1. Sonntag nach Trinitatis, 17. Juni 2001
Predigt über Matthäus 9,35-38; 10,1.5-7, verfaßt von Ulrich Nembach

Liebe Gemeinde,

Christen verändern heute eine Stadt, ja die ganze Welt. Christen strömen nach Frankfurt am Main. Die Stadt ist schon bei Messezeiten verändert. Der Verkehr wird für Tage umgeleitet. Nun müssen sich mindestens morgens und abends Banker, große und kleine, mit Christen auseinandersetzen mindestens im Verkehr, in den Staus. Wo sich sonst alles ums Geld dreht, wo sonst Aktien und ihre Gewinne das Denken und Handeln bestimmen, drängen sich plötzlich Leute, die ganz andere Dinge im Sinn haben, ja deshalb nach Frankfurt/M kommen. Es sind Weiße und Schwarze, Arme und Reiche, Alte und Junge, Gesunde und Kranke.
Sie alle sind klein, sind kaum zu erkennen oben von den Hochhäusern des Geldes, den modernen Tempelbauten. Selbst die Kirchen in Frankfurt/M mit ihren Türmen erscheinen klein zwischen den Hochhäusern. Diese kleinen Menschen mit ihren kleinen Gebäuden zeigen den Großen etwas anderes, ganz anderes.
Was ist das?
Unser für den heutigen Tag vorgesehener Predigttext ist wie eine Antwort gerade für diese Frage geschriebene Antwort. Dabei hat bei der Auswahl dises Textes niemand an den Kirchentag 2001 in Frankfurt/M gedacht.
Mt. 9,35-38; 10,1,5-7.

1. Jesus sieht die ganze Welt (MT. 9,36-38), und er predigt und handelt (V.35).
Frankfurter Banken denken auch global. Sie meinen, damit eine große Entdeckung gemacht zu haben. Nun, die anderem, die zwischen den Hochhäusern und die überall im ganzen Land, die in den Kirchenbänken, denken schon seit 2.000 Jahren global. Wer nur ans Geld denkt, sich darauf kon-zentriert, ist auf dieses kleine Etwas fixiert, was er deshalb in die Mitte seines Denkens, seines von ihm selbst entworfenen Kreises gestellt hat. Das Zentrum ist immer der kleinste Raum. Die Fläche darum herum ist viel größer, unvergleichlich größer. Etwas ins Zentrum zu stellen, bedeutet darum, etwas abzugrenzen, um es durch das Zentrum herauszustellen, ihm dadurch eine eigene Bedeutung beizugeben.

Man kann wohl kaum von einem Zufall sprechen, wenn ein Kreuz auf einem der Hochhäuser aufgestellt werden sollte, die Aufstellung genehmigt war, das Kreuz schon oben angekommen war und dann wieder abgebaut werden musste. Was der Grund für die plötzlich Sinnesänderung ist, konnte bis jetzt nicht ermittelt werden. Journalisten, die der Frage nachgingen, erhielten keine Antwort.

2.1. Angesichts des Unterschieds in Frankfurt/M ist der Inhalt der Predigt Jesu nicht verwunderlich. Er predigt die Rechtfertigung des Menschen vor Gott durch Gott. Der Mensch handelt nicht selbst, macht sich nicht selbst bei Gott angenehm, weil er, der Mensch, dazu gar nicht in der Lage ist; deshalb musste Gott selbst es tun, und er tat es.

Diese Tatsache ist nun auch unter Christen klar, obwohl sie wegen der Bedeutung der Rechtfertigung des Menschen vor Gott durch Gott Jahrhunderte lang gestritten haben, zerstritten waren, die Lutheraner und die Katholiken. Am 31.10.1999 unterschrieben sie in Augsburg beide gemeinsam, dass die Rechtfertigung kein Streitpunkt zwischen ihnen ist. Die Rechtfertigung war und ist so wichtig, dass sie deshalb Jahrhunderte hindurch stritten und dann, 1999, gemeinsam die Straßen und Kirchen Augsburgs füllten.

2.2. Und Jesus heilt. Was zu heilen bedeutet, wird im Text auch gleich gesagt. Sie, Kranke, Behinderte, Aufgegebene - damals Aus-sätzige, d.h. solche, die aus der Gemeinschaft aus-gesetzt, aus-gestoßen, eben aufgegeben - heute un-heilbare Krebskranke -, sind die, denen Jesus sich zuwendet. Auch hier findet eine Umwertung der Werte durch Jesus statt.

Was zu heilen bedeutet, wurde mir deutlich in einem Gespräch, dessen zeuge ich zufällig wurde. Der Direktor der Abteilung für Unfallchirurgie des Universitätsklinikums diskutierte mit anderen über sein Tun. Er wehrte sich heftig dagegen, die Chirurgie als "Reparaturbetrieb" zu sehen. Es geht ihm um Heilung. Nach einem Unfall im Haus, ein sehr häufiger Unfallort, nach einem Unfall auf der Straße, einem weiteren ständigen Unfallort, oder einem Unfall im Betrieb, auf dem Sportplatz oder wo auch immer der Unfall geschah, werden nachher Menschen ins Klinikum gebracht, weil sie selbst dazu nicht mehr in der Lage sind. Sie werden gebracht, damit ihnen hier geholfen werde. Was sie hier erwartet, ist etwas ganz anderes als ein Reparatur. Es geht nicht um ein Auto, das wieder fahrtüchtig gemacht wird, sondern um einen Menschen. Auto und Mensch sind verschieden, grundverschieden. Der Mensch ist mehr als das Auto. Das Auto ist für den Menschen da und nicht umgekehrt, wenn es gelegentlich auch so aussieht. Der Mensch lebt und leidet, auch wenn er nach einigen Tagen mit seinem gebrochenen Bein nach Hause gehen, humpeln kann. Der Junge leidet nicht nur am Bein, wenn er zusehen muß, wie sein Freund ihm seine Freundin ausspannt, auf die er schon immer scharf war und nutzt nun die Gelegenheit.

2.3. Und noch ein Punkt. Da ist das Geld. Ich muß noch einmal darauf zurückkommen. Es steht nichts davon in unserem Predigttext, aber weniger später ist davon die Rede und zwar in sehr deutlichen Worten. Ich weiß nicht, warum man bei der Abgrenzung des Textes die folgenden Verse weg ließ. Unser Text reicht bis V.7, und dann unmittelbar anschließend in den Versen 8 und 9 ist vom Geld die Rede. Waren die Verse vielleicht jemandem zu heiß?

Dort wird nämlich gesagt, dass die Jünger gratis heilen sollen. Ich muß sagen, dass ich hohe Achtung habe vor den Ärzten und Schwestern, die gratis helfen; die ihren Urlaub opfern und manchmal sogar in gefährdete Gebiete gehen, um zu helfen. Deshalb finde ich es auch nicht gut, wenn Schwestern und Krankenpfleger niedrige Löhne erhalten, wenn Ärzte lange Dienstzeiten schieben müssen und noch zusätzlich für die lange Zeit einen geringen Lohn erhalten. Noch vor nicht langer Zeit hätte man das "Ausbeutung" genannt.

Diese Münze hat wie jede Münze noch eine zweite Seite. Auch die Ausbeuter werden ausgebeutet. Das meine ich nicht zynisch, sondern ganz ernst. Die heutige Evangeliumslesung in unseren Gottesdiensten veranlasst, ja zwingt uns diese Seite der Münze mit zu bedenken. Heute wird im Evangelium gelesen die Geschichte "vom reichen Mann und dem armen Lazarus" (Lk. 16,19-31). Der reiche Mann, der Shareholder von damals, im Gleichnis ist der eigentlich Arme. Wir haben im NT gleich mehrere solcher Gleichnisse. Sie kennen sicher die Geschichte vom reichen Kornbauern, der eine reiche Ernte in seine Scheunen sammelt. Was geschieht heute mit den Reichen, wenn sie einen Unfall haben? Sie brauchen einen Arzt und zwar schnell. Das ist dann häufig einer der Ärzte, die schlecht bezahlt werden. Sie brauchen Krankenpfleger und Schwestern, die schlecht bezahlt werden. In eine teuere Klinik geflogen zu werden, würde zu lange dauern.

Viele Verdienenden im Frankfurt/M von heute können über die weniger gut Verdienenden vor den Haustüren ihrer Hochhäuser im Bankenviertels Frankfurts nur lächeln, wenn diese fröhlich sind, lachen, tanzen, Gottesdienste feiern, wenn Pfadfinder gratis in den Hallen die Sitzhocker auf- und dann wieder abbauen, wenn Johanniter, Malteser u.a. ihre Zeit opfern, um eine Versorgungsstruktur für die Massen aufzubauen, aufrecht zu erhalten und dann wieder abzubauen, um schließlich müde nach Hause zu fahren.

3. Noch ein NT-Zitat zum Schluß, weil es zeigt wie dringend Jesu Predigt und sein Heilen gebraucht werden. Es steht in Mt. 16,26: Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und nimmt Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse?

Amen

Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach, Göttingen
E-Mail: unembac@gwdg.de