Rogate, 20. Mai 2001
Predigt über Matthäus 6, (5-6) 7-13 (14-15), verfaßt von Doris Gräb

Liebe Gemeinde!

"Zeig mir, wie ich beten kann- - bittet ein Schüler seinen Lehrer.
Der antwortet: "Kann ich es dir zeigen? - Ich kann es nicht.-
Der Schüler ist erstaunt: "Bist du denn nicht ein Lehrer der Religion?

Sagt der Lehrer: "Eben deswegen. Beten lernt niemand durch Wissen und Können, sondern durch Erfahren und Leben. Was immer ich weiß, kann dir nicht ersparen, dich selbst zu suchen. Selbst mußt du in den Brunnen springen, die Tiefe wagen, den inneren Raum und die innere Zeit entdecken.----

In einer Gebetsschule habe ich dieses Gespräch zwischen Schüler und Lehrer gefunden. Und ich möchte sie einladen, mit mir diesen Gedanken nach-zu-denken, auf dem Hintergrund jener eindeutigen Empfehlung des Bergpredigers: "So sollt ihr beten-. - Nämlich: mit den dann folgenden Worten des Vaterunser.

Beten lernt niemand durch Wissen und Können, sondern durch Erfahren und Leben. Selbst muß du in den Brunnen springen...
Also: Vorbuchstabiertes, Angelerntes, von anderen Ausgedachtes: das ist es noch gar nicht. So jener Lehrer der Religion.

Die frommen Texte der anderen - die schönen Lieder unserer Vorfahren - und seien sie auch noch so gut gelernt: sie machen das Beten noch gar nicht aus.
Selbst mußt du in den Brunnen springen - die Tiefe wagen - den inneren Raum entdecken.
Doch: Ist da nun nicht sehr viel verlangt?
Zumindest nicht jedem, jeder von uns auf den Leib geschnitten?
Meditation, Kontemplation - an stillem Ort und zu stiller Zeit.
Wer macht es schon. Wer gönnt sich´s schon. Wer kann´s überhaupt.
Inmitten all dessen, was uns umtreibt und in Atem hält; atemlos macht.
Mitten in diesem schnell-lebigen Leben den inneren Raum, die innere Zeit entdecken. Sich selber finden. Gott finden.

Wo es eins nach dem anderen zu erledigen gilt- manches sogar gleichzeitig. Wo wir immer mehr und immer schneller wechselnde Bilder verarbeiten müssen, denen unsere Gedanken kaum noch nachkommen - geschweige denn die Seele.

Wo wir heute kaum noch wissen, was vor vier Woche in der Welt passiert ist, weil so viele und immer schnellere Informationen auf uns einstürmen: da sollen wir die Tiefe wagen? Den inneren Raum entdecken?
Und eben nicht Leere , wenn wir den Knopf am Fernseher ausknipsen. Wenn die Bilderflut abebbt und wir mit einmal unvermutet mit uns allein sind.

Allerdings: es könnte doch sein, daß wir deswegen hier sind. Daß wir den Sonntagmorgen hier und nirgends anders verbringen wollen. Weil es uns eben darum geht.

Weil es uns eben nicht nur ums Wissen und Können geht. Nicht nur ums Machen und Ins-Werk-setzen. Sondern darum, daß wir den inneren Raum suchen - entdecken - uns selber spüren wollen.

Weil wir den Abstand brauchen. Weil wir durch die Selbstverständlichkeiten des Tages hindurch dringen, die Augen des Herzens öffnen - die inneren Ohren aufmachen wollen. - Und alles Vordergründige hinter uns lassen.

Doch: wird`s uns gelingen?

Wird hier nicht auch nur vorbuchstabiert - nachgebetet, was jede, jeder erst mit eigener Lebenserfahrung füllen muß?
Wird jetzt nicht wieder über etwas geredet - wo es doch gilt, selber in den Brunnen zu springen? -

Die Tiefe wagen - sich selber suchen - Gott suchen.

"Wie rufst du Gott?- - So fragt in jener Gebetsschule der Schüler dann den Lehrer weiter. Welchen Namen gibst du ihm, wenn du dich auf die Suche nach ihm machst?

"Ach- werde ich ihn rufen, antwortet der Lehrer.
Nicht Gott. Ach!
Überlegt dir selbst: wann sagst du: Ach?
Ach! - wenn du leidest.
Ach! -wenn du staunst.
Ach! - wenn du betroffen bist.
Ach! - wenn du dich freust.
Also: wenn du durch das Vordergründige und Selbstverständliche deines Lebens hindurch gedrungen bist, dann sagst du aus tiefster Seele: Ach!

Wenn du weinen kannst. Wenn du dich freuen kannst. Wenn du klagen kannst. Wenn du in der Mitte deines Personseins so betroffen bist, daß sich deine Betroffenheit artikuliert: In einem Ach! - oder in einem Du!
Ach! Ich freue mich so!
Du! Ich kann einfach nicht mehr!

Nein, solches Beten brauchen wir nicht zu lernen.
Wenn das Beten ist, dann sind wir doch alle in irgend einer Weise Experten.
Denn: solche Erfahrungen kennen wir doch: wo das eigentlich so Selbstverständliche unseres Lebensablaufs auf einmal durchbrochen wird.

Wo ich unvermutet und für einen Augenblick lang spüre: mein Leben ist gut. Es ist schön. Und daß es so ist, das verdanke ich nicht mir selbst.

Und umgekehrt aber auch:
Ach, mein Leben ist zutiefst in Frage gestellt. Es ist zerrissen.
Ach! Ich brauche Hilfe, weil ich mir selber nicht mehr helfen kann.
Ach! Wenn es doch nur bald wieder anders wird.
Ach!

Tatsächlich. In solchen Augenblicken ahnen wir etwas vom tiefen Brunnen unserer Seele. Da dringt in ihn etwas hinein und aus ihm heraus. Ein tiefes Ach!
Alles Vordergründige wird mit einem Mal untergraben.
Wir erspüren die Tiefe unserer Seele, unseres Lebens.
Wir sind: Gott nahe.
Dann, wenn wir selbst in den Brunnen springen.
Und was dann weiter?
Was ist, wenn wir sozusagen in der Tiefe angelangt sind - am Grunde dessen, was uns trägt? Vielmehr, wenn wir hinunter schauen dürfen. Was dann?

Lassen Sie mich darauf mit einem Lied antworten. Mit einem Vers von Matthias Claudius.
"Ich danke Gott und freue mich wie´s Kind zur Weihnachtsgabe, daß ich bin - bin - bin - und daß ich dich, schön menschlich Antlitz habe.-

Täglich zu singen. So überschreibt Matthias Claudius sein Lied. Täglich zu singen. Vorausgesetzt, es wird nicht nur dahin geträllert, sondern es kommt aus der Tiefe - und geht in die Tiefe. Wie jenes Ach, das die Selbstverständlichkeiten des Lebens durchbricht.

Den Brunnengrund meiner Seele erahnen. Und dann zu singen, zu beten anfangen:
Ich danke Gott und freue mich. Daß ich bin - bin - bin - und daß ich dich, schön menschlich Antlitz habe.
Das reicht tief. Tiefer sogar als alle Klage über die Dinge, die das Leben manchmal fast unerträglich machen.
Daß ich bin - bin - bin - und dich, schön menschlich Antlitz habe.
Das gilt, das gilt doch auch dann noch, wenn der Boden unter den Füßen ganz und gar ins Wanken gerät und Allerschlimmstes auf uns einstürzt.

Selbst mußt du in den Brunnen springen - die Tiefe wagen -. So heißt es in unserer Gebetsschule.

Selbst mußt du die Erfahrung machen, was es mit deinem Leben ist. Daß es ein großes, unverfügbares Geschenk ist und bleibt. - Ein Geheimnis, für das es sich täglich zu danken lohnt, über dem es sich täglich zu singen lohnt.

Ist das nun aber nicht ein Widerspruch zu der Mahnung Jesu: "So sollt ihr beten.-?
Eben: mit den Worten, den vorformulierten Worten des Vaterunser sollt ihr beten.?
Ich glaube nicht. - Denn Jesus sagt doch vorher auch:
"Wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen."
Also eben auch: mit Vorbuchstabiertem, Angelerntem, mit herunter gebeteten Sätzen ist es noch nicht getan.
So sollt ihr beten: mit dem Vaterunser sollt ihr beten.

Allerdings dann nicht wieder so, daß ihr diese Worte nur so sagt. So dahin sagt, wie die Kinder manchmal am Mittagstisch ihr Tischgebet herunter sagen.
Könnte es nicht sein, daß uns Jesus mit dem Vaterunser weniger die formulierten Worte - als vielmehr die Grundlagen eines jeden Gebets anempfehlen will?- So vielleicht:

Vater unser.
Dir, dem Vater, dem Schöpfer aller Dinge, verdanke ich, verdankt diese Welt ihr Dasein. -
Oder mit Matthias Claudius: "Ich danke Gott und freue mich, daß ich bin....
Unser täglich Brot gib uns heute:
Dir, dem Vater, verdanke ich, was ich habe. Alles, was ich zum Leben brauche. - Nicht selbstverständlich ist es, daß ich genug zu essen habe.
Vergib uns unsere Schuld:
Ich weiß, wie zerrissen ich oft bin. Wie fragwürdig mein Tun ist. Wie oft ich das Gute tun will und das Böse, das ich nicht will, tue. - Und doch weiß ich, daß ich sein darf, wie ich bin. Daß du, Vater, mich annimmst, wie ich bin. Daß ich von dir, dem Vater, mein schön menschlich Antlitz habe....daß dein Antlitz über meinem Antlitz leuchtet.

Also auch hier, in der Bergpredigt, so, wie ich den Bergprediger Jesus heute verstehen möchte, keine Anleitung zum Nachsprechen von Gebetsformeln, von nur Erlerntem.
Geht es doch auch ihm weniger um ein Leben mit Gebeten als vielmehr um eine Grundhaltung zum Leben überhaupt.
Um ein gebetetes Leben.
Ein gebetetes Leben, in dem ich immer wieder in den Brunnengrund meiner Seele hinab schaue und von dort das Loblied in mir heraufsteigen lasse:

Ich danke Gott und freue mich, daß ich bin- bin - bin. - Vater unser im Himmel!
Mein Leben ist geschenktes, mir von Gott gewährtes Leben. Und wenn es zutiefst gefährdet, in Frage gestellt ist, durch schmerzvolle Erfahrungen, dann trägt mich jene Erfahrung immer noch: ich bin, ich lebe - wie auch immer - von Gott - und zu Gott hin.

Oder eben: Vater unser - dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Amen

Pfarrerin Doris Gräb
Burgfrauenstraße 79a
13465 Berlin