Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Ostermontag, 16. April 2001
Predigt über Jesaja 25, 8- 9, verfaßt von Reinhard Brandt

Lesung: Jes. 25,8 - 9

"Er wird den Tod verschlingen auf ewig. Und Gott der HERR wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen und wird aufheben die Schmach seines Volks in allen Landen; denn der HERR hat’s gesagt. Zu der Zeit wird man sagen: »Siehe, das ist unser Gott, auf den wir hofften, daß er uns helfe. Das ist der HERR, auf den wir hofften; laßt uns jubeln und fröhlich sein über sein Heil."

Liebe Gemeinde,

ich lade Sie ein, sich in einen gelehrten Propheten hineinzuversetzen; vielleicht 400 oder 500 Jahre vor Christi Geburt.

Allerdings: So genau lassen sich die Zeit und die Verhältnisse nicht bestimmen, in denen dieser Prophet gelebt hat. Es ist eine Zeit der Bedrückung und der Not, aber eher eine allgemeine Bedrückung als ein konkreter Vorfall, Krieg oder Verfolgung oder die identifizierbare Zerstörung einer Stadt.

Der Prophet selbst spricht von der „Schmach seines Volks in allen Landen“. Das Volk, zu dem er spricht, lebt offenkundig zerstreut in der Diaspora, nicht im Lande Israel, sondern nach Vertreibung und Flucht an verschiedenen Orten. Manche haben sich wohl auf die Rückwanderung in die alte Heimat gemacht, ohne je dort angekommen zu sein. Sie leben in „allen Landen“.

Man kann nicht gerade von massiver Unterdrückung sprechen, obwohl es natürlich eine Fremdherrschaft ist, unter der das Volk leben muß. Politische Gestaltungsmöglichkeiten gibt es kaum; man ist vielmehr der Spielball fremder Interessen. Man lebt knapp, im Schatten militärischer Macht, in wirtschaftlich schwieriger Zeit. Anlaß zu Tränen und zu Wut gibt es immer wieder, aber auch nicht durchgängig.

Man hat sich eingerichtet, doch das Leben ist banal und durchschnittlich. Es ist schal geworden wie am Ende eines Festes, das zu lange gedauert hat. „Man klagt um den Wein auf den Gassen, daß alle Freude weg ist, alle Wonne des Landes dahin ist.“ [Jes. 24,11] „Die Freude der Pauken ist vorüber, das Jauchzen der Fröhlichen ist aus, und die Freude der Harfe hat ein Ende. Man singt nicht beim Weintrinken, und das Getränk ist bitter denen, die es trinken.“[Jes. 24,8-9]

Gar nicht zu denken ist, daß sich das öffentliche Leben an Gottes Willen ausrichten würde oder auch nur könnte. In einem Leben unter fremden Herren hat es kaum noch Bedeutung, wenn man sich auf den Herrn beruft, den Gott Israels. Daß Gott es ist, der das Volk führt, das ist schon lange kein Thema mehr. Gott ist nicht mehr wichtig, weil anderes wichtiger ist. Die religiöse Tradition ist in den Hintergrund getreten. Es ist nicht mehr selbstverständlich, aus dem Glauben heraus zu leben.

Wie die Lage insgesamt ist, kann man am besten in einem Bild beschreiben: „Denn so geht es zu auf Erden und unter den Völkern, wie wenn ein Ölbaum leergeschlagen wird, wie bei der Nachlese, wenn die Weinernte aus ist.“ [Jes. 24,13] Wer weiß, wie zerfleddert ein Baum nach der Olivenernte aussieht oder wie abgerupft ein Kirschbaum nach dem Kirschenreißen, der kann sich in die Lage hineinversetzen, damals und zu verschiedenen Zeiten immer wieder.

Der Prophet ist zunächst ein wacher Zeitgenosse. Er lebt unter den Leuten, er beobachtet, er leidet mit. Er erlebt, wie von Gott keine Rede mehr ist. Wie kann ich zu diesen Leuten von Gott sprechen? Was ist die rechte Botschaft für diese Zeit? Wie kann ich heute von Gottes Herrschaft sprechen? Wie erreiche ich die Leute überhaupt noch mit der Botschaft von Gott?

Der Prophet sinnt und überlegt lange, er sucht in den Schriften, ohne wirklich die Antwort zu finden. Er muß in ganz neuer Weise von Gottes Herrschaft sprechen, in neuen Formen und Bilder. Er muß Gottes Herrschaft als Umsturz verkünden, als Umsturz der Mächte der Entfremdung. Ein Umsturz, der auch die fremden Völker einbezieht, der der ganzen Welt gilt. Vor seinem inneren Auge steigen Bilder auf, die ihm gewiß werden: So, ja so kommt Gottes Herrschaft!

So verkündet und weissagt der Prophet [Jes. 24,21-23. 25,6-10a]:(1)
„An jenem Tag wird’s geschehen, da wird der Herr das Heer der Höhe heimsuchen in der Höhe und die Könige der Erde auf der Erde,“

Die Heimsuchung gilt nicht nur dem Volk Israel, sondern aller Welt: den Königen auf Erden; und allen Mächten auf der Erde und in der Höhe. Gott wird sie zur Rechenschaft ziehen an jedem Ort, an dem sie ihre Macht ausüben. Gott kommt ihnen zum Gericht: Sie werden eingesperrt, „daß sie gesammelt werden, wie man Gefangene in eine Grube sperrt, und im Kerker unter Verschluß gehalten und nach langer Zeit zur Verantwortung gezogen werden.“

Wie diese Herrschaft Gottes sich über das ganze Universum erstreckt, wird im nächsten Vers beschrieben: Sogar die Sterne verlieren ihren Glanz gegenüber der Herrlichkeit des Herrn. Und gegenüber seiner Herrschaft sind die Machtansprüche der Sternzeichen so lächerlich, daß man schamrot und bleich zugleich werden kann:
„Und der Mond wird rot werden vor Scham und die Sonne bleich vor Schmach, denn der Herr der Heerscharen wird König geworden sein auf dem Berg Zion und zu Jerusalem, und vor seinen Ältesten ist Herrlichkeit.“

In verschiedenen Bildern spricht der Prophet von Gottes Herrschaft. Das Bild von den Völkern auf dem Berg haben schon andere vor ihm gebraucht. Das vom Gastmahl Gottes auf dem Berg stammt von ihm selbst:
"Und der Herr der Heerscharen wird auf diesem Berge allen Völkern ein Mahl mit fetten Speisen machen, ein Mahl mit reinen Weinen, mit markigen, fettigen Speisen, mit alten Weinen, in denen keine Hefe ist.
Und er wird auf diesem Berge vernichten die Hülle, mit der das Angesicht aller Völker verhüllt ist, und die Decke, die zugedeckt ist über die Nationen allesamt.“

Das Angesicht zu verhüllen, das ist das Zeichen von Trauer und Schmerz. Trauernde Frauen tragen einen Schleier. Es ist der Wunsch, Distanz zu halten, zugleich der Wunsch, sich zu schützen vor dem Elend. Das verhüllte Haupt ist zugleich ein Zeichen für die Schuld: Wer schuldig ist auf Erden, der verhüllt sein Haupt. So ist der Schleier das Symbol dafür, wie Menschen umgehen mit dem Elend, das ihnen widerfährt und das sie selbst verursachen.

Das Heil bricht an, wenn der Schleier nicht mehr nötig ist; wenn ich mich nicht mehr schützen und nicht mehr abschließen muß. Das Heil bricht an, wenn Gott den Schleier wegnimmt. Auch mit diesem Bild beschreibt der Prophet, wie Gottes Heilshandeln sich nicht einschränken läßt, sondern alle Völker einbezieht: Das Heil bricht an, wenn der Herr die Hülle vernichtet, mit der das Angesicht aller Völker verhüllt ist.

Das nächste Bild knüpft daran an. Es bezieht das Volk Israel in seiner Zerstreuung ein, reicht als Ansage des Heils aber weit darüber hinaus:
„Und Gott der Herr wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen und wird aufheben die Schmach seines Volks in allen Landen; denn der Herr hat’s gesagt."

Ein großartiges Bild, wie Gott sich beugt und die Tränen aus dem Gesicht wischt. Die Tränen sind erlaubt, sie werden nicht durch Durchhalteparolen unterdrückt, sie dürfen fließen, aber sie werden abgewischt. Gott wischt die Tränen ab. Das Bild für das Heil schlechthin.

Und doch, später, als der Prophet diese Verse wieder las, oder es war einer seiner Schüler, da genügten sie ihm immer noch nicht. Das Heil ist noch umfassender. Nicht nur die Tränen wird Gott abwischen, sondern alle Gottesferne wird er aufheben: den Tod! Den einen Tod, der uns endgültig auseinander reißt; und zugleich die tausend Tode, wenn in den Menschen das Vertrauen, die Hoffnung, die Freude, der Glaube stirbt. Und so fügt der Prophet noch eine Zeile ein: „Und der Herr wird den Tod verschlingen auf ewig.“

Der Ausdruck, den der Prophet wählt, ist der stärkste, den man nur denken kann: Der Tod wird verschlungen. Wenn sich die Erde auftut bei einem Erdbeben oder Erdrutsch, dann verschlingt sie Haus und Hof, dann ist nichts mehr davon übrig, alles ist vom Erdboden verschwunden. Wenn der Meeressturm ein Schiff verschlingt, dann ist die Vernichtung vollständig. Wenn der Tod den Menschen verschlingt, dann ist dies endgültig.

Dies ist die Vorstellung, die der Prophet hier entwickelt und verkündet: Eben so endgültig wird der Tod verschlungen sein, er wird seine Macht verloren haben, nichts mehr davon ist übrig. Wenn Gott herrscht, dann ist seine Herrschaft vollständig, nichts anderes gegen ihn bleibt übrig auf dem Erdboden.

Weil dies Anlaß zum Jubel ist, fügt der Prophet einen Vers zum Lobpreis an:
„Zu der Zeit wird man sagen: »Siehe, das ist unser Gott, auf den wir hofften, daß er uns helfe. Das ist der HERR, auf den wir hofften; laßt uns jubeln und fröhlich sein über sein Heil.“

Weil es wirklich hinreichend Anlaß gibt, realistisch als Zeitgenossen die Welt zu betrachten, und weil es Anlaß zum Jubel und zur Freude gibt, möchte ich mit Ihnen gerne singen: „Es war ein wunderlich Krieg, da Tod und Leben ’rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen.

Lied 101, Strophen 2 und 4(2)

Und Ostern? Und der Ostermontag im Jahr 2001?
An dem Prophetenspruch aus dem Buch Jesaja können wir studieren, wie die ersten Christen gelebt und gedacht haben. Sie kannten ihre „Schriften“ und lebten mit ihnen. Ihren Glauben und ihre Hoffnungen drückten sie in den Bildern aus, die ihnen aus ihrer Überlieferung vertraut waren. Und zugleich bezogen sie das, was sie aus der Tradition ihres Volkes gelernt hatten, auf die Erfahrungen, die sie in der Begegnung mit dem Auferstandenen gemacht haben.

So kannten die ersten Christen auch jenen Verheißung aus dem Buch Jesaja. Das Bild vom Gastmahl greifen die Evangelisten an verschiedenen Stellen auf und berichten, wie Jesus das Reich Gottes mit einem Gastmahl, einer Hochzeit verglichen hat. Daß Gott alle Tränen von ihren Augen abwischen wird, dies ist auch die Hoffnung der Christen. In der Offenbarung des Johannes werden die Worte des Propheten aufgenommen, um so das Heil bei Gott zu beschreiben und zuzusprechen: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“

Vor allem aber hat der Apostel Paulus als guter Kenner der Tradition seines Volkes den Propheten gekannt. Er zitiert ihn ausdrücklich, und zwar dort, wo er reflektiert, was Jesu Auferstehung bedeutet.

Im 1. Korintherbrief berichtet Paulus knapp zusammengefaßt über die Osterereignisse: Christus ist gestorben für unsre Sünden, er ist begraben worden, er ist auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift und gesehen worden von Kephas, danach von den Zwölfen, danach von vielen anderen.

Was bedeutet dies? Was bedeutet es für die Christen in Korinth und was für die Christen aller Zeiten? Paulus entfaltet das Auferstehungszeugnis nach verschiedenen Seiten. Wie Christus auferstanden ist, so werden auch wir auferstehen; und die, die zu jener Zeit am Leben sind, die werden verwandelt werden: „und das plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune erschallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden. Denn dies Verwesliche muß anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche muß anziehen die Unsterblichkeit.“

Dies ist die endgültige Erfüllung der Heilsverheißung, die Vollendung des Geschehens, das mit der Auferstehung Christi begonnen hat. Um dieses anzuzeigen, zitiert Paulus den Spruch aus dem Jesaja-Buch: „Dann wird erfüllt werden das Wort, das geschrieben steht: »Der Tod ist verschlungen vom Sieg. ...« Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unsern Herrn Jesus Christus!“ Christi Auferstehung und das Heilsgeschehen, das damit beginnt, das ist die Erfüllung der Weissagung des Propheten: „Er wird den Tod verschlingen auf ewig.“

So leitet uns die Weissagung des Propheten aus dem Alten Testament zur Erfüllung in der Auferstehung Christi. Umgekehrt gewinnt unser Nachdenken über die Auferstehung an Tiefe, wenn wir jene Erfahrungen einbeziehen, die der Prophet in seiner Zeit gemacht hat.

Die Tränen, die geweint werden aus Schmerz und aus Trauer, auch die Tränen, die aus Wut und Scham geweint werden, die wird Gott abwischen. Gott wird den Schleier wegnehmen, mit dem wir uns abgrenzen. Es wird ein reiches Fest geben. Und den Tod: Gott der Herr wird den Tod verschlingen auf ewig. Christus ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Lied 101, 1.3.4-7

Dekan Dr. Reinhard Brandt, Pfarrgasse 5, 91781 Weißenburg (Bay.)
'E-Mail: dekan@st-andreaskirche.de

(1)
Übersetzung teilweise nach Hans Wildberger: Jesaja. Teilbd. 2. Jesaja 13-27 (BK AT X/2). Neukirchen-Vluyn 1978. Durch die Einbeziehung der ganzen Weissagung werden die exegetischen und systematischen Probleme vermieden, die sich sonst aus Abgrenzung des Predigttextes ergeben.

(2)
EG 101 ist das Graduallied für den Ostermontag. Wegen seiner engen Berührung mit dem Predigttext bietet es sich an, in diesem Fall das Lied in die Predigt mit einzubeziehen.


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