Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Sexagesimae, 18. Februar 2001
Predigt über Jesaja 55, (6-9)10-12a, verfaßt von Jasper Burmester

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, Amen.

Liebe Gemeinde,

das große durchgängige Thema der Bibel ist die Freiheit, die Befreiung von jeglicher Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Beide Testamente machen in verschiedener Weise und von verschiedenen Situationen der Unfreiheit ausgehend zu allen Zeiten Menschen Mut, ihre Lage nicht als naturgegeben, gottgewollt und unabänderlich hinzunehmen, sondern immer wieder aufzubrechen, sich auf den Weg zu machen, auszuziehen in ein gelobtes Land. Zu diesen großen Freiheitstexten der Bibel gehören auch die Trostworte, die Ermutigungs- und Aufbruchworte, die ein Prophet 500 Jahre vor Christus jenen Menschen sagte, die fernab der verlorenen Heimat in babylonischer Gefangenschaft lebten. Fast ein Jahrhundert nach der Ankunft in der Fremde hatten diese Menschen fast jede Hoffnung auf Veränderung und Rückkehr aufgegeben, und manch einer hatte sich schon soweit mit der Fremde arrangiert, dass es sich dort leben ließ. In diese Stimmung aus Resignation und Anpassung hinein predigte der Prophet, dessen Worte uns im zweiten Teil des Jesajabuches überliefert sind. Er verkündigte im Namen und im Auftrag Gottes eine sich anbahnende geschichtliche Wende, die Befreiung und Rückkehr verhieß. Wie viele ihm geglaubt haben, ist nicht überliefert, aber es werden wohl nicht viele gewesen sein, die sich aus ihrer Resignation oder ihrer Furcht, das wenige bereit Erreichte wieder aufzugeben reißen ließen um dieses gegen die Unsicherheit, gegen die Zumutung der Freiheit einzutauschen. Der Prophet muß Überzeugungsarbeit leisten, Überzeugungsarbeit für die gute Nachricht, für das Evangelium der Möglichkeit einer Rückkehr nach Jerusalem. Hören wir seine Worte: "Sucht den Herrn jetzt, da er sich finden läßt. Ruft ihn an jetzt, da er nahe ist. Der Gottlose soll seinen Weg verlassen und der Frevler seine Pläne. Er kehre um zum Herrn, der Erbarmen mit ihm hat und zu unserem Gott, denn er ist groß im Verzeihen. Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Weg spricht der Herr, sondern so hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken. Denn wie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht dorthin zurückkehrt, sondern die Erde tränkt und sie zum Keimen und Sprossen bringt, wie er dem Sämann Samen gibt und Brot zum Essen, so ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verläßt: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will und erreicht das, wozu ich es ausgesandt habe. Voller Freude werdet ihr fortziehen und in Frieden werdet ihr geleitet. Berge und Hügel brechen vor euch in Jubel aus und die Bäume des Feldes klatschen Beifall. Statt Dornen wachsen Zypressen und Myrthen statt Brennnesseln. Das alles geschieht zur Ehre Gottes als ein immerwährendes Zeichen."

Liebe Gemeinde - brauchen wir das befreiende Wort überhaupt? Empfinden wir unser Leben als unfrei, als eine Gefangenschaft? Denn nur aus dem Blickwinkel der Unfreiheit, der Gefangenschaft können wir ausziehen wollen und diese Worte mit dem Ernst und der Freude hören, wie sie damals gehört werden wollten.

Aber auch heute warten Menschen auf diese Befreiungsworte. Dabei müssen wir nicht einmal an Menschen in fernen Ländern denken, von denen wir manchmal in der Tagesschau hören, dass sie auf der Flucht vor unerträglichen Zuständen sind oder um ihre Freiheit kämpfen in Tschetschenien oder Palästina, in Westafrika oder Westpapua. Das fängt doch bei uns an: Da ist der Jugendliche, der mit sich selbst und seiner familiären Umgebung nicht klarkommt und auf der Suche ist nach einem Ort, wo man ihn ernst nimmt mit seinen Fragen und seinen Anwortversuchen und seiner Suche nach einer Lebensperspektive. Es geht ihm nicht direkt schlecht, er kriegt alles, was er haben will - nur muß es doch mehr als alles geben. Da ist die Frau Mitte 40, die eines Tages spürt, dass sie eigentlich niemand so richtig braucht, die Kinder gehen ihre eigenen Wege, der Partner hat mit seiner Arbeit genug und der Haushalt ist routinemäßig erledigt. Da ist der Mann in der Mitte seines Lebens, der abends nicht einschlafen kann, weil er spürt, dass ihm etwas im Leben fehlt - und er weiß nicht, was.

Wir leben in einem der reichsten Länder dieser Erde. Und doch mehren sich die Anzeichen, daß wir Gefangene eines Lebenstiles sind, der unsere Welt zugrunderichtet, sicher noch nicht für uns, aber für unsere Kinder und Enkel. BSE geht uns unter die Haut, denn kaum etwas verunsichert uns so sehr wie die Unsicherheit des täglichen Brotes. Unsere Art, mit Schöpfung und Geschöpfen umzugehen, hat uns Überfluß ohne Ende beschert und ist heute vielen Menschen fragwürdig geworden, reif für eine grundsätzliche Kehrtwendung. Es ist eine Gefangenschaft, weiß Gott: eine komfortable Gefangenschaft. Die Orte von Gefangenschaft sehen nicht immer grauenhaft aus, und doch ist diese Gefangenschaft in einem schöpfungszerstörenden Lebensstil eine babylonische: es ist nicht unerträglich und darum schwer, aufzubrechen und sich und die Richtung des Weges zu ändern. Woher sollen wir die Kraft zur Veränderung nehmen, die alle Einsichtigen für erforderlich halten, woher den Mut, gegen den Strom wohlhabender Resignation anzuschwimmen woher die Beharrlichkeit, sich gegen die eigene Bequemlichkeit durchzusetzen und sich auch durch Rückschritte nicht beirren zu lassen?

Der Prophet lädt uns ein, wirbt darum, sich auf Gottes Zusage einzulassen. Er ruft dazu auf, Gott zu suchen, ihn anzurufen, sich ihm zuzuwenden, der nahe ist, der alle stärkt und stützt, die aufbrechen aus der Gefangenschaft, die umkehren auf Wegen, die aus Bequemlichkeit oder Dummheit ins Verderben führen. Gottsucher zu werden, lädt er ein, wirbt darum, dass wir Menschen werden, die sich nicht blenden lassen von der Oberflächlichkeit eines wohlhabenden Lebens auf Kosten der Armen, die sich nicht einschüchtern lassen, weder vom sogenannten gesunden Volksempfinden noch von den Attitüden der Mächtigen. Gott ist nahe, ruft der Prophet aus. Seine Zuwendung erfordert unsere Abwendung: Wer sich auf Gottes Zukunft einläßt, muß sich dazu abwenden von eigenen Plänen, Hoffnungen, Berechnungen. Gottlose und Frevler - das sind ja nicht minderwertige Gestalten, sondern Menschen, die wie wir sich gerne an eigene Pläne und Absichten klammern und keinen Sinn haben für Gottes Ruf zum Aufbruch.

Gottes Pläne sind nicht unsere und seine Wege, sie zu verwirklichen, sind nicht unsere. Was Gottes Plan mit uns ist, weiß ich nicht, aber die Botschaft Jesajas macht mir Mut, dass es Gott um Vergebung geht, um Umkehr, um das Neuanfangen, um Gerechtigkeit auch für die Mitgeschöpfe, um Frieden und Zukunft für unsere Kinder und Enkel. Gottes Wege und Gedanken sind nicht unsere, aber vor allem scheint mir, dass Gottes Tempo nicht unser Tempo ist. Das Bild vom Regen und Schnee macht uns die Wirkungsweise der Gottesworte und Gedanken deutlich. Das von Menschen in trockenen Gegenden leichter zu verstehende Bild von der Wirkung des Regens, vom Segen der Feuchte, die die Wüste zum Blühen bringt, sagt: So wenig wie der Schnee und der Regen für sich allein Fruchtbarkeit bewirken, sondern nur in Verbindung mit der Erde, so wirkt auch Gottes Wort in Verbindung mit Menschen, die es aufnehmen, sich öffnen und bewegen lassen. Wo das geschieht können wir, unsere Kraft sei begrenzt wie sie ist, zu Mitarbeiterinnen und Botschaftern der Zukunft Gottes werden. Und so wie, jedenfalls in unseren Breiten, das Wachsen in der Natur ein langsamer Vorgang ist und nicht von heute auf morgen geschieht, so vollzieht sich auch die Verwirklichung von Gottes Zukunft mit langem Atem, für unsere an Tempo gewöhnte Wahrnehmung und unsere begreifliche Ungeduld oft unsichtbar, voller Rätsel, Zweifel, Fragen.

Wir kennen den Weg nicht, auf den wir gerufen werden. Das war noch bei jedem Aufbruch, bei jedem Auszug so: als die israelitischen Sklaven aufbrachen in Ägypten, um die Sklaverei abzuschaffen, wußten sie nichts von dem Weg, und hätten sie ihn gekannt, sie wären da geblieben. Als die nach Babylon Verschleppten sich auf den Weg nach Jerusalem begaben, kannten sie die Umstände des Lebens in der durch ein Jahrhundert veränderten Heimat nicht. Wenn wir uns jetzt aufmachen, die Bewohnbarkeit der Erde zu erhalten, kennen wir allenfalls die ersten Schritte, die zu gehen sind. Und das gilt auch für die babylonischen Gefangenschaften unserer eigenen Lebensläufe, wenn wir uns aufmachen, die Freiheit der Kinder Gottes zu entdecken.

Was uns dabei Mut schenken und auf Durststrecken Trost geben kann, ist die die Gewißheit, dass Gottes Wort wirkt und nicht leer und unwirksam zu ihm zurückkehrt. Mit seinen Worten ist das nicht anders als mit manch gutem Menschenwort, das uns im Laufe unseres Lebens gesagt wird. Manchmal fallen sie uns erst nach vielen Jahren wieder ein, nachdem wir sie einfach vergessen hatten, dann wenn wir sie ganz besonders nötig brauchen, und entfalten dann ihre Wirkung. So ist das auch mit Gottes Wort: Wenn wir in Not und Enge geraten, fallen sie uns ein und setzen uns auf die Spur, die in Gottes Zukunft führt. Amen

Pastor Jasper Burmester, Hamburg-Volksdorf
jasperbu@aol.com


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