Trinitatis, 10. Juni 2001
Predigt über 4. Mose 6,22-27, verfaßt von Rainer Stahl

Liebe Schwestern und Brüder,

1980 hat der israelische Archäologe Gabriel Barkay südwestlich der Altstadt von Jerusalem eine Grabanlage entdeckt. Im Urzustand bestand sie aus einem Felsenraum, der von drei Seiten mit Bänken umgeben war. Auf diesen Bänken konnten die Leichen abgelegt werden - mit den Köpfen in vorbereiteten Kuhlen. Der Ausgräber fand nur noch diese Bänke. Der ganze obere Teil des Felsens war abgetragen. Aber unter einer dieser Bänke wurde eine Kammer entdeckt, in der die Knochen und die Grabbeigaben nach der Verwesung eingelagert wurden. Man konnte noch die Knochen von fast hundert Menschen voneinander unterscheiden. Weit über 1000 Einzelstücke an Grabbeigaben wurden gefunden: Gefäße, Öllampen, Pfeilspitzen, Schmuck. Vom 7. Jahrhundert vor Christus bis ins 1. Jahrhundert vor Christus sind hier Menschen bestattet worden - über fast 600 Jahre hin.

Der faszinierendste Fund waren zwei Röllchen aus Silberblech. Drei Jahre dauerte es, bis sie aufgerollt waren - ohne sie zu zerstören. Auf den Innenseiten wurden eingekratzte Buchstaben entdeckt. Und man konnte den Text lesen:

"Es segne dich der Herr, und er behüte dich.
Es lasse leuchten der Herr sein Angesicht über dir
und er gebe dir Frieden."

Worin besteht der Sinn der wissenschaftlich-theologischen Arbeit zum Alten Testament? Er besteht darin, daß die Gesprächsbeziehungen aufgedeckt werden, in die die Texte ursprünglich gehören - die Fragen, auf die sie Antworten waren, oder die Antworten, die sie herausforderten. Mit unserem Amulettfund ist das großartig möglich:

Ich stelle mir Eltern vor, die zur Hochzeit des Sohnes ihrem Sohn - nennen wir ihn Jochanan - und ihrer Schwiegertochter - vielleicht Sara - alles Gute wünschen wollen. Sie tun es mit zwei Amuletten. Sie wissen, daß die Gesundheit, der berufliche Erfolg, das Wohlergehen der Kinder nicht in ihren Händen liegt. Sie überlassen das alles bewußt dem Segen Gottes. Gewiß haben sie auch an Frieden und sozialen Wohlstand gedacht. Denn sie gehörten wohl zur Führungsschicht in Jerusalem und haben den König gekannt. Nehmen wir an, daß die Hochzeit im Jahr 625 vor Christus war, kurz vor der Religionsreform des Königs Joschija. Mit dem Segenswort auf den Amuletten zeigten die Eltern, daß sie diese Reform unterstützen werden. Sie empfahlen dies auch ihren Kindern, sie stellten sie - 15 Jahre waren sie wohl alt gewesen sein - unter den Segen des einzigen Gottes.

Über sein ganzes Leben hin hat nun dieses Paar täglich und stündlich aus diesem Segenswunsch gelebt. Sagen wir, 24 Jahre später sterben beide, also mit 39 Jahren, im Jahr 601 vor Christus. Jetzt herrscht König Jojakim, der Steuern hatte ausschreiben lassen für Tributzahlungen und sich dann noch einen neuen Palast hatte bauen lassen. Die Kinder von Sara und Jochanan fragen sich jetzt, was das Wichtigste ist, was sie für ihre Eltern tun können. Sie geben ihnen die Segenswünsche mit ins Grab. Sie bekennen so ihren Glauben, daß Gott auch in den Tod hinein segnen, auch in den Tod hinein sein Angesicht leuchten lassen, auch in den Tod hinein Frieden setzen wird.

Liebe Schwestern und Brüder,

auch wir wollen diese persönliche Beziehungsebene zurückgewinnen: Eltern für ihre Kinder; Kinder für ihre Eltern. Wir wollen den Mut finden, uns gegenseitig Segen zu spenden.

Damit werdet Ihr eine dritte Kraft in Euren Beziehungen gewinnen - als Ehepartner, als Vater zum Sohn, als Mutter zur Tochter, als Tochter zum Vater, als Sohn zur Mutter. Diese dritte Kraft entlastet:

Ihr könnt Gesundheit und Wohlergehen, Glück und Paradies nicht wirklich garantieren. Das wissen schon die Schlagersänger unserer Zeit. Aber Ihr könnt sie in Gottes Hand legen, indem Ihr Eure Kinder, indem Ihr Euren Partner, indem Ihr Eure Eltern segnet.

Und Ihr habt eine Brücke bei Schuld und Versagen. Gott hält die Beziehung, wenn das Gespräch abgebrochen ist. Deshalb ist es so wichtig, daß Ihr einander den Segen Gottes wünscht selbst dann, wenn die Auseinandersetzungen vorherrschen.

Leider ist uns dieser persönliche, familiäre Bezug verloren gegangen. Kaum haben Eltern den Mut, ihre Kinder zu segnen. Noch weniger Kinder, ihre Eltern zu segnen. Auch in der biblischen Überlieferung ist dieser Segenstext dem persönlichen Bezug entzogen und ganz neu zugeordnet worden:

"Und der Herr redete mit Mose und sprach: Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet" (Verse 22-23). Damit wird der Segen den Vätern und Müttern weggenommen und nur den Priestern zugeordnet - das sind "Aaron und seine Söhne". Auch bei uns scheint dieser große Text reserviert für die Pfarrerinnen und Pfarrer. Aber das braucht nicht zu sein. Jede und jeder von uns kann segnen.

Gut ist an der Zuordnung zu den Pfarrerinnen und Pfarrern, daß der Segen lebendig blieb in unserer Kirche: Wo der Mut zum Segnen in den Familien verloren geht, wird der Segen selbst doch nicht vergessen, denn mit ihm endet jeder Gottesdienst. Bei der Besichtigung der beiden Silberröllchen im Israel-Museum in Jerusalem kam ich kurz mit zwei römisch-katholischen Nonnen ins Gespräch. Ich sagte ihnen: "Wir beenden jeden Gottesdienst mit diesem alten Segen!" Da staunten sie ehrfürchtig.

So bleibt uns dieser Segen erhalten. Seine Kraft und seine Wirksamkeit gehen nicht verloren:

"Segnen" heißt ja auch "grüßen" und "Gutes wünschen". Deshalb ist da ein Bogen vom Anfang zum Schluß. "Frieden", "Wohlergehen", "Zukunft" für die zu segnende Person oder Gruppe sind das Ziel. Zugleich wird der Weg zu diesem Ziel verbürgt. Dabei wird das "Segnen" richtiggehend gegenständlich ausgesagt: Gott möge "sein Angesicht leuchten lassen", Gott möge "sein Angesicht heben". Das sind Beziehungsbilder. Sie sind übernommen aus der Erfahrung menschlicher Kontakte. Wer auf eine andere Person offen zugeht, schaut sie an, zeigt das eigene Gesicht. Wer einer anderen Person freundlich begegnen will, lächelt, strahlt im Gesichtsausdruck. So möge Gott selbst erfahren werden. So möge er sich für jede und jeden erweisen. Das wünscht dieser alte Segen.

Allerdings beobachte ich bei uns in Deutschland eine Veränderung, die ich kaum verstehe: Viele Kolleginnen und Kollegen ändern beim Segen am Ende des Gottesdienstes das "Dich" in "Euch". Warum tun sie das? Sie wissen doch, daß das "Du" der Bibel immer auch kollektiv gemeint ist. Mit ihm wird die gesamte Gemeinschaft, das ganze Volk, angesprochen. Aber es wird eben auch jede einzelne und jeder einzelne angesprochen!

Haben viele Pfarrerinnen und Pfarrer den Mut verloren, der einzelnen Person direkt den Segen zuzusprechen? Ist ihnen der Sinn dieses Segenswunsches zu direkt? - "Du bist gemeint!"

Denken sie, mit dem "Euch" einen Freiraum bieten zu müssen, so daß die eine oder der andere sich dem Zugriff des Segens entziehen können? Daß sie auch meinen können: "Ach - mich geht's heute nichts an!"

Mit dieser scheinbaren Höflichkeit und Zurückhaltung dienen wir Pfarrerinnen und Pfarrer niemandem. Ja, wir verpassen unseren eigentlichen Auftrag, nämlich den Namen Gottes auf jede und jeden zu legen. Wie es für die jüdische Gemeinde heißt: "Denn ihr sollt meinen Namen auf die Israeliten legen, daß ich sie segne" (Vers 27).

Deshalb möchte ich mit einer zweiten Ermutigung schließen:
Die erste ist: Findet Mut, Euch den Segen Gottes direkt zuzusprechen - als Eltern Euren Kindern, als Kinder Euren Eltern, als Partner einander.
Die zweite ist: Bezieht den Segenswunsch der Pfarrerinnen und Pfarrer im Gottesdienst direkt auf Euch!

Dazu brauchen wir nichts Neues zu erfinden. Wir brauchen nur zu tun, was Martin Luther getan hat, was unsere orthodoxen, unsere römisch-katholischen Schwestern und Brüder tun: Wir brauchen nur mit dem Segen das Kreuz zu schlagen!

Liebe Schwestern und Brüder,

überwindet jede Form der Arroganz gegenüber den Schwestern und Brüdern in den anderen konfessionellen Traditionen. Öffnet Euch der Kraft, die in der bewußten Handlung liegt, und vollzieht sie, schlagt also das Kreuz über Euch selbst und lest als meinen Gruß für Euch:

"Der Herr segne dich und behüte dich;
der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;
der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden."
Amen.

Pfarrer Dr. Rainer Stahl, Erlangen
Generalsekretär des Martin-Luther-Bundes
E-Mail: gensek@martin-luther-bund.de