Jubilate, 6. Mai 2001
Predigt über 1. Mose 1,1-2,4a, verfaßt von Christoph Müller

(Ich gehe davon aus, dass der ganze Text als Predigttext gelesen wird (es ist ja kein schwer lesbarer und überlanger Text - und dazu beeindruckend rhythmisch-poetisch), und dass keine Textverschnitt-Willkür befolgt wird))

Liebe Gemeinde,

Ein Kind erwacht –
von schweren Träumen aufgeschreckt.
Es findet sich allein in seinem Zimmer,
von nächtlicher Finsternis umgeben, ungreifbarer Angst ausgeliefert.
Die vertrauten Umrisse der Wirklichkeit sind verwischt,
unsichtbar,
im Dunkel.
Chaos will hereinbrechen.

Das Kind ruft nach seiner Mutter, seinem Vater.
Wenn sie kommen,
das Kind in die Arme nehmen und sagen:
"Ich bin bei Dir, hab keine Angst, alles wird wieder gut".
Was tut die Mutter da?
Was tut der Vater?
Wird wirklich alles wieder gut?
Oder wird, so fragt P.L.Berger in seinem anrührenden Buch "Auf den Spuren der Engel",
wird das Kind belogen?

Wer schon ein erschrecktes Kind getröstet hat,
oder wer selber (und nicht nur als Kind) so getröstet worden ist, spürt:
gelogen ist es nicht.
Wenn die Nähe des anderen Menschen spürbar wird,
wenn ich sein mir zugewandtes Gesicht sehe,
wenn dieser Mensch mir sagt:
"Ich bin bei Dir, hab keine Angst, alles wird wieder gut":
es ist keine Lüge,
es ist eine Hoffnung, die jetzt, wenigstens für einen Augenblick, Wirklichkeit ist.
Die Finsternis ist nicht mehr übermächtig,
die Angst nicht mehr so erdrückend.
Allerdings:
Das, was mich bedroht hat, ist nicht einfach nichts mehr.
Die Angst ist nicht völlig ausgelöscht.
Ich brauche die Nähe,
bin auf die tröstende Zuwendung angewiesen, die mich schützt und wie ein warmer Mantel umfängt.

Es ist eine elementare Segensgeste,
auch wenn sie nicht als solche bewusst wird.
Der Trost, den der Vater oder die Mutter dem Kind geben,
die Zuwendung, von der ich auch als Erwachsener immer wieder lebe,
die Erfahrung, vom Bedrohlichen nicht völlig überwältigt
und von der Angst nicht erdrückt zu werden,
weisen über die Zufälligkeit der Situation hinaus.
Es ist jetzt so:
Jetzt kann die Finsternis nicht alles aulöschen –
Und wenn es jetzt so ist:
weist dies nicht auf eine Hoffnung hin –
und gibt es nicht eine Realität zu spüren,
die umfasst und trägt,
über den Augenblick hinaus?
Kann diese Erfahrung und diese Hoffnung nicht dazu verhelfen, die Finsternis einzugrenzen und durchzustehen?

Die Finsternis ist ja nicht eine leere Einbildung.
Das Kind, das aus schweren Träumen erwacht,
hat sie nicht erfunden.
Das Gespenst oder die Monster, die plötzlich im Zimmer herumzuschleichen scheinen,
sind Figuren der Fantasie –
aber Hirngespinste sind es nicht.
Das Kind lebt nicht blind,
es beobachtet, spürt, nimmt wahr.
Es weiss von Kriegen und Zerstörung,
es hat ein Kamerädlein, das auf der Strasse lebensgefährlich verletzt worden ist.
Es hat die Bilder von ölverklebten Wasservögeln gesehen, die jämmerlich umgekommen sind.
Es hat Geschichten gehört, die es vielleicht nicht ganz verstanden,
von denen es wohl aber sehr genau gespürt hat:
es ist schlimm, beängstigend, bedrohlich.

Erwachsene haben oft Techniken entwickelt, um nicht mehr wahrnehmen,
nicht mehr sehen, nicht mehr spüren
und nicht mehr erschrecken zu müssen.
Aber der Panzer solcher Empfindungslosigkeit bricht oft ein,
wenn wir selber unmittelbar bedroht sind oder getroffen werden:
durch Unfall, Krankheit, vergiftende Mobbing-Erfahrungen;
oder auch durch eine schleichende Bedrückung, das immer lähmendere Gefühl,
einer Aufgabe nicht mehr gewachsen zu sein.

***

Solche bedrohlichen Erfahrungen bekommen eine Gestalt in Bildern und Geschichten.
Uralt sind die Bilder, wie sie zum Beispiel in Psalmen begegnen:
Mich umgeben mächtige Stiere,
die Riesen von Basan umringen mich.
Sie reissen ihre Rachen gegen mich auf,
Löwen, reissend und brüllend (Ps 22,13f).
Oder:
Das Wasser geht mir bis an die Kehle,
ich versinke im Schlamm, wo kein Grund ist (69,2f).

Auch in der Erzählung der einen Schöpfungsgeschichte
(wie wir sie in dem verlesenen Text am Anfang der Bibel finden)
ist diese Erfahrung in starken Bildern ausgedrückt:
in Bildern des bedrohlichen Chaos,
der Urflut, des Tohuwabohu – des Wüsten und Wirren,
die Erfahrung der Finsternis.

Ihr wird das Licht entgegengesetzt.
Die Finsternis ist dadurch nicht verleugnet, nicht verdrängt,
so wenig wie das Tohuwabohu ignoriert wird.
Aber die Finsternis ist nicht mehr allmächtig.
Es gibt nicht nur die Finsternis, es werden ihr Grenzen gesetzt:
"Gott sprach", so wird erzählt, "Gott sprach:
Es werde Licht. Und es wurde Licht.
Gott sah, dass das Licht gut war.
Gott schied das Licht von der Finsternis,
und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht."
Entgegen der totalen Verunsicherung
Gibt es die Erfahrung des Lichts,
eine ordnende, die Finsternis einschränkende Kraft.
Und es zeigt sich, dass das Licht gut ist,
schön.

Und es wird weitererzählt,
in elementaren Bildern des Lebens und des Lebendigen,
von dem, was Leben wärmt und ihm den Rhythmus schenkt,
von Unterscheidungen, die Leben ermöglichen und schützen,
von mannigfaltigen Pflanzen und Früchten,
von Werden und Neuwerden und Vergehen.
Und es wird auch von den vielerlei Tieren erzählt,
von Vögeln, von Wassertieren, von Landtieren.
Schliesslich auch vom Menschen.
Nicht vom Mann,
sondern von der Menschheit, von Menschenwesen,
Beziehungswesen von Anfang an,
männlich und weiblich,
ohne dass diese Unterschiede an irgendwelchen Eigenschaften festgemacht würden.

Hier heisst es dann: "Es war sehr gut".
Die Herrschaftsverhältnisse: Über- und Unterordnung, gehören nicht zu diesem "sehr gut".
Sie sind, so wird später erzählt,
handgreifliche Anzeichen von Rissen in der Schöpfung,
gewalttätiger Ausdruck dessen, was biblische Texte als Fluch bezeichnen,
Signal dafür, dass "der Mensch die eigentliche Schwachstelle der Schöpfung" ist (K.Marti)

Das "Sehr gut", die Würde der Menschenwesen zeigt sich trotz dieser Risse und Gewalttätigkeit darin,
dass diese Menschenwesen, Beziehungswesen von Anfang an,
eine göttliche Aufgabe übernehmen können:
irdische Repräsentanten, Stellvertreter des Göttlichen auf Erden zu sein:
"Abbild Gottes, ihm ähnlich".
In Ägypten war dies nur der König.
In der Geschichte am Anfang der Bibel eignet diese Würde jedem Menschenwesen.
Menschen sind Abbild Gottes darin, dass ihnen die Würde und die Aufgabe zukommt, Leben zu ermöglichen und zu schützen,
lebenswichtige Unterscheidungen nicht zu verwischen,
das, was Leben bedroht, in seine Grenzen zu verweisen.

***

Biblische Texte (z.B. Psalmen, aus denen ich eben zitierte, wie auch der Predigttext) brauchen dabei Bilder einer Welt,
in der die Natur für Menschen höchst bedrohlich werden kann:
tiefer Schlamm, wilde Tiere,die Finsternis, die Urflut -
Naturgewalten, die übemächtig erscheinen.
Und so beschreibt die Schöpfungsgeschichte die Aufgaben des Menschen nicht nur als Hegen und Pflegen,
sondern als oft auch gewaltsames Eingreifen, als Unterwerfen.
Und Menschen können nur überleben, wenn sie fruchtbar sind, sich mehren,
wenn Kinder geboren werden, die solches Überleben sichern werden.

Diese Erfahrung von Natur-Gewalt,
die Erfahrung, von Naturgewalten bedroht zu werden,
ist uns heutigen WesteuropäerInnen nicht völlig fremd geworden.
Aber die schlimmsten Bedrohungen sind nicht mehr die wilden Tiere und die Zerstörungen durch Naturgewalten,
sondern die Verwüstungen und Zerstörungen, die von M e n s c h e n s e l be r angerichtet werden.
Nicht mehr sind dunkle Mächte der Natur für den Menschen d e r Feind,
vielmehr sind Menschen Feinde der Natur geworden –
und ihre Zerstörung schlägt auf die Menschheit zurück.

Das ist nun freilich viel zu allgemein ausgedrückt,
klingt nach blindem Schicksal.
Dieser Eindruck ist nicht zufällig, ist doch das Bedrohliche oft in der Tat gesichtslos geworden,
anonym,
wie eine völlig ungreifbare Macht.

Aber die ölverschmierten Vögel, von denen das Kind geträumt hat, sind nicht von einem blinden Schicksal getroffen worden.
Es war ein fahrlässig gewarteter Tanker, ungenügend ausgerüstet, konkurrenziert von anderen Tanker-Firmen, in denen es primär um den grösstmöglichen Profit geht.
Und das Kamerädlein ist nicht vom Schicksal angefahren worden,
sondern von einem Fahrzeuglenker, der viel zu rasch fuhr.

Wie steht es also um die Menschen als "Ebenbilder Gottes", wenn sie die Schöpfung zerstören und zur gefährlichsten Bedrohung geworden sind?
Wie steht es um die Begrenzung der Finsternis, von der die Schöpfungsgeschichte erzählt?

***

Im Predigttext, von der wir ausgegangen sind, wird am Schluss vom Ruhetag erzählt.
Der Feiertag, der Ruhetag, der Tag Gottes ist nach dieser Erzählung K r o n e der Schöpfung.
Und nun auch, angesichts der Risse und der Zerstörungen in der Welt: H o f f n u n g s - Zeichen der Schöpfung,
Tag des Lichts gegen die Finsternis,
Eingrenzung des Wüsten und Wirren,
Unterbrechung des Bedrohlichen.
Diese Ruhe ist zunächst bei Gott, erzählt die Geschichte.
Aber ein Stück jener Ruhe Gottes wird für den Menschen erfahrbar im Sabbat, indem an diesem Tag jede menschliche Arbeit, und das heisst jeder menschliche Eingriff in die Natur, unterbleibt.
Dass solche menschlichen Eingriffe in die Natur unterbleiben,
ist eine der wichtigsten Funktionen der jüdischen Sabbatgebote.
Zugleich ist der Sabbat Zeit der Erinnerung, das Eingedenken der Befreiung aus dem Sklavenhaus, wie es in der Einleitung zu den zehn Geboten heisst.
So ist der Sabbat auch Protest gegen die Geschichte der Gewalt,
der Gewalt gegen die Natur und gegen den Menschen,
Protest vor allem dagegen, dass es "immer so weitergeht" (J.Ebach).

Die Evangelisten erzählen, wie Jesus am Sabbat Menschen heilte.
Lukas (13,10-17) berichtet von einer Frau, schwer krank seit achtzehn Jahren,
verkrümmt und nicht mehr fähig, aufrecht zugehen.
Jesus legt ihr die Hände auf – und sie richtet sich auf und preist Gott.
Sie ist nicht dazu verdammt, dass es immer so weitergeht,
dass sie für immer krumm bleiben muss.

Es ist eine Hoffnungs-Geschichte gegen die Finsternis,
eine Sabbatgeschichte, wie sie auch für viele jüdische und nichtjüdische ZuhörerInnen erhellend wurde:
Ja, so ist der Sabbat gemeint:
als Unterbrechung hoffnungsloser Abläufe:
und es muss nicht immer so weitergehen –
auch wenn es Menschen gibt, die sich nicht vorstellen können, dass das Göttliche ihnen so begegnen könnte:
als Licht gegen die Finsternis,
als Unterbrechung hoffnungsloser Abläufe.

***

Wird alles wieder gut?
Wenn die Mutter, der Vater, das Kind in die Arme nehmen und es trösten,
wenn sie den Schrecken unterbrechen,
ist es wie ein Sabbat-Augenblick,
ein Aufleuchten der guten Schöpfung,
des ursprünglichen Segens,
von dem die Bibel auf ihrer ersten Seite erzählt.

Menschen erfahren darin etwas von ihrer unverlierbaren Würde,
ihrer Gottebenbildlichkeit.
Die Finsternis ist nicht verleugnet, auch nicht im Bereich des Göttlichen.
Auch nicht die von Menschen selber hervorgebrachte.
Aber Menschen sind nicht dazu verdammt, das Wirre und Wüste wuchern zu lassen.
Sie sind nicht dazu verdammt, Handlanger der Finsternis zu sein.

Sie können in Sabbat-Augenblicken entdecken,
dass sie die Würde nicht verloren haben, das, was Leben bedroht, in seine Grenzen zu verweisen.
Sie können entdecken, dass diese Finsternis nicht allmächtig ist,
und dass sie an der Begrenzung der Finsternis mitwirken können.
.
"Die Erde aber war wüst und wirr: tohuwabohu,
Finsternis lag über der Urflut ...
Gott sprach:
Es werde Licht. Und es wurde Licht.
Gott sah, dass das Licht gut war.
Gott schied das Licht von der Finsternis"

Amen

Prof. Dr. Christoph Müller
Dekan der Evang.-theol.Fakultät
Universität Bern
Länggassstrasse 51
CH 3000 Bern 9
Tel.: ++41 (0)31 631 80 45
Fax: ++41 (0)31 631 48 33
E-mail: christoph.mueller@theol.unibe.ch

http://www.cx.unibe.ch/theol/evang/dekan.htm


Für meine Erarbeitung dieser Predigt wichtige Literatur:

Berger, Peter L. (1970): Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt.
Crüsemann, Frank (1978): "...er aber soll dein Herr sein" (Genesis 3, 16). Die Frau in der patriarchalischen Welt des Alten Testamentes, in: F.Crüsemann/ H.Thyen: Als Mann und Frau geschaffen. Exegetische Studien zur Rolle der Frau, Gelnhausen/ Berlin/ Stein, 13-106.
Ebach, Jürgen (1986): Ursprung und Ziel. Erinnerte Zukunft und erhoffte Vergangenheit. Biblische Exegesen, Reflexionen, Geschichten, Neukirchen-Vluyn.
Ebach, Jürgen (1996): Streiten mit Gott. Das Buch Hiob. Teil 2. Hiob 21-42, Neukirchen-Vluyn.
Görg, Manfred (1987): Das Menschenbild der Priesterschrift, in: Bibel und Kirche 42, 21-29.
Marti, Kurt (2000): Aber der Mensch... Ein Gespräch, in: ZeitSchrift 49, 324-329.
Weippert, Manfred (1998): Tier und Mensch in einer menschenarmen Welt. Zum sog. dominium terrae in Genesis 1, in: H.-P. Mathys, H.-P. (Hrsg., 1998): Ebenbild Gottes - Herrscher über die Welt. Studien zu Würde und Auftrag des Menschen (Biblisch-theologische Studien 33), Neukirchen-Vluyn, 35-55.