im Wissen, dass jeder von uns einmal sterben muss. Und dennoch leben wir, als würden wir nie sterben, als hätten wir endlos ewige Zeit.

Die Botschaft an den Schutzengel der Christengemeinde in Smyrna richtet sich an Menschen, die andersherum unter einer gewaltigen Übermacht des Bösen leiden. Sie erfahren tödliche Bedrängnis. Sie werden verspottet und verhöhnt; mit ihrem Glauben an den auferstandenen Gottessohn werden sie der Lächerlichkeit preisgegeben. Gefängnis, Kerker, Ohnmacht und Hilflosigkeit bedroht sie und ein Leiden bis an die letzte Grenze, bis zum letzten Atemzug. Die so mit ihnen ihren Spott treiben, behaupten nur sie seien gottgläubige Menschen und sind in Wirklichkeit Handlanger des Bösen, teilt der Seher Johannes der Gemeinde mit.

Wir Heutigen leben in einer zumeist sehr sicheren, bergenden Gemeinschaft, die sowohl das Recht des Einzelnen wie der verschiedenen Gruppen schützt. Von gewaltsamen Verfolgungssituationen, flächendeckend das Leben bedrohenden und zerstörenden Erfahrungen bleiben wir zumeist verschont. Doch unsere Heimatgeschichte der vergangenen Generationen spiegelt millionenfachen mörderischen „Flächenbrand“, unfassbar Böses wider. Die Scho`ah – das tödliche Verderben – traf unsere jüdischen Mitbürger nicht allein in ihrer äußeren Sicherheit, in ihrem Recht auf Leben und Unversehrtheit. Es traf sie auch in ihrem Glauben: Wie viele von ihnen hat die brutale Vernichtung menschlichen Lebens, der millionenfache Mord durch Menschenhand, in ihrer Gottesgewissheit zutiefst erschüttert?! Unsere jüdischen Mitmenschen sahen sich als Glaubensgemeinschaft dem sicheren Tod ausgesetzt. Sie erlebten eine teuflische Übermacht der Vernichtung, die alle Hoffnungen untergräbt, die dem Vertrauen auf einen gerechten und barmherzigen Gott so gut wie keine Berechtigung und keine Chance gibt.

Auch wenn der Holocaust unserer Zeit in seinem Grauen einmalig und unvergleichbar ist, kann es doch sein, dass die kleinen Christengemeinden, denen Johannes schreibt, etwas ähnlich Bedrohliches erleben und empfinden. So übermächtig erscheint die äußere Gewalt, dass sie nur im mythischen Bild des personhaften Bösen, des Teufels beschreibbar wird. Die trostlose Beschreibung einer realen verzweifelten Situation, die nicht einmal in Zukunft anders sein wird! Und mittendrin jene unglaublichen Worte: „Fürchte dich nicht! Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben! Wer überwindet, dem soll kein Leid geschehen ....“

Halte durch, halte dich an deinem Glauben fest, – auch im Angesicht des eigenen Todes! Da wird kein Engel leibhaftig erscheinen, keine Rettung in letzter Sekunde. „Bis an – und in – den Tod“ wirst du nie sicher wissen, ob da ein Gott ist, der dir hilft. Und doch gibt es schlimmeres als den „ersten“, den leiblichen Tod; der „zweite Tod“ ist wohl ein Sterben ohne jede Hoffnung, ein Ende ohne die Erwartung eines neuen Anfangs. Dieser „ewige“ Tod erscheint mir wie eine grenzenlose Finsternis, die nirgendwo vom kleinsten Hoffnungsschimmer durchdrungen wird.

„Sei getreu...“ – nicht deinen Prinzipien, deiner Überzeugung, nicht den Menschen, die dir wichtig sind; sei getreu einem Gott, der dir nahe ist, auch dort, wo du es nicht vermutest. Der – um unserer menschlichen Freiheit willen – dir und mir, einem jeden Menschenkind bis in die tiefsten Winkel von Schrecken, Gewalt und Leiden folgt, damit auch dort niemand ganz allein und verloren ist. Ich erinnere das Gebet eines jüdischen KZ-Gefangenen, der ähnlich wie der Erzvater Jakob am Jabbokfluß mit Gott ringt. In seinem tiefsten Schmerz reißt er die Hände zum Himmel, klagt und schreit: „Du kannst mir Leib und Seele verbrennen, aber mein Herz hält dich fest. Was immer du, Gott, mir auch antust, ich lasse dich nicht!“

Ist es das? Geht es darum, sich durchzukämpfen – durch die eigenen Zweifel, Ängste, Schmerzen und Trauer hindurch, durch berechtigten Zorn und heftigen Widerstand? Geht es darum, wider allen Augenschein und wie blind dem Wort einer am Kreuz offensichtlich gescheiterten Existenz zu vertrauen, einer Person, die alle Grenzen überschreitet und die letzte Grenze aufhebt? Ist der Glaube – unser Vertrauen auf diesen Sterbenden und Lebendigen – eine Zuversicht, die sich erst jenseits der letzten Schwelle erfüllt?

Vielleicht braucht es ab und an ein ganz ähnliches fast tödliches Erschrecken, wie jener Mann und seine Frau es in ihrer schweren Erkrankung durchstehen mussten, um die scheinbaren Selbstverständlichkeiten aufzudecken, mit denen wir uns gern umgeben, in denen wir uns sicher wähnen.

Vielleicht braucht es ab und an ein schwergewichtiges Reden über Leben und Tod, Ende und Anfang, damit unser Leben hier nicht nur dahinplätschert, sondern Tiefe gewinnt und einen festen Grund.

„Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben!“ verspricht der, dem kein Tod gewachsen ist. Am Ende steht noch etwas aus: Die Siegeskrone, die Erfüllung, das Schönste überhaupt. Es gibt noch immer etwas zu erwarten – jenseits all unserer hier erfüllten Wünsche. Es steht noch etwas aus – mag auch das Leben in dieser Welt für viele Menschen viel zu kurz abgebrochen sein. Mögen Trennungen bevorstehen, die äußerst schmerzhaft sind. Mag der Tod, den ich nicht umgehen kann, mich ängstigen. Ich glaube ihm nicht das letzte Wort. Es steht noch etwas aus, für das ich keine Worte habe, vielleicht nur Bilder: Himmel und Paradies, Funken eines ungewöhnlichen Lichtes... Wer weiß?

EINER kennt meine Bedrängnis und mein Hoffen – an IHM halte ich mich fest.

AMEN

VORBEMERKUNGEN

Der erste Eindruck ist verwirrend. Wer redet hier zu wem? Und worauf spielen die mythischen Bilder an? Der Seher Johannes empfängt die Botschaft des erhöhten Christus, um sie weiterzugeben an den Schutzengel der Gemeinde in Smyrna, dem heutigen türkischen Izmir. Doch ohne Kenntnis des 1. Kapitels bleibt offen, ob der HERR persönlich redet oder seine Worte von einem Dritten ausrichten lässt. Erschreckend und missverständlich wirkt die Formulierung „Synagoge des Satans“. Die Übersetzung von Walter Jens schreibt deutlicher und umgeht das Problem: „Ich weiß, die Juden lästern dich. Die Juden? Nein. Die Schein-Hebräer, die in Wahrheit Satans Kirchgemeinde sind.“ Der beliebte Konfirmations-, Trau- und Beerdigungsspruch (V. 10c) bringt endlich etwas Vertrautes. Fatal erscheint mir jedoch die Rede über TREUE angesichts des Volkstrauertages, der zur selben Zeit an die unzähligen Opfer von falsch verstandener Vaterlandsliebe und „soldatischer Treue bis in den Tod“ erinnert. Unter dem „zweiten Tode“ verstehe ich den ewigen Tod, über den keine Auferstehungshoffnung mehr tröstet. Die Vorstellung, dass dieser ewige Tod Gültigkeit besitzen soll für all jene, die Christus nicht vertrauen können oder wollen, erscheint mir sehr bitter. Ich erinnere eine Traueransprache für ein ausgetretenes Kirchenmitglied. Die freie Rednerin vermied jegliche Rede von Gott; was ihr blieb war die Beschreibung eines Todes ohne jede Hoffnung. Noch nie war ich so dankbar für das Symbol des Kreuzes – befestigt über dem Eingang zur Kapelle –, das damit sichtbar auch über diesem Tod stand.

Durchhalten in Bedrängnis und Leiden bis zum letzten Atemzug, ohne die Gewissheit, dass sich noch in diesem Leben etwas ändern wird; stattdessen Vertröstung auf das jenseitige Heil – ein schonungsloser Realismus ist Thema dieses Textes. Auch, wenn unsere heutigen Bedrängnisse anders aussehen als die verhöhnende Anfeindung und tödliche Bedrohung für die Christen unter der Diokletianischen Verfolgung, auch wir brauchen Trost, die Botschaft des Evangeliums. Damit wir Kraft finden für ein Leben vor dem Tod.

Der Seher bereitet seine Gemeinden auf das Sterben vor!! Leben durch Schmerzen, Trauer und Leiden hindurch, Leben mit der Aussicht auf den unvermeidlichen Tod. Vielleicht ist das der Punkt, der uns mit den damaligen Menschen verbindet: getröstet leben mitten im Angesicht des Todes und in der Hoffnung auf eine transzendente Wirklichkeit, die uns durch das Wort des Auferstandenen nahe kommt.

Pastorin Karin Klement
Lange Straße 42
37077 Göttingen
(Kirchengemeinden Roringen und Herberhausen)
Tel. 0551/21566
e-mail: Karin.Klement@evlka.de


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