Exaudi, 27. Mai 2001
Predigt über Johannes 14, 15-19, verfaßt von Dietz Lange

Universitätsgottesdienst in Göttingen, 27.5.2001

Liebe Gemeinde!

Die Welt erkennt den Geist der Wahrheit nicht - aber ihr erkennt ihn wohl, denn er ist bei euch und in euch. Das ist Jesu Vermächtnis an seine Anhänger, an uns Christen. Vermächtnisse bereiten den Erben nicht immer nur Freude. Oft genug gibt es erbitterten Streit um ein Erbe, an dem die Anwälte der Beteiligten dann viel mehr Freude haben als die Erben selbst - nicht selten über Jahre hinweg. Mit dem Erbe Jesu, der göttlichen Wahrheit, die er verkündigt hat, ist das offenbar auch so. Schon im Urchristentum gab es stärker traditionsgebundene Leute, die an den überkommenen jüdischen Sitten und Gebräuchen festhielten, und solche, die das Neue, Befreiende in Jesu Verkündigung in den Vordergrund stellten. Es gab Charismatiker und eher bürgerliche Gemeindeglieder - so wie es heute Evangelikale und Liberale, Pietisten und Volkskirchliche gibt. All diese Gruppierungen erheben Anspruch auf das wahre Christentum, streiten sich oft auch darüber - und halten so Theologinnen und Theologen in Lohn und Brot.

Da hören die Probleme noch lange nicht auf. Wir leben, wie die alten Christen auch schon, in einer Zeit, in der verschiedene Religionen auf engem Raum nebeneinander existieren. Sie haben alle ihre eigenen Ansprüche auf Wahrheit, die miteinander in Konkurrenz stehen. Wer hat denn da Recht? Soll das etwa militärisch entschieden werden, wie das in der Geschichte immer wieder versucht worden ist? Doch wohl lieber nicht; mindestens zum Christentum als der Religion der Liebe passt das schlecht. Aber grundsätzlicher gefragt: Ist es nicht reichlich arrogant, zu behaupten, wir Christen hätten die Wahrheit und alle anderen nicht? Noch dazu an einer Universität! Da haben sich alle Fakultäten der Suche nach der Wahrheit verschrieben, wohl wissend, dass man zu ihr immer nur unterwegs sein, sie niemals besitzen kann. Es ist ja noch nicht einmal ohne weiteres klar, was denn Wahrheit überhaupt ist. Die Philosophen haben dazu eine ganze Reihe scharfsinniger Theorien entwickelt, über die sie sich keineswegs einig sind. Kommt da nicht in so einem Universitätsgottesdienst zu der Arroganz noch die Naivität hinzu, die sich um all diese Dinge gar nicht kümmert und ganz schlicht den Geist der Wahrheit für sich in Anspruch nimmt?

Nun sind wir heute morgen nicht zu einer theologischen Vorlesung über Pluralismus und Wahrheitstheorien zusammengekommen. Vorlesung und Predigt sind zwei ganz verschiedene Dinge. Das soll jetzt nicht heißen, dass wir uns um die aufgeworfenen Fragen herumdrücken könnten. Das geht schon deshalb nicht, weil sie ja wahrhaftig nicht bloß die Theoretiker beschäftigen, sondern schlechthin alle nachdenkenden Christen und alle, die sich in irgendeiner Weise mit dem Christentum auseinander setzen. Genau auf dieser Ebene, auf der es alle angeht, fragen wir: Was soll es bedeuten, dass der christliche Glaube die Wahrheit sein soll? Kann man das sagen, ohne dabei arrogant oder fanatisch zu werden? Und wozu ist das überhaupt wichtig?

Wahrheit in dem Sinn, um den es hier geht, ist das, was unser Leben eigentlich und im Innersten ausmacht, was seinen Sinn erhellt und Orientierung gibt. Das ist also etwas durchaus Praktisches - es ist aber zugleich auch das, worum es in den klugen theoretischen Überlegungen letzten Endes auch geht.

Was den Sinn unseres Lebens erhellt, offen legt - damit ist der Streit nicht erledigt, sondern damit beginnt er erst richtig. Denn das liegt ja nicht am Tage, so dass man nur mit dem Finger darauf zu zeigen brauchte, und jeder nicht ganz dumme oder böswillige Mensch müsste es sofort einsehen. Was unser Leben sinnvoll erscheinen lässt und worauf wir uns schlechterdings verlassen können, das sind nicht irgendwelche äußeren Tatsachen. Wenn sich z. B. herausstellt, dass eine Wundergeschichte im Neuen Testament sich nicht so abgespielt hat, wie sie berichtet worden ist, dann ist das zwar nicht einfach egal, aber der Glaube zerbricht daran nicht. Denn diese Geschichten sind ja keine Reportagen. Wir wissen ja auch, dass in Legenden oft viel mehr Wahrheit steckt als in einer Dokumentation.

Was aber ist dann Wahrheit? Der christliche Glaube antwortet: Wahr ist, dass Gott die Liebe ist. Wahr ist, dass er uns liebt, obwohl wir nichts vorzuzeigen haben, was uns dieser Liebe wert machen könnte. Wahr ist, dass Gott uns liebt, obwohl manches Lebensschicksal überhaupt nicht danach aussieht. Wahr ist, dass Gott sich in Jesus ganz für uns hingegeben und damit das Böse überwunden hat, obwohl es für den äußeren Blick viel eher danach aussieht, dass das Böse um uns herum und auch in uns selbst die Oberhand behält.

Wenn das die Wahrheit ist, die wir als unseren Glauben bekennen, dann ist das eine verborgene Wahrheit - oft genug auch für uns selbst. Auf keinen Fall können wir behaupten, dass wir sie besitzen, so wie man ein Haus besitzt, das man vor sich sieht und in das man jederzeit hineingehen kann. Eher ist es umgekehrt, dass diese Wahrheit in uns eindringt und uns ergreift. So heißt es ja auch: Gottes Geist ist bei uns und in uns. Gottes Liebe ist keine Kopf-Wahrheit, so könnte man auch sagen. Aber sogar bei dem, was man mit dem Verstand herausfinden kann, ist es ja so, dass die Wahrheit einem aufgehen, sich geradezu aufdrängen muss.

Schön und gut, mögen manche von Ihnen sagen, kann ja sein, dass Gott die Herzen mancher Menschen auf diese Weise für sich gewonnen hat. Bei einigen großen Christen ist das vielleicht so gewesen, bei Paulus etwa oder bei Martin Luther. Aber mir ist so etwas noch nie passiert. Auch die christliche Erziehung und der Konfirmandenunterricht haben das nicht zustande gebracht. Überhaupt ist dieser Jesus doch schon so lange tot. Und was hat das Christentum in diesen 2000 Jahren aus der Welt gemacht? Punktuell mag da so etwas wie Gottes Liebe wahrzunehmen sein, aber wirklich durchgesetzt hat sie sich doch offensichtlich nicht.

Es mag Sie vielleicht überraschen, aber solche Gefühle haben Christen zu allen Zeiten gehabt, auch schon zur Zeit der ältesten Kirche. Ich könnte mir denken, dass das Johannesevangelium, aus dem die Sätze stammen, die ich vorhin vorgelesen habe, in genau so eine Stimmung hinein geschrieben ist. Zwei Generationen waren damals seit Jesu Tod schon vergangen. Das ist so, wie wenn wir uns mit dem Ende des I. Weltkrieges beschäftigen. Niemand von denen, die den Johannes damals gelesen haben, hat Jesus noch bewusst erlebt. Die Christen waren zudem eine kleine Minderheit, vielfach angefeindet. Sie hatten es nicht leicht. Wo blieb da die Liebe Gottes? Vieles von dem, was andere als Lebensorientierung vortrugen, schien viel interessanter und überzeugender zu sein. Wie war das da mit dem Geist der Wahrheit - besaß er wirklich die Macht, die Jesus ihm zugeschrieben hatte?

Johannes erinnert in dieser Situation an die Lage der Jünger kurz vor Jesu Tod. Er beschreibt ihre Gefühle nicht, aber man kann sie sich vorstellen. Mit Begeisterung waren sie Jesus auf seinen Wanderungen durch Palästina gefolgt, hatten Entbehrungen und Strapazen willig auf sich genommen. Sie hatten sich für das Neue, das Jesus zu sagen hatte, nach Kräften eingesetzt und des gegenüber anderen nachdrücklich vertreten. Ihr eigenes Leben hatte sich durch die Erfahrung von Gottes Liebe völlig verändert, und für die Liebe zu anderen Menschen, selbst zu den Feinden, traten sie mit Überzeugung und Energie ein. Aber jetzt schien das alles wie Seifenblasen zu zerplatzen. Jesus würde hingerichtet werden, alles schien umsonst. Es war, als würden sie aus einem Jugendtraum herausgerissen und plötzlich mit der rauen Wirklichkeit des Erwachsenseins konfrontiert werden - etwas, das viele von uns sicher gut mit eigenen Erfahrungen vergleichen können.

In diese Stimmung hinein spricht Jesus: Ich lasse euch nicht als Waisen zurück, sondern der Geist Gottes wird bei euch sein. Der Geist Gottes, von dem Jesus sich hatte leiten lassen. Man kann auch sagen: Jesus selbst und all das, was er von Gottes Liebe gepredigt und praktisch gelebt hat, ist durch Gottes Geist gegenwärtig.

Dieses Versprechen gilt auch uns. Wir wären nicht hier in der Kirche, wenn es uns nicht irgendwann schon einmal berührt hätte. Die einen haben es seither in ihrem Leben vielfältig bestätigt gefunden, dass Gottes Liebe sie geleitet, andere sind heute eher skeptisch. Freilich: Wohl jede und jeder von uns hat da irgendwann auch heftige Zweifel gehabt. Das ist normal. Wenn wir aus so einem Abseits fragen, wie wir denn wohl der Gegenwart Gottes gewahr werden können, dann gibt uns der Anfang des Textes aus dem Johannesevangelium einen Schlüssel dazu: Wenn ihr mich liebt, dann werdet ihr meine Gebote halten, sagt Jesus da. Das ist der Zugang zu der Wahrheit Gottes. Zuschauern, die in der Distanz verharren, erschließt sie sich nicht. Wer sie durch eigene Anstrengung aufbrechen will, dem bleibt sie verschlossen. Auf ein Versprechen kann man sich nur einlassen. Das ist wie in der Liebe zwischen Menschen. Wenn man jemanden gern hat, aber innerlich auf Abstand bleibt und rückhaltloses Vertrauen nicht wagt, dann wird die Liebe niemals zu einer Leben verwandelnden und tragenden Kraft werden. Und erzwingen kann man da schon gar nichts. Lassen wir uns aber auf die Liebe ein, die uns entgegenkommt, kriegt alles ein ganz neues Gesicht. Nichts ist mehr wie vorher. Jeder Mensch, der schon einmal wirkliche Liebe erfahren hat, weiß das. Und so ist das erst recht mit Gottes Liebe.

Gewiss, es kommen dann auch immer wieder einmal die anderen Stunden, in denen sich der Himmel zuzieht und es finster wird. Darum haben die Christen schon in früher Zeit diesem Sonntag den Namen Exaudi, Erhöre mich, gegeben. Das stammt aus dem 27. Psalm, einem alten jüdischen Gebet, in dem es heißt: Herr, höre meine Stimme, wenn ich rufe, sei mir gnädig und erhöre mich! Und ohne weitere Erklärung schlägt der Ton plötzlich um: Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf. So möge es uns auch ergehen, wann immer wird das brauchen.

Amen.

Prof. Dr. Dietz Lange
Platz der Göttinger Sieben 2
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