Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Karfreitag, 13. April 2001
(Rundfunk-)Predigt, Matthäus 27,46, verfaßt von Armin Kraft

Liebe Gemeinde, liebe Hörerinnen und Hörer!

Kennen Sie die Geschichte von Birne in der Kirche? Diese elektrische Birne stammt ursprünglich aus einer Ampel. Und sie kann sogar reden und blinken. Eines Tages kommt Birne in eine Kirche und wundert sich: „In jeder Kirche hängt Jesus am Kreuz!“ Sie meint: „Der sieht aber schrecklich aus, so ausgemergelt, blutig, schmerzverzerrt.“ In diesem Moment stoßen vor der Kirche auf einer Kreuzung zwei Autos zusammen. Verletzte liegen zwischen den Blechteilen. Birne sieht das und rast zurück in die Kirche und ruft: „Jesus, wir brauchen dich, komm runter vom Kreuz!“ Und tatsächlich Jesus steigt vom Kreuz, läuft zu der Unfallstelle, heilt und tröstet. Nachdem die Verletzten in die Krankenwagen gebracht worden sind, wollen die Leute Jesus wieder in die Kirche zurückbringen, aber er weigert sich, er mischt sich schnell wieder unter die Leute. Denn Jesus wollte nicht am Kreuz, sondern bei den Menschen sein. Seitdem, so schließt diese Geschichte, wurden die Kreuze abgeschafft.

Ich versuche mir das vorzustellen – ein Kirche ohne Kreuze. Wir räumen die Kreuze weg und ersetzen sie durch Zeichen der Freude, z. B. durch Sonne, Kerzen und Lichter. „Wo sind denn die Kreuze geblieben?“ fragen dann bestimmt einige Kirchenbesucher und der Küster antwortet: „Wir haben sie in den Keller getragen, die Gemeinde konnte den ständigen Anblick eines verletzten Sterbenden nicht mehr aushalten“.

Die Kreuze abschaffen? Nun, nicht nur ich als Pastor habe damit meine Schwierigkeiten. Die Kreuze gehören doch dazu - in die Kirchen, in diese besondere Passionszeit, in diese Leidenszeit. Sie sind doch ein wichtiges christliches Symbol und Erkennungszeichen. Und ohne Karfreitag wäre auch Ostern harmlos. Die Kreuze erinnern uns schlicht oder auch ergreifend an Leiden, Schmerzen, Tod. Ohne Karfreitag wäre Ostern harmlos. Und umgekehrt: ohne Ostern ist Karfreitag trostlos. Beides gehört zusammen. Trostlos ist es, wenn wir nur bei den Schmerzen und den Leiden hängen bleiben. Harmlos ist Ostern dann, wenn die Freude nicht auf eine Lösung, eine Erlösung vom Leiden folgt.

Also die Kreuze gehören in unsere Kirchen. Allerdings ist es wichtig, dass sie kein lasches Zeichen sind und bleiben dürfen. Das Kreuz ist zwar fremd, aber es bleibt wichtig, denn am Kreuz geht es um die Gottesfrage. Ist Gott auch dort, wo ungerecht gelitten wird, wo Menschen vergewaltigt, verachtet, ermordet werden? Matthäus wagt es, von einem Christus zu sprechen, der von Gott verlassen und von den Menschen angespuckt und verschmäht wird. Er schreit diesen Satz aus dem 22. Psalm heraus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Darum lassen wir die Kreuze in unseren Kirchen hängen und auf unseren Altären stehen! Hier wird das zusammengefasst, was Menschen auch in unserer Zeit erleben, wenn sie Gott fragen: „Wie kannst zu zulassen, dass die kleine Ulrike so brutal vergewaltigt und getötet wird, dass so viele Menschen durch einen Flugzeugabsturz ums Leben kommen? Wie kannst du zulassen, dass schlimme Krankheiten um sich greifen, dass Tiere zu Tausenden verbrannt werden und unschuldige Menschen in einem ICE zermalmt werden?“ „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, warum bist du nicht da, wo wir dich brauchen, wenn wir dich brauchen?“ Wir brauchen die Kreuze deswegen, weil Jesus hier mit unserer Frage auf den Lippen stirbt.

Ja, unser Glaube ist oft gefährdet, wenn wir nicht antworten können auf Unmenschlichkeiten und Gewalttaten. Zweifel können einen Menschen fertig machen. Vieles, was wir uns selbst zurechtgelegt haben, bricht dann wie ein Kartenhaus zusammen. Das wird in den biblischen Karfreitagstexten deutlich gemacht. Hier verblassen alle Bilder vom lieben Vater überm Sternenzelt und vom Schutzengel, der immer im rechten Moment zur Stelle ist.

Rudolf Otto Wiemer, der Dichter aus Göttingen, sagt treffend: „Weil Jesus diese Warum-Worte gesagt hat, von dem Verlassensein, von dem Verlust Gottes, glaube ich ihm auch seine anderen Worte!“ Nein, wir schaffen die Kreuze nicht ab, räumen sie nicht in eine Krypta, nicht in ein Museum, sondern lassen sie dort stehen, wo sie hingehören: ins Zentrum unseres Glaubens, ins Zentrum unserer Kirchen. Leiden gehören nämlich zu unserem Leben dazu. Unter jedem Dach ein Ach!

Aber es soll nicht bei diesem Weh und Ach bleiben. Ich greife ein wenig voraus und denke an Ostern. Die Frauen finden das Grab leer. Sie erfahren, dass Jesus sich nicht ans Kreuz festnageln läßt. Aber eins nach dem anderen. Zunächst wollte er diesen schlimmen Weg gehen, zu Ende gehen, um bei uns zu bleiben auch in schweren Stunden. Karfreitag heißt: das Kreuz wird nicht abgeschafft, denn der Gekreuzigte gehört unter die Menschen, er gehört zu uns. Wir lassen die Kreuze deswegen in unseren Kirchen, weil wir glauben, dass gerade dann, wenn wir unser Kreuz zu tragen haben, wenn wir leiden müssen, Gott bei uns ist. Es gilt: Was Christus im Glauben an Gott getan hat, das hat er nicht für sich, sondern für uns getan! Für uns gekreuzigt: wenn das Kreuz unseres Lebens uns drückt, sind wir nicht allein, sondern haben einen Gefährten und einen Bruder. Er hat für uns das Kreuz getragen, damit wir uns auch in unseren Zweifeln und Ängsten getragen wissen.

In der Geschichte von Birne bleibt Jesus bei den Leuten und die Kreuze werden abgeschafft. Eine schöne Idee, aber sie reicht nicht. Ich glaube, dass Jesus – Gott – gerade im Leiden, am Kreuz wirklich bei uns ist.

Hier im Dom ist das Kreuz als ein Pluszeichen gestaltet. Dieses Pluszeichen nimmt auch unsere Enttäuschungen und Ängste auf. Es ist ein Hoffnungszeichen und sagt uns ganz persönlich: Ich mag dich leiden! Ich bin bereit sogar bereit, unter dir, für dich zu leiden! Ich kenne dich und habe dich lieb.

Am Domkreuz breitet Jesus die Arme aus. Er will uns hineinnehmen in sein Sterben und Auferstehen, damit wir sterben und auferstehen können. „Komm in meine Arme“. So wird das Kreuz, obwohl es ein Todessymbol ist, zum Lebenszeichen.

Amen

Propst Armin Kraft
Domplatz 5, 38100 Braunschweig
Tel.: 0531-46473, Fax: 125065


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