Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Altjahresabend / Silvester, 31.12.2000
Predigt über Johannes 8,31-36, verfaßt von Angelika und Detlef Reichert

Liebe Gemeinde,

`alle Jahre wieder´,-
nein, nicht: `kommt das Christus-Kind´ - das auch, das haben wir vor einer Woche gesungen - sondern: Alle Jahre wieder machen wir Revision, lassen wir Revue passieren, bilanzieren wir, und vor allem: Wir bewerten. Wie war´s eigentlich für uns persönlich, das erste Jahr des neuen Jahrtausends (wenn es das gewesen sein sollte)?

Zum Bewerten braucht man Maßstäbe, und vermutlich benutzt jeder und jede von uns unterschiedliche. Es könnte sein, dass im einen oder anderen Fall auch der Gedanke von Freiheit eine Rolle spielt. In unserem Predigttext spielt das Stichwort "Freiheit" - oder doch lieber gleich genauer gesagt: das Befreien, Freisein - eine wichtige Rolle. Ich lese die Verse aus dem Johannesevangelium im 8. Kapitel nachher vor.

Zunächst möchte ich Sie mit Katharina bekanntmachen.
Katharina ist Mitte 40, Lehrerin an der Orientierungsstufe, also die Klassen fünf und sechs, mit Deutsch und Erdkunde. Jahresbilanz, das gehört zu ihren Gewohnheiten, irgendwann zwischen Weihnachten und Neujahr. 2000 war kein besonders gutes Jahr. Besonders dramatisch war es auch nicht. Keine Todesfälle im Verwandten- und Bekanntenkreis, keine ernsthaften Gesundheitsprobleme, auch keine wirklichen finanziellen Engpässe, obwohl Jan, ihr Mann, immer noch keinen neuen Job gefunden hat. Da waren mehr die Kleinigkeiten. Die Fachleiterstelle in Deutsch. Die hat Annette bekommen, die stets aufgeräumte, quicke Kollegin, und nicht sie. Gut, das war kein Wunder. Katharina kommt mit dem Chef nicht besonders gut klar. Dessen ständige Sorge ist immer nur der gute Ruf der Schule. An pädagogischen Zielen scheint er so wenig Interesse zu haben wie am Schulklima. Und dann ist da die Atmosphäre im Kollegium, sie ist eindeutig gespannter und giftiger geworden. Politisch wackelt die Orientierungsstufe, und da sind eben nicht mehr viele auf langfristige Zusammenarbeit aus. Wer kann wo unterkommen, das ist viel wichtiger. Ansteckender Schwung, der einen mitreißen könnte, ist auch bei den Jüngeren nicht zu spüren. Ihren Vorschlag für ein Projekt "Gewaltfreiheit auf dem Schulhof" hat niemand im Kollegium unterstützt. Weitere Ideen hat sie dann gleich für sich behalten. Der letzte Elternsprechtag war auch ziemlich nervig: In den Augen der Eltern war die Parallelklasse, die von Annette natürlich, im Stoff weiter; ob das denn überhaupt nötig sei, soviel Zeit für Klärung von Konflikten in der Klasse zu verwenden. (`Verschwenden´ hatte keiner gesagt, aber...) Insgesamt lauter Kleinigkeiten, aber eben viel Sand im Getriebe von 2000, - Nadelstiche, verkorkste Atmosphäre, Desinteresse. Wie sieht das da unter dem Strich aus? Auf alle Fälle nicht ohne Auswirkung auf sie selbst. Das spürt sie: schlaffer geworden, abgestumpfter, lustloser. Seit dem Elternsprechtag ist ihr immer häufiger die Parole "nicht mein Problem" im Kopf. Und hier und da hat sie auch Konsequenzen gezogen. Sie achtet auf konsequente Einhaltung des Stoffplanes und vor allem darauf, mit Kollegin Annette gleichzuziehen. Jedenfalls in dieser Hinsicht bietet sie keine Angriffsfläche mehr. Dennoch tut sich kein sonderlich entspannter Ausblick auf 2001 auf.

Wünsche, Hoffnungen, Ziele?

Katharina erspart sich das diesmal. "Eigentlich" - so geht es ihr durch den Kopf - "hätte ich auch meine Notizen lassen können. Ein Foto hätte es auch getan. Ein Foto von einem Hamster, der sinnlos im Käfig sein Laufrad tritt. Das wäre eine treffende Bilanz meines Jahres 2000 gewesen."

Ich lese jetzt den Predigttext:

"Jesus sagte nun zu den Juden, die zum Glauben an ihn gekommen waren: `Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaftig meine Jünger, und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen´. Sie antworteten ihm: `Wir sind Nachkommen Abrahams und haben niemals jemandem als Knechte gedient. Wie kannst du sagen: Ihr werdet frei werden?´ Jesus antwortete ihnen: `Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Jeder, der die Sünde tut, ist ein Knecht der Sünde. Der Knecht bleibt nicht für immer im Haus; der Sohn bleibt für immer. Wenn nun der Sohn euch frei macht, werdet ihr wirklich frei sein.´"

Wenn Katharina diese Verse hören würde, - unwahrscheinlich ist das nicht, denn sie gehört zu den Menschen, die über das Jahr hin selten, an Silvester aber regelmäßig zum Gottesdienst kommen, - dann würde sie sich zumindest erst einmal positiv angesprochen fühlen. Der Satz: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen" klingt nach, und sie findet ihn irgendwie tröstlich. Jesus ist dagegen, dass Menschen eine Hamster-Laufrad-Existenz führen. Soviel steht fest. Aber daraus ergibt sich noch nicht viel, und sie würde sich um das Beste bringen, wenn sie es bei diesem vagen Eindruck beließe, - und wir auch.

Tatsächlich tun sich für Katharina doch auch eine ganze Reihe von Fragen auf. Zunächst: Von welcher Wahrheit kann das eigentlich ernsthaft und so absolut behauptet werden, dass sie die befreit, die sie erkennen?

Das wird kaum jemand bestreiten, dass es tatsächlich solche Wahrheiten und solche rationalen Einsichten gibt, die schon lange bestehende traditionelle Meinungen durchbrechen und neue Handlungsspielräume eröffnen. Gerade in Zusammenhängen naturwissenschaftlicher Forschung ist uns das bewußt.

Aber geht solch ein `Mehr´ an Handlungsspielraum, das sich da plötzlich auftun kann, tatsächlich immer notwendig mit einem `Mehr´ an Freiheit einher? Wenn das so wäre, dann hätten wir im Jahr 2000 allen vorangehenden Jahrhunderten gegenüber einen ungeheuerlichen Freiheitszuwachs zu verzeichnen gehabt. Das wäre eine Behauptung, die zu Recht diejenigen bestreiten würden, die unter der zunehmenden Entfremdung von allen natürlichen Gegebenheiten leiden. Längst nicht alle neu erschlossenen Handlungsräume haben in den Folgen ihrer Anwendung Freiheit ergeben, vom Leben mit Farbstoffen bis zum Umgang mit den Lebensmitteln. Solche Freiheitsverluste mögen noch vergleichsweise harmlos erscheinen, auch deshalb weil wir gelernt haben, uns auf sie einzustellen, auszuweichen, mit ihnen zu leben. Aber das wissen wir alle: In dem Maß wie die menschlichen, meist naturwissenschaftlichen Einsichten und Erkenntnisse die Handlungsspielräume enorm vergrößert haben, sind die Folgen für unser Handeln in zunehmendem Maß unüberschaubarer geworden. Und das wissen wir auch: Solche Unüberschaubarkeit bewirkt das Gegenteil von Freiheit, nämlich Angst. Der Beschluss des englischen Unterhauses vor vierzehn Tagen, Klonen menschlicher Gene zu therapeutischen Zwecken gesetzlich zu erlauben, und die sich daran anschließende beginnende Debatte auch bei uns ist eine leider nur allzudeutliche Illustration dafür. Wahrheit und Erkenntnis sind nicht einfach gleichbedeutend mit Zunahme an Freiheit.

Aber nun geht es bei Johannes offenkundig auch gar nicht um eine bestimmte, sogenannte "Satz-Wahrheit". Es geht nicht um eine Einsicht, dass eine bestimmte Sache so und nicht anders ist. Sondern die befreiende Wahrheit, von der am Beginn der Verse geredet wird , - "ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen" - , sie ist im letzten Satz dem von Gott in die Welt gesandten Sohn zugeschrieben. Sie wird mit Jesus verbunden. Er ist es, der frei machen wird. Das heißt nichts anderes, als dass die befreiende Wahrheit, die Wahrheit in Person, Jesus selbst ist. So wie es mit einem anderen Bild das Johannesevangelium gleich am Anfang sagt: Das fleischgewordene Wort, in ihm greift Gott selbst nach den von ihm abgesondert lebenden Menschen.

Spätestens an dieser Stelle müßte Katharina eigentlich protestieren: Die Skepsis in die freiheitsbefördernde Wirkung menschlicher Einsichten und Wahrheiten konnte sie nachvollziehen. Nicht alles, was ich weiß, muss mich freimachen. Ganz verschwommen ahnt sie sogar Zusammenhänge mit ihrem Projekt "Gewaltfreiheit auf dem Schulhof". Aber wenn die Wahrheit der Griff Gottes nach dem Menschen ist, dann hört sich das auch beim allerbesten Willen nicht nach Freiheit an. Soll zu den vielen Abhängigkeiten, die sie im letzten Jahr erfahren hat, nun noch eine weitere dazukommen? Direkt von oben? Das hört sich so an, als drohe der Hamster-Laufrad-Käfig noch enger und noch kleiner zu werden.

Katharina hat Recht. Jedenfalls so lange, wie wir unter menschlicher Freiheit die Möglichkeit verstehen, so zu sein, uns so zu zeigen und so zu entfalten, wie wir nun gerade einmal sind.

Das meint der johanneische Jesus in unserem Text aber nicht. Das ist nicht seine Voraussetzung, dass Freiheit für uns Menschen darin besteht, so zu sein, wie wir nun einmal gerade sind. Ein ganz kleiner äußerer Hinweis macht das schon deutlich. Auffällig ist ja eigentlich schon, dass im Text der abstrakte Begriff Freiheit gar nicht vorkommt. Vielmehr ist von einem Geschehen die Rede. Es geht um befreien, um frei werden, frei sein.

Jesus als die Wahrheit Gottes will uns nicht einfach ein Stück Freiheit zur beliebigen Verfügung stellen, uns so, wie wir sind. Es geht nicht einfach um noch ein Stück mehr (und auch nicht um endlich ein Stück mehr) an Entfaltungsmöglichkeit oder Lebensspielraum.

Jesus als die Wahrheit Gottes geht gründlicher mit uns vor, erschreckend gründlich. Er zielt nicht auf ein Stück mehr an Freiheit, er zielt auf uns selbst, auf unsere Befreiung, darauf, dass wir frei werden.

Nicht nur Katharina wird dazu Konkreteres wissen wollen: Wenn es nicht nur um Ausweitung unserer Lebensmöglichkeiten gehen soll, von uns in eigener Regie benutzbar, sondern um Befreiung, um Veränderung unserer selbst, dann bleibt doch immer noch die Frage: Befreiung wozu und Befreiung wovon? In unserem Text ist den volltönenden Sätzen über Wahrheit und Befreiung eine leicht übersehbare Aussage vorangestellt: "Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaftig meine Jünger." Die Befreiung, die Jesus mit seinen Jüngern, mit uns, vorhat, entläßt nicht in die Beziehungslosigkeit. Die Befreiten sind vielmehr bleibend mit ihrem Befreier, mit seinem Wort, verbunden. Von diesem Standort aus tut sich eine überwältigende Perspektive auf, die gleich zu Beginn des Johannesevangeliums in einem Wort Jesu an seine Jünger ins Bild gefaßt wird: "Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel auf und nieder steigen sehen auf den Menschensohn" (Joh 1,51). Überwältigend ist diese Perspektive im Vergleich zu unseren Erfahrungen mit tiefen und hohen Himmeln. Irgendwo, so zwischen Hamburg und Kiel, da beginnt der Himmel höher zu werden. Mindestens im Sommer ist das so. Da packt einen dann die Lust, je nach Temperament, einfach loszurennen ins Freie oder auch ganz tief durchzuatmen und die Fülle des Lichts in sich aufzusaugen. Aber: Der geöffnete Himmel, das ist noch mehr, da versagen unsere Erfahrungen. Vermutlich ist dieses Bild des geöffneten Himmels auch nicht einmal ansprechend, sondern im wahrsten Sinne des Wortes unheimlich. Es sei denn, uns steht der zur Seite, der im Himmel daheim ist, und der den Himmel geöffnet hat, um sein Geschöpf nicht in in einer verriegelten Welt fremder Herrschaft zu überlassen.

Die Fremdherrschaft trägt im Predigttext den Namen "Sünde". Dieses Wort ist weitgehend aus unserem aktiven Sprachgebrauch verschwunden. Wie immer man das auch bewerten mag, in jedem Fall ist dieses Verschwinden verständlich. Es liegt nun einmal im Wesen der Sünde, ihre Herrschaft undurchschaubar zu halten. "Jeder, der die Sünde tut, ist der Sünde Knecht". Wer Sünde tut, ist ihr ganz und gar ausgeliefert, wird restlos von ihr beherrscht, ja versklavt. Sünde instrumentalisiert den Menschen ganz, einschließlich seines Willens und seines Verstandes, und verhindert so, dass diese Herrschaft den von ihr Beherrschten auch nur im Ansatz durchschaubar wäre. Diese Herrschaft läßt sich nicht von innen aufsprengen; die Befreiung muss von außen kommen. Erst in der Perspektive des über Jesus geöffneten Himmels können die Befreiten ihr früheres Knechtsein unter der Sünde erkennen. Erst dann, wenn sie so leben können, wie sie eigentlich von Gott her gemeint sind, nämlich als seine Geschöpfe.

Ob Katharina mit diesen Antworten etwas anfangen kann, wissen wir nicht. Möglicherweise erinnert sie sich an ihre Notizen und stellt fest, dass die Befreiung, von der der Text redet, nicht die Freiheit ist, die ihr bei ihrer Jahresbilanz vorschwebte. Jesus als die befreiende Wahrheit Gottes wird vermutlich nichts ändern an der pädagogischen Lustlosigkeit von Chef und Kollegium, nichts ändern an der Arbeitslosigkeit ihres Mannes, nichts ändern am Scheitern ihrer Projekte und Bemühungen, nichts ändern am Desinteresse, auf das sie mit ihren Ideen stößt.

Es könnte aber auch sein, dass Katharina sich von ihren Jahresendgedanken ablenken läßt und zu liebäugeln beginnt mit der Perspektive des über Jesus geöffneten Himmels. Und es könnte sein, dass sie dabei nicht dieselbe bleibt. Wer erst einmal Geschmack gefunden hat an der Perspektive des über Jesus geöffneten Himmels, den läßt sie meistens nicht mehr ganz los, auch dann nicht, wenn der Blick in ganz andere Richtungen geht.

So könnte Katharina zuerst und vor allem das Hamster-Laufrad-Bild fremder werden; aus dieser neuen Perspektive stimmt es einfach nicht. Es könnte ihr auch auffallen, dass weder ihre Umwelt noch auch sie selbst das sind, wozu sie heimlich sich und andere machte: Die Jury, die über Sinn oder Nicht-Sinn ihrer Existenz entscheidet. Ja, und wer weiß, ob eine veränderte Katharina von der Umwelt so ganz unbemerkt bleiben wird? Das müßte schon merkwürdig zugehen.

Übrigens, haben Sie sich einmal überlegt, welches Bild Sie am liebsten über das kommende Jahr stellen würden?

Amen

PD Dr. Angelika Reichert
Sup. Dr. Detlef Reichert
Gneisenaustr. 76
33330 Gütersloh
E-Mail: SuperintendentGT@aol.com


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