Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Ostersonntag, 15. April 2001
Predigt über Johannes 20,11-18, verfaßt von Andreas Lindemann

Exegetische und homiletische Vorentscheidungen

Liebe Gemeinde!

„Am dritten Tage auferstanden von den Toten“ – so sprechen wir gemeinsam Sonntag für Sonntag mit den Worten des Apostolischen Bekenntnisses. Oder wir sagen, wie heute: „Am dritten Tage auferstanden nach der Schrift“. Diese Worte haben, in Anlehnung an ein schon beim Apostel Paulus zitiertes Bekenntnis, die Konzilien von Nicäa und Konstantinopel im 4. Jahrhundert einst festgelegt. Jesus ist auferstanden von den Toten. Das ist die christliche Osterbotschaft.

Aber was meinen wir eigentlich, wenn wir von Jesu Auferstehung sprechen? Worauf bezieht sich unser Bekenntnis? Wir könnten heute auch einfach fragen: Warum feiern wir überhaupt Ostern?

Beim Weihnachtsfest ist die Frage nach dem Warum relativ leicht zu beantworten: Ein Kind wurde geboren. In jedem Jahr erinnern wir uns an seinen Geburtstag. Das ist etwas ganz Normales. Das versteht jeder. Ein Geburtstag ist im allgemeinen ein Tag der Freude. Auch der Sinn von Karfreitag kann uns durchaus einleuchten: Jesus ist gestorben. Es ist nichts Ungewöhnliches, daß man sich an den Todestag eines Menschen erinnert. Aber woran erinnern wir uns zu Ostern?

Seit Wochen zeigen die Schaufenster vieler Geschäfte mehr oder weniger schöne Osterdekorationen. Man kann besondere Ostersüßigkeiten kaufen. Es ist ähnlich wie in den Wochen vor Weihnachten.

Und doch ist es irgendwie auch anders: Vor Weihnachten leuchten helle Sterne über den dunklen Straßen, Engelfiguren lachen uns freundlich an, wir sehen das Kind in der Krippe. Man kann also noch ungefähr erkennen, worum es zu Weihnachten geht. Doch was hat die Osterdekoration mit dem christlichen Osterfest zu tun? Inwiefern erinnern die Schokoladenhasen und die bunten Eier an Jesu Auferstehung von den Toten?

„Auferstanden von den Toten“. Nicht selten, gerade in der Osterzeit, entzündet sich Streit an diesen Worten. Was ist mit diesem Satz gemeint? Ist er nicht letztlich eine Zumutung? Wir wissen doch: Tote werden nicht wieder lebendig. Warum also sagen wir über Jesus etwas, wovon wir aus unserer Erfahrung wissen, daß es nicht stimmen kann?

Oder stimmt es doch? Ist Jesus doch auferstanden, so wie er zuvor gestorben war? Ist Jesu Auferstehung eine Tatsache? Zumindest eine „Glaubenstatsache“, wie gelegentlich formuliert wird?

Liebe Gemeinde, mit dem Stichwort „Tatsache“ müssen wir gerade zu Ostern durchaus vorsichtig sein. Niemand ist bei Jesu Auferstehung dabei gewesen. Niemand hat je bezeugt: „Ich habe gesehen, wie der tote Jesus in seinem Grab neues Leben erhielt. Ich habe gesehen, wie der große Stein vor dem Grab sich auf wunderbare Weise entfernte. Ich habe gesehen, wie sich Jesus erhob und sein Grab verließ.“ Niemand hat das jemals gesagt. Es gibt keine Augenzeugen. Nirgendwo im Neuen Testament gibt es eine Erzählung, in der geschildert wird, wie sich Jesu Auferstehung vollzogen haben könnte. Erzählt wird nur, daß Frauen am dritten Tag nach Jesu Hinrichtung sein Grab besuchten, daß sie das Grab geöffnet fanden, und daß Jesu Leichnam nicht mehr da war.

Erzählt wird dies in den vier Evangelien auf recht unterschiedliche Weise. Vorhin haben wir die Erzählung gehört, wie sie uns im Johannesevangelium überliefert ist: Maria Magdalena kommt zuerst zum Jesu Grab, danach kommen auch zwei der Jünger – der eine ist Petrus, und der andere ist der, den man den „Lieblingsjünger“ nennt und dessen Namen wir nicht wissen. Wir haben gehört, wie Maria Magdalena reagiert, als sie das Grab geöffnet findet: „Sie haben den Herrn aus dem Grab genommen“, sagt sie; „und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ Das Grab ist offensichtlich leer.

Aber was bedeutet das? Für Maria Magdalena ist das leere Grab jedenfalls alles andere als ein Hoffnungszeichen. Sie kommt nicht auf den Gedanken, das leere Grab sei ein Indiz, womöglich gar ein Beweis dafür, daß Jesus nicht mehr tot ist. Nein: Angesichts des leeren Grabes weiß sie, daß jemand den toten Körper Jesu beseitigt hat.

„Sie haben ihn genommen“, sagt Maria Magdalena. Und da können wir für das „sie“ beliebige Namen einsetzen: „Sie“ – das mögen die römischen Machthaber sein. „Sie“ – das könnten die Angehörigen der Jerusalemer Priesterschaft sein. „Sie“ – das sind vielleicht ganz allgemein die Gegner Jesu. Das sind die, die Jesu Hinrichtung durchgesetzt hatten und die nun nicht einmal dem Toten seine Ruhe gönnen. Die fürchten, sogar der tote Jesus im Grab könne ihnen noch einmal gefährlich werden.

Es wäre ja nicht das erstemal, und es wäre auch ganz gewiß nicht das letzte Mal, daß von einem Grab Gefahr ausgeht. Nicht selten kommt es vor, daß Menschen, die dem Toten nahgestanden hatten, nun dessen Grab zu einer Kultstätte machen.

„Sie haben ihn weggenommen“, sagt Maria Magdalena, als sie das geöffnete Grab sieht. Und die beiden Jünger, die hinzugekommen sind? Sie sind ratlos. Sie schauen in das leere Grab, sie gehen sogar in das Grab hinein. Und dann gehen sie wieder weg, zurück zu den anderen. „Denn sie verstanden die Schrift nicht, daß er von den Toten auferstehen müsse“, schreibt der Evangelist Johannes.

So weit haben wir die Geschichte vom leeren Grab vorhin gehört. Aber wie geht sie weiter? Hören wir auf die Fortsetzung, auf Joh 20,11-18. Hören wir auf jenen Text, der in diesem Jahr 2001 für den heutigen Ostersonntag als Predigttext vorgeschlagen ist (im Luther-NT S. 138):

Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, schaute sie in das Grab und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten. Und die sprachen zu ihr: „Frau, was weinst du?“ Sie spricht zu ihnen: „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“

Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, daß es Jesus ist. Spricht Jesus zu ihr: „Frau, was weinst du? Wen suchst du?“ Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: „Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen.“ Spricht Jesus zu ihr: „Maria!“ Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf hebräisch: „Rabbuni!“, das heißt: Meister.

Spricht Jesus zu ihr: „Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: ‚Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.’“

Maria von Magdala geht und verkündigt den Jüngern: „Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt.“

Die beiden Jünger, die so mutig in das Grab hineingegangen waren, sind längst zu den anderen zurückgekehrt. Maria Magdalena aber ist beim Grab geblieben. Allein. Warum tut sie das? Was erwartet sie noch? Erwartet sie überhaupt etwas? Erwarten wir noch etwas, wenn wir am Grab eines uns lieben Menschen stehen?

Maria weint. Sie will einfach allein sein. Sie ist nicht in der Stimmung, mit den anderen zu reden. Sie will sich an keiner Diskussion darüber beteiligen, ob man den Leichenraub vielleicht den Behörden melden soll, oder ob man das besser nicht tut.

Aus irgendeinem Grund schaut Maria in das Grab hinein. Das hatte sie vorher nicht getan – anders als die beiden Jünger. Maria sieht in dem Grab zwei Engel. Hatten Petrus und der andere Jünger diese Engel übersehen? Sind die Engel unbemerkt in das Grab gelangt? Wer sind sie? Sind es überhaupt Engel? Sind es nicht vielleicht einfach zwei Männer, angetan mit weißen Gewändern?

Jedenfalls verstehen diese beiden nichts von dem, was hier vor sich geht: „Warum weinst du?“, fragen sie Maria. Eine wahrhaft törichte Frage. Da steht eine Frau vor einem Grab und weint. Wie kann jemand bei diesem Anblick fragen: „Warum?“ Maria Magdalena ist einfach nur traurig. Und durch das leere Grab, das sie vor sich sieht, ist ihre Trauer nur um so größer geworden: Jesus ist seit zwei Tagen tot; und nun ist obendrein sein Leichnam verschwunden. Und jetzt hört sie zu allem Überfluß auch noch die zynische, die jedenfalls unnötige Frage: „Warum weinst du?“

Maria hätte diese Frage überhören können. Aber sie antwortet den beiden Fremden. Sie sagt noch einmal das, was sie schon den Jüngern gesagt hatte: „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“

Eine tapfere Antwort. Maria fürchtet nicht, die beiden Männer in den weißen Gewändern könnten womöglich etwas mit dem Verschwinden des Leichnams Jesu zu tun haben. Sie fürchtet nicht, sie könne sich mit ihren Worten womöglich verdächtig machen. Sie sagt, wie es ihr ums Herz ist. Sie weint, weil Jesus tot ist und weil nun jemand Jesu Leichnam gestohlen hat. Die beiden Fremden müssen doch einsehen, daß dies für sie wahrhaftig ein Grund zur Trauer ist.

In diesem Augenblick wendet Maria sich um. Hat sie unvermutet etwas gehört? Ist ein Schatten in das Grab gefallen? Hat sich die Öffnung des Grabes plötzlich verdunkelt? Maria wendet sich um und sieht einen Mann vor sich stehen. Der Evangelist schreibt: „Sie sieht Jesus; aber sie weiß nicht, daß es Jesus ist.“

Vielleicht haben Sie vor etwa zwei Wochen in den Zeitungen das Bild eines bärtigen, schwarzhaarigen Mannes gesehen. Das Bild Jesu – so wie es sich die britische Rundfunkgesellschaft BBC mit Hilfe von archäologischen Funden per Computer als Phantombild für einen Fernsehfilm hatte anfertigen lassen. Ein etwas düster dreinblickender, aber im Grunde ganz unauffälliger Mann. Tausende von Männern im Alter von etwa dreißig Jahren mögen damals in Palästina so ausgesehen haben. Jesus – ein Mann wie viele andere. Maria Magdalena sieht Jesus vor sich. Und sie denkt: Das wird wohl der Gärtner sein. Der Mann, der für die Pflege jener Gartenanlagen verantwortlich ist, wo sich das Grab befindet.

Und nun stellt auch dieser Gärtner dieselbe törichte Frage: „Frau, warum weinst du?“ Begreift denn keiner von diesen Männern, um was es hier geht? Da ist Jesus eines qualvollen, schrecklichen Todes am Kreuz gestorben. Da hat sich immerhin einer gefunden, ein Fremder, der für ein ordentliches Begräbnis sorgte. Und nun ist sie, Maria Magdalena, zwei Tage später zur Grabstätte gekommen und findet diese bereits geschändet. Das Grab ist leer. Offenbar gibt es Leute, die es nicht ertragen konnten, daß der Gekreuzigte ein anständiges Grab bekommen hatte.

Angesichts dessen weint Maria, und nun steht der Gärtner da und fragt, warum sie weint. Sieht er denn nicht, daß diese Frau jenem Mann, der in dem Grab hätte liegen müssen, sehr nahegestanden hatte? Kann er sich das nicht wenigstens denken?

Wahrhaftig, dieser Tote, dessen letzte Spuren nun von Grabräubern beseitigt worden waren, der Mann Jesus aus der Stadt Nazareth, war für Maria aus Magdala nicht irgendjemand gewesen. Die beiden hatten einander nahegestanden. Viel wissen wir allerdings nicht über die Beziehung zwischen dieser Frau und diesem Mann. Von Maria aus Magdala ist in den Evangelien vor allem im Zusammenhang des Berichts von der Hinrichtung Jesu die Rede. Johannes erzählt, sie habe gemeinsam mit der Mutter Jesu und dem Lieblingsjünger unter dem Kreuz gestanden; das ist die Szene, die manche von uns vielleicht vom Bild des Isenheimer Altars her kennen. Der Evangelist Lukas schreibt etwas mehr: Maria Magdalena, so weiß er zu berichten, habe zu jenen Frauen gehört, die Jesus schon auf seinen Wanderungen durch Galiläa begleiteten. Sie hatte zu denen gehört, die Jesus finanziell unterstützten – etwas, wovon sonst nirgendwo in den Evangelien gesprochen wird.

War da womöglich mehr gewesen zwischen Jesus und Maria Magdalena? Die spätere Legende macht aus der Frau aus Magdala „die große Sünderin“: Sie sei es gewesen, die nach dem Bericht des Lukasevangeliums Jesu Füße mit ihren Tränen gewaschen und dann mit ihren Haaren getrocknet habe. Aber nirgends steht, diese Frau sei Maria Magdalena gewesen. Nirgendwo in der Bibel steht, Maria sei eine große Sünderin gewesen. Sie habe gar – wie die Phantasie dann weiter gesponnen hat – als Prostituierte gearbeitet. Manche Romane und Filme wollen uns dies als Sensation verkaufen: Maria Magdalena als Dirne, der einzige Mensch, der angesichts des Todes Jesu offene Trauer zeigt, eine Hure. Aber nichts davon sagt uns die biblische Überlieferung. Maria Magdalena hatte zum engeren Kreis um Jesus gehört. Mehr war da nicht gewesen – freilich: Da war auch nicht weniger! Maria hat allen Grund, angesichts des leeren Grabes zu weinen.

Der Gärtner, dem Maria gegenübersteht, scheint von alldem nichts zu wissen. „Frau, warum weinst du?“, fragt er. „Wen suchst du?“ Jetzt ist Maria bei ihrer Antwort vorsichtiger. „Herr“ – so ehrerbietig redet sie den Gärtner an, man kann ja nie wissen. „Herr, wenn du ihn weggetragen hast“ – aus welchen Gründen auch immer dies geschehen sein mag – „dann sage mir doch, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen.“ Nur eine kurze Information möchte sie, sie bittet nicht um Hilfe. Sie wird es schon allein schaffen, Jesu Leichnam wieder in sein Grab zu bringen. So wäre sie in ihrer Trauer schon ein wenig getröstet.

Doch mit einem Mal wird alles anders. Nur ein Wort fällt. Nur ein Name wird ausgesprochen: „Maria!“ Der vorgebliche Gärtner spricht die Frau aus Magdala mit ihrem Namen an. Er weiß, wer sie ist. Und ebenso weiß Maria in diesem Augenblick, wer da vor ihr steht. „Rabbuni! Meister“, sagt sie. Wörtlich übersetzt: „Mein Großer, mein Lehrer!“

Mit diesem Ehrentitel ‚Rabbi!’ war Jesus des öfteren angesprochen worden, gerade im Johannesevangelium: Von seinen Jüngern, aber auch von Fremden. Sogar von Nikodemus, der doch zum Hohen Rat in Jerusalem gehörte.

„Rabbuni, Meister!“, sagt Maria. Freut sie sich darüber, daß Jesus wieder da ist? Meint sie, Jesus sei vielleicht gar nicht wirklich tot gewesen? Erwartet sie, daß er nun seine Tätigkeit als Lehrer und als Wundertäter wieder aufnehmen wird, nachdem ihm auf so wunderbare Weise das Leben wieder geschenkt worden war? Hofft Maria, daß nun alles wieder so sein wird, wie es in der Zeit vor Jesu Kreuzigung gewesen war?

Oft ist das ja unsere Antwort, wenn wir nach dem Sinn von Ostern gefragt werden. Jesus ist wieder lebendig geworden, sagen wir. Das Leben hat über den Tod gesiegt. Die Sache Jesu geht weiter.

Aber Jesus ist nicht einfach „wieder lebendig geworden“. Er ist nicht „wieder da“, als wäre nichts gewesen. Es ist nicht ein weiteres Wunder geschehen, vergleichbar der Auferweckung des Lazarus, der schon mehrere Tage im Grab gelegen hatte. Oder vergleichbar der Auferweckung jenes Jünglings, den man in Nain bereits zu Grabe trug. Nein, der Jesus, der jetzt als der Lebendige vor Maria steht und sie mit ihrem Namen anspricht, ist ein anderer geworden.

„Rühre mich nicht an“, sagt Jesus zu Maria. Vielleicht hatte sie ihn umfangen, ihn umarmen wollen. Vielleicht hatte sie ihn mit ihren Händen gleichsam festhalten wollen: „Bist du’s wirklich? Täuschen mich meine Augen nicht?“ Wie auch immer: Maria Magdalena ist jedenfalls glücklich.

Doch nun der Schock: „Rühre mich nicht an“, sagt Jesus zu ihr. Noli me tangere. Bleib mir vom Leib!

Was hat Maria von diesem Wiedersehen? Jesus ist ein Fremder geworden. Unnahbar. Unberührbar. Einer, der Abstand hält. Maria hätte allen Grund, abermals zu weinen.

Warum redet Jesus so? Warum handelt er so? „Rühre mich nicht an.“ Jesus gibt dafür eine seltsame Begründung: „Ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater.“ Seltsam. Wäre Jesus im Himmel, wäre er schon bei Gott – er wäre doch erst recht „unnahbar“. Er wäre so weit weg, wie man überhaupt nur weg sein kann.

Maria Magdalena, die an jenem ersten Ostertag vor dem Gartengrab in Jerusalem Jesus begegnet, ist in keiner besseren Lage ist als wir alle, als alle Christen bis zum heutigen Tage. Der von den Toten auferstandene Jesus läßt sich nicht berühren. Es gibt keinen Jesus „zum Anfassen“. Es gibt keinen Jesus, der fotografiert oder gefilmt werden könnte. Jesus hat sich uns entzogen. Wer ihn fassen, wer ihn ergreifen will, der bekommt zur Antwort: „Rühre mich nicht an.“

„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Diese Worte wird Jesus ein wenig später zum sogenannten ungläubigen Thomas sagen. Wir sollen auf die Botschaft von der Auferstehung hören, wir sollen den Worten Glauben schenken. Es gilt eben nicht: Ich glaube nur das, was ich sehe.

„Rühre mich nicht an.“ Ostern bedeutet also nicht, daß Jesus dort weiter macht, wo er ein paar Tage zuvor aufgehört hatte. Ostern bedeutet nicht, daß Jesu Sterben im Grunde nur eine zufällige, eine lästige Unterbrechung seines Lebens gewesen wäre. Nein, zu Ostern, in der Auferstehung Jesu, hat etwas grundlegend Neues begonnen. Nicht nur für Jesus selber, sondern auch für die, die zu Jesus gehören.

„Was nützt uns die Auferstehung Christi?“, so fragt der Heidelberger Katechismus in Frage 45. Und er antwortet: „Erstens: Christus hat durch seine Auferstehung den Tod überwunden, um uns an der Gerechtigkeit Anteil zu geben, die er uns durch seinen Tod erworben hat. Zweitens: Durch seine Kraft werden auch wir schon jetzt erweckt zu einem neuen Leben. Drittens: Die Auferstehung Christi ist uns ein verläßliches Pfand unserer seligen Auferstehung.“ Ostern, so sagt unser Katechismus, betrifft uns unmittelbar. Ostern eröffnet uns Zukunft und damit zugleich auch eine neue Gegenwart.

Das grundlegend Neue beginnt für Maria Magdalena mit einem Auftrag, den sie von Jesus erhält. Sie soll verkündigen. Sie soll eine Botschaft ausrichten. Die Botschaft von der Auferstehung Jesu. Maria Magdalena ist die erste Osterzeugin. Sie soll den Jüngern sagen, daß Jesus hinaufgeht zum Vater, daß er hingeht zu Gott. Im Grunde soll sie also den Jüngern sagen, daß Jesus nicht mehr da ist.

Aber hören wir genau hin: „Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater“, sagt Jesus. „Ich fahre auf zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ Jesu Worte sprechen von etwas ganz anderem als nur von einer Art Ortsveränderung. Jesus macht uns durch seine Worte zu seinen Geschwistern.

Gott als Vater, Jesus als Sohn – das ist uns vertraut, davon hören wir immer wieder, gerade im Johannesevangelium. Aber seit Ostern, seit Jesu Auferstehung gilt: Gott ist unser Vater, wir leben als Töchter und Söhne Gottes. Wir werden angesprochen als Schwestern und Brüder des von den Toten auferstandenen Jesus. Der Abstand zwischen Gott und uns, der Abstand zwischen Jesus und uns wird durch Ostern nicht etwa vergrößert, sondern er wird im Gegenteil eingeebnet.

Das ist die Botschaft, die Maria ausrichten soll. Ostern macht uns zu Geschwistern Jesu. Ostern macht uns zu Kindern Gottes. Scheinbar sieht es so aus, als entferne sich Jesus von uns: Jesus ist erhöht, wir dagegen bleiben, was wir schon immer waren.

Nein, sagt uns das Osterzeugnis des Johannesevangeliums: Gerade jetzt, gerade durch die Auferstehung Jesu, gehören wir wirklich, gehören wir ganz und gar zu Gott.

Maria Magdalena, so schildert es der Evangelist, begreift sofort, welchen Auftrag sie erhalten hat. Sie braucht keine weiteren Erläuterungen. Und der Evangelist braucht nicht zu sagen, was weiter mit Jesus geschieht. Wollten wir die erzählte Szene verfilmen, so gäbe es hier einen harten Schnitt: Jesus verläßt nicht die Szene, und sein Bild löst sich auch nicht langsam oder plötzlich auf. Nein – nach diesen Worten Jesu sähen wir ganz unvermittelt nur noch die Maria, die zu den Jüngern geht und ihnen sagt: „Ich habe den Herrn gesehen.“

„Ich habe den Herrn gesehen.“ Dieselben Worte verwendet Paulus, um den Christen in Korinth einen Beleg dafür zu geben, daß er – Paulus – sich zu Recht Apostel nennen darf. Vielleicht will uns der Evangelist Johannes dasselbe sagen: Maria Magdalena ist ein Apostel, sie ist eine Apostolin. Nicht Petrus ist der erste, der den Auferstandenen gesehen hat. Nein, Maria Magdalena ist es, eine Frau. Eine Frau, die im übrigen zwar unbekannt bleibt; von deren weiterem Wirken wir nichts wissen. Und die doch für das Johannesevangelium von größter Bedeutung ist.

Der Christusglaube, so lehrt uns Johannes, ist von Anfang an keine Männersache. Die christliche Kirche ist kein Verein, in dem die Männer das Sagen hätten und die Frauen allenfalls hören dürften. Nein, Maria Magdalena verkündigt: „Ich habe den Herrn gesehen.“ Nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums beginnt die christliche Botschaft, beginnt die Geschichte der Kirche mit der Predigt einer Frau.

„Ich habe den Herrn gesehen“, sagt Maria Magdalena. Vermutlich kann niemand unter uns dies von sich selber sagen. Aber Ostern heute, im Jahre 2001, bedeutet auch gar nicht, daß wir uns auf übernatürliche Erfahrungen und auf wunderbare Erlebnisse berufen müßten. Die Osterbotschaft, heute nicht anders als vor beinahe zweitausend Jahren, verspricht uns, daß wir nun Jesu Schwestern und Brüder, daß wir nun Gottes Söhne und Töchter geworden sind. Das ist heute wahrhaftig ein Grund zu sagen: Fröhliche Ostern.

Amen.

Exegetische und homiletische Vorentscheidungen

Unabhängig von allen differenzierteren literarkritischen Hypothesen kann für die Predigt die literarische Einheitlichkeit des Johannesevangeliums vorausgesetzt werden; allerdings halte ich es für überwiegend wahrscheinlich, daß Joh 21 ein späterer Nachtrag ist, so daß für das „ursprüngliche“ Evangelium Joh 20,30f. im Anschluß an 20,19-29 als der vom Evangelisten gewollte Schluß gelten kann.

Unabhängig von liturgischen Vorgaben scheint es mir sinnvoll zu sein, die johanneische Ostererzählung als Einheit zu nehmen, d.h. als Lesung sollte jedenfalls Joh 20,1-10 vorangehen. Die Predigt knüpft jedenfalls an die johanneische Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes an.

Prof. Dr. Andreas Lindemann, Bethel
E-Mail: Lindemann.Bethel@t-online.de


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