Rogate, 20. Mai 2001
Predigt über Matthäus 6,7-13, verfaßt von Friedrich Seven

Matthäus 6
7 Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.
8 Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn
bittet.
9 Darum sollt ihr so beten:
Unser Vater, der du bist im Himmel!
Geheiligt werde Dein Name.
10 Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
11 Unser tägliches Brot gib uns heute.
12 Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
13 Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Liebe Gemeinde!

"So sollt ihr beten" hat Jesus zu seinen Jüngern gesprochen und mit den Worten des "Vater unsers" ihnen und uns eine Brücke gebaut, auf der wir von Tag zu Tag und immer dann, wenn wir die Nähe Gottes suchen, sicher gehen können.
Mit diesen Worten können wir sprechen zum Lobe Gottes und zu unserem Heil.

Doch so sicher uns dieses Gebet zu Gott führen will, so selbstverständlich kann es uns auch mit anderen Menschen verbinden.
Ich denke dabei an Krankenbesuche, gerade an solche, bei denen ich beinahe täglich einen Menschen besuche, der über einen langen Zeitraum unter großen körperlichen und wohl noch größeren seelischen Schmerzen bei vollem Bewußtsein Abschied nimmt. Sicher, den Angehörigen ist es sehr recht, daß jemand von der Kirche kommt; aber wie steht es um den Kranken.

Vielleicht kennen Sie dieses unsichere Gefühl, das einen bei solchem Besuch beschleicht, diese quälenden Fragen, ob man nicht eher störe, ob sich nicht vielleicht doch der Kranke Gedanken macht, weshalb man erst jetzt auf ihn aufmerksam wird. Können diese wenigen Handgriffe, mit denen man helfen will, ohne der Gemeindeschwester, die bald kommen wird, vorzugreifen, können diese zaghaften Gesprächsversuche nicht eher zusätzlichen Schmerz bereiten. Wäre es nicht viel besser, wieder zu gehen, wo doch die Schwester gleich kommt. Will der Kranke eigentlich wirklich solchen Beistand, oder stelle ich einfach nur seine Höflichkeit auf eine weitere schwere Probe.

Schließlich frage ich, ob wir beten wollen, manchmal freilich bittet der Besuchte selbst darum. Nach einem freien Gebet beginne ich dann mit dem "Vater unser" und ich höre, wie bereits nach wenigen Worten der Kranke mitspricht, oft so als hätte er bereits auf dieses Gebet gewartet. Oft besteht für mich beim "Vater unser" die einzige Gelegenheit, einen Kranken, mit dem kaum noch ein Gespräch möglich war, laut zu vernehmen.

So erschließt sich mir der Sinn der Worte Jesu noch einmal ganz aktuell über die neun Teile des Vater unseres hin neu und wird mir der Kranke deutlicher.

"Vater unser" - da wird das ganze Vertrauen, zu dem wir mit der Anrede "Vater" fähig sind, ausgeschöpft, und mit den Worten " der du bist im Himmel" wird das Vertrauen leicht über alles bisher Erfahrene und Vertraute, über alles Irdische überhaupt hinausreichen. Der Blick will sich erheben über jede Augenhöhe und doch nicht ins Leere gehen. Er folgt den Worten, die den Namen des Vaters heiligen.

"Dein Reich komme" - die Angst, die Verzweiflung, die Wut, werden nicht einfach weichen, aber die Gedanken und Gespenster, die sie begleiten, die fliehen vor diesem Reich, mit dem Gott selbst kommt. Das Leben behält seine Richtung nach vorne, denn die Hoffnung stirbt zuletzt.

"Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden:" Den Willen muß der Kranke immer erst wieder entdecken, zu oft erfährt er, daß sich sein lebhaftes Wollen gegen ihn selbst gerichtet hat, und sicher genauso oft hat er erfahren müssen, wie andere zu wissen meinen, was er denn "in seinem Zustand" zu wollen hätte. " Das kannst Du unmöglich wollen!" Wie oft hat er diesen Vorwurf gehört und wie wichtig wird ihm da der Wille dessen, der ihn genauer kennt und sehen kann. Gottes Wille geschieht im Himmel und auf Erden, und gut zu wissen, daß Gott an ihn glaubt

"Unser täglich Brot gib uns heute": um was soll da noch gebetet werden, wenn der Körper nichts mehr aufnimmt und wenn in der öden einsamen Zeit der Blick die Tropfen zählt, die noch Nahrung genannt werden. Doch, was ist nicht alles tägliches Brot: jedes feuchte Tuch, jedes Aufhelfen und jeder Blick, ja auch jede Nachtwache nährt mit dem Brot des Lebens, als das unser Herr zu uns gekommen ist. Des Leibes Nahrung und Notdurft, hier kann sie ganz begriffen werden.

"Vergib uns unsere Schuld" wie schlicht kann eine Beichte sein und welch eine große Gnade ist es, sich etwas von der Seele reden zu können, ohne daß die Brücke unter der Last dieser Vergangenheit zusammenbricht.

"... wie auch wir vergeben unseren Schuldigern". Da kann ein Mensch plötzlich wieder vergeben, gleichwie der Herr ihm vergeben hat, und noch an seine Krankenlager kommen Menschen, die sich auf den Weg zu ihm gemacht haben, damit sie Vergangenes nicht einholt. Freunde finden oft den Weg nicht mehr, aber die anderen haben vielleicht den Mut gefunden, den es immer braucht, um sich nach langer Zeit wieder zu melden.

"Und führe uns nicht in Versuchung" - auch wer ans Krankenbett gefesselt ist, hat die Freiheit, sich zu Gott zu halten oder wieder zurückzukehren zu dem Hochmut, mit dem er noch jede Welt zu überwinden hoffte. Doch der Schatten, den die Selbstüberhebung werfen kann, muß nicht unbedingt mehr so groß werden, daß die Freiheit des Glaubens ganz im Dunkel läge. Die Einladung zum Gebet gilt zu jeder Zeit.

"Sondern erlöse uns von dem Bösen." Es gibt das Böse, doch erlösend von diesem Fluch wirkt jetzt schon der Glaube daran, daß es auch das andere, das Gute gibt und daß es sich am Ende durchsetzen wird. Das Böse dominiert erst, wenn es den Glauben an das Gute erstickt hat, und oft liegt Böses im Übersehen des guten Willens. Es geht gerade am Ende des Leben immer um Geben und Nehmen und es kann überhaupt nicht mehr hilfreich sein, gegenseitig aufzurechnen, wer was getan hat und was noch getan werden müßte. Im dankbaren Blick des Kranken und beim plötzlichen Begreifen des Besuchers kommt alle Berechnung an ein Ende und jederzeit kann mit einem neuen Wunder des Verstehens gerechnet werden.

Noch einmal heben der Kranke und ich an, und wir spüren, daß wir tatsächlich ein wenig weiter in unserer Weggemeinschaft zueinander gefunden haben. Wir werden das Ziel nicht gemeinsam erreichen, aber, so Gott will, noch manche kleine Strecke zusammengehen können, so wie wir uns jetzt darauf freuen, einzustimmen in diesen großen Schlußvers, mit dem Jesus uns auch das Verherrlichen lehren wollte:

"Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen."

Dr. Friedrich Seven 14. Mai 2001
Im Winkel 6
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E-mail: friedrichseven@compuserve.de