Kantate, 13. Mai 2001
Predigt über Jesaja 12,1-6, verfaßt von Paul Kluge

Liebe Geschwister,

nach dem Sonntag "Jubilate", der zum Lob Gottes auffordert, und vor dem Sonntag "Rogate", betet, ist der heutige vierte Sonntag nach Ostern der Kirchenmusik gewidmet: "Kantate", singet. Dem entsprechend werden die Predigttexte ausgesucht, für heute das zwölfte Kapitel des Jesajabuches: ...........

Wie mag dieses Lied entstanden sein? Ich kann mir vorstellen, daß es so gewesen sein könnte:

Jesaja hatte es schwer mit seinem Auftrag, sein Volk zur Buße, zur Umkehr, zur Einsicht zu rufen. Seine Warnungen stießen auf taube Ohren, er wurde beschimpft und verhöhnt, ihm wurde gedroht. Als er - wieder einmal - mit seinem Latein am Ende war, beriet er sich - wieder einmal - mit seinen wenigen Freunden. Doch die hatten - wieder einmal - nur Allgemeinplätze abgesondert und Sprüche geklopft. Das half ihm gar nicht, zeigte ihm bestenfalls, daß sie genau so ratlos waren wie er - und schlimmstenfalls, daß sie seine Probleme entweder nicht verstanden oder nicht ernst nahmen. Beides schmerzte ihn, und so verließ er die Runde plötzlich und grußlos.

Er schlug den Weg zu einer Prophetin ein, mit ihr hatte er einen Sohn. Als er eintrat, ahnte die Frau gleich, was los war. Sie bereitete ihm ein Essen, danach setzte sie sich mit einem Krug Wein zu ihm. Wartete, bis er etwas sagte, und das dauerte. Als er schließlich seine Freunde erwähnte, die er getroffen hatte, wurde die Ahnung der Frau zur Gewißheit: Jesaja war mal wieder am Ende, wußte nicht weiter, wollte nicht mehr. Das gefiel ihr gar nicht, denn meistens brauchte es Tage, bis er sich wieder aufraffte. In diesen Tagen war er nur schwer zu ertragen, und meistens blieb er dann bei ihr.

"Niemand will meine Warnungen hören!" seufzte er schließlich, "nicht einmal der König. Obwohl der die Gefahr genau sieht, die uns bedroht. Wenn wir so weitermachen, ist es bald zu Ende, es kann so nicht weitergehen. Wir müssen radikal umdenken, wenn unsre Kinder und Kindeskinder hier noch leben sollen. Eigentlich wissen das ja alle, bis auf ein paar Ignoranten. Aber keiner schert sich darum. Alle machen unbekümmert weiter. Arbeiten dadurch am eigenen Untergang mit. Das kann doch nicht wahr sein!"

Er nahm einen tiefen Schluck Wein und schwieg. "Leider ist es wahr, Jesaja," sagte die Frau, "die Menschen sind so. Und weißt du, warum? Gerade, weil sie Angst haben, gerade, weil sie wissen: Du hast Recht. Aber die verdrängen ihre Angst, weil Angst lähmt. Sie könnten nicht mehr leben, wenn sie der Bedrohung ins Auge sähen. Und genau das versuchst du: Du zeigst den Kaninchen die Schlange."

"Ja, beschimpf’ mich nur," stöhnte Jesaja, "wer am Boden liegt, laßt sich gut schlagen." Für einen Moment wurde die Frau zornig, hätte ihm am liebsten gesagt, daß er auch nicht anders sei als die anderen, und ihn dann nach Hause geschickt. Aber sie beherrschte sich, sagte ihm, daß seine Predigten in der Sache richtig seien. "Und was ist falsch daran?" fragte Jesaja auffahrend. Nun nahm auch die Prophetin einen Schluck Wein, sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Wenn sie ihm helfen wollte, mußte sie vorsichtig formulieren, was sie ihm sagen wollte. Darum nahm sie noch einen langsamen Schluck, dann fragte sie: "Sag mal, was machst du, wenn du Angst hast?" Jesaja zögerte mit der Antwort, bevor er mit einem verlegenen Lacher gestand: "Als Kind habe ich immer gesungen. Oder meine Mutter hat mir etwas vorgesungen. Singen macht mutig, sagte sie immer. Und wenn die Angst vorbei war, habe ich vor Freude weiter gesungen." - "Und heute, was machst du heute?" wollte die Prophetin wissen, doch Jesaja wußte es nicht. "Du singst nicht mehr," stellte sie fest, "du machst dir selber keinen Mut, und also den Leuten auch nicht. Singe wieder, Jesaja, wie du es als Kind getan hast, singe tröstende Lieder, und du wirst getröstet, singe fröhliche Lieder, und du wirst fröhlich, singe Mut-mach-Lieder, und du wirst mutig. Und sing mit den Leuten, steck sie an mit deinen Liedern." - "Aber -," wand Jesaja ein, doch die Frau unterbrach ihn: "Kein Aber. Hör auf, vom Krieg zu reden und singe vom Frieden, hör auf, den Weltuntergang zu predigen und singe vom neuen Leben, hör auf, den Teufel an die Wand zu malen und singe das Lob Gottes!" Jesaja versuchte ein zweites Aber, doch wieder kam er nicht weiter. "Steck die Leute an mit deinen Liedern," wiederholte die Prophetin, "singe ihnen vor und singe mit ihnen davon, wie gut und schön das Leben sein und werden kann, begeistere sie für eine bessere Welt und für die neue Zeit; singe ihnen und mit ihnen davon, wie das Leben unter Gottes Herrschaft sein wird. Singe ihnen von Gottes Gnade und Barmherzigkeit, von seinem Heil, sing mit ihnen das Lob unseres Gottes, der der einzige Trost im Leben und im Sterben ist, und daß wir deshalb weder Tod noch Teufel fürchten müssen und schon gar nicht irdischen Machthaber."

Die Prophetin nahm ihr Tamburin von der Wand, begann, einen Rhythmus zu schlagen, summte eine Melodie und tänzelte durch den Raum: "Danket dem Herrn, ruft seinen Namen an, tut den Völkern seine Taten kund," begann sie dann den 105. Psalm. Jesaja dämmerte es: Besser, als mit Gottes Zorn und seinem Gericht zu drohen, ist es wohl, von seinen Guttaten zu sagen, davon zu singen, wie er sein Volk immer wieder behütet und bewahrt hat - und daß Gott in seiner Langmut es mit seinem Volk weiterhin so halten würde. "Den Menschen kein schlechtes Gewissen machen und keine Angst, sondern ihnen Hoffnung geben, ihnen Mut machen - das ist wohl die bessere Predigt," dachte Jesaja und sah der Prophetin zu, die sich in Ekstase getanzt hatte und unverständliche Worte lallte. Schließlich sank sie erschöpft zu Boden, fiel sofort in einen tiefen Schlaf.

Jesaja nahm noch einen Schluck Wein, dann ging er nach draußen. Es war dunkel und angenehm kühl geworden. Er setzte sich unter einen Baum und begann, ein Lied zu formen, nahm den Rhythmus auf, den die Frau geschlagen, die Melodie, die sie gesummt hatte. Eine fröhliche, muntere Melodie war es, ein kräftiger, vorwärts drängender Rhythmus - das Richtige, um aufzumuntern, um zu ermutigen. Dann versuchte er, alles, was die Prophetin gesagt hatte, in kurze, knappe Sätze zu fassen, suchte nach Formulierungen, die den Menschen Hoffnung gaben, Mut machten. Dann nahm er zwei Steine, klopfte den Rhythmus, sang den Text. An ein paar Stellen müßte er ihn noch glätten, doch schließlich paßten Rhythmus, Melodie und Text zusammen, und Jesaja sang sein neues Lied in die Nacht. Daß die Prophetin neben ihm stand, merkte er erst, als sie ihm Beifall klatschte. Dann sangen sie das Lied gemeinsam und merkten, wie auch ihre Angst vor der Zukunft neuer Zuversicht Raum gab, wie gut es tat, in neuen Liedern von den alten Taten Gottes zu singen, die doch jeden Tag wieder geschehen konnten und geschahen.

Sie sangen noch lange, sangen fröhliche Psalmen und das Lied der Mirjam, sangen sich festes Vertrauen zu Gott ins Herz. Singend gingen sie schließlich ins Haus zurück, summend legten sie sich schlafen, und mit einer fröhlichen Melodie im Kopf wachten sie am nächsten Tag auf,.Sie sahen ihm zuversichtlich entgegen. Amen

Gebet:
Gemeinde: Mein Herz ist bereit, EG 339
Liturg: Ps 98, 1b - 2
Gemeinde: Mein Herz ist bereit, EG 339
Liturg: Ps 98, 3 - 4
Gemeinde: Mein Herz ist bereit, EG 339
Liturg: Ps 98, 5 - 6
Gemeinde: Mein Herz ist bereit, EG 339
Liturg: Ps 98, 7 - 9
Gemeinde: Mein Herz ist bereit, EG 339

Lieder:
Lob Gott getrost mit singen (Wochenlied) EG 243; Singt, singt dem Herren neue Lieder, EG 286; Nun danket Gott, erhebt und preiset (Ps 105), EG 290; Lobet und preiset, ihr Völker, den Herrn, EG 337; Ich will dem Herr singen, EG 340; Nun freut euch, lieben Christen g’mein, EG 341

Paul Kluge
Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk der Kirchenprovinz Sachsen
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