1. Sonntag nach Trinitatis mit Diamantener Konfirmation, 17. Juni 2001
Predigt über Matthäus 9,35-10,5a, verfaßt von Wolfgang Petrak

Liebe Gemeinde, vor allem liebe Diamantene Konfirmandinnen und Konfirmanden,

Da ist nun unser Herr in die Städte und Dörfer gegangen, um die Menschen in ihrem Leben aufzusuchen und anzusprechen, denn die Welt Gottes will hineingehen in unsere Zeit. Dazu braucht es Menschen, die dieses weitertragen. Sollten wir da nicht auch hineingehen in unsere Zeit, aufsuchen, was gewesen ist, und ansprechen, was sein soll, zumal an diesem Tag?

Da machen sich die Gedanken auf. Damals, vor 60 Jahren. Weende.Wie ein Bild wird euch eure Konfirmation vor Augen stehen. Ich stelle mir es vor: Eher ernst als fröhlich dreinschauende Junges, das Haar zumeist kurz und knapp gescheitelt, die Mädchen mit einem angedeutetem Lächeln. Und in der Mitte, würdig mit hohem steifen Kragen und gut gestärktem Bäffchen, euer Konfirmator, Pastor Krohn. Der Fotograf Schulte hatte kurz zuvor noch etwas gesagt, und dann... ja dann ist aus dem Bild nichts geworden, vielleicht, weil das Filmmaterial in dieser Zeit schon so schlecht war. Oder weil es irgendeinen anderen Fehler gegeben hatte. Sicher, es wäre so wichtig gewesen, ein Foto in den Händen gehabt zu haben, das man hätte weitergeben können und an dem sich die Erinnerung entfaltet: sieh, das ist doch der...Und da ist sie. Doch du weißt auch so noch um die Namen, auch derer, die gegangen sind, hast im Gedächtnis auch die, die nicht zurück gekommen sind aus diesem Krieg. Du weißt genau um jene Zeit, die für Jugendliche eigentlich fröhlichen , gewissen Aufbruch bedeutet, ihr aber, eure Eltern: ihr musstet euch den Konfirmationsanzug per Bezugsschein besorgen, und vielleicht hatte die Nachbarin noch Samtstoff, um daraus ein Konfirmationskleid zu nähen; es ließe sich auf keinem Foto der Welt festhalten, wie irgendwie alles ging, und natürlich wurde gefeiert, und am nächsten Tag seid ihr mit Pastor Krohn hinaufgezogen nach Nikolausberg, dort gab es dann Brause, und wieder stellen sich Bilder ein, wie die Jungens unterwegs Knepe machten und nach den Mädchen schielten und die Mädchen keine Knepe machten, aber ihrerseits nach den Jungens schielten, und der Pastor ging mit sicherem Schritt voran. "Ein Pastor geht durch seine Gemeinde zu Fuß" , hatte Pastor Krohn jenen Männern in den langen Ledermänteln gesagt, als sie ihn zum Verhör bringen wollten. Und so war er durch das Dorf gegangen, gefolgt von dem Wagen der Gestapo.

"Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" hat unser Herr gesagt. So ist das Gehen der Ausdruck der Wahrheit, so geht der Herr in die Städte und Dörfer, um zu heilen und zu helfen, um die Wahrheit zu sagen und die Freiheit des Lebens zu bringen. Du kannst dir die Bilder ausmalen, wie die Menschen darauf gewartet haben hinter ihren verschlossenen Türen, im beengten abgedunkelten Raum, mehrere Generationen zusammen. Wie sich die Bilder, die Zeiten überlagern. Wie aus tiefstem Herzen heraus "Gott sei Dank" gesagt wird .Wie gleich daneben dieses "Warum?" steht, wie in einem dunklen und abgeschlossenen Raum, und niemand soll dran rühren.

Und du weißt auch, wie es weiter gegangen ist, mit dir und den anderen. Wie ihr zurückgehrt seid, siebzehnjährig oder auch später, eigentlich so jung, und doch so alt, denn die Bilder haben sich eingegraben, von dem Minensuchboot und dem brennendem Bremen und dem Himmel über Kassel, den Lazaretten und Stacheldrahtverhauen. Irgendwann hörtest du auch von den anderen und von denen, die nicht wiedergekommen waren: Beschuss der Straßenbahn im Ruhrgebiet, vermisst im Osten. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich als Kind am Volksempfänger, diesem Bakalit-Radio, sonnabends vor Peter Frankenfeld die Suchmeldungen des DRK hörte und froh darüber war, dass der Vater zu Haus war und dass er die Schlager, die nach den Meldungen kommen würden, mitpfeifen würde: "Die süßesten Früchte essen nur die großen Tiere...Bin nur ein Jonny". Angst hatte ich insgeheim vor unserer Nachbarin, die in einem Zimmer neben unserer Stube wohnte. Die Mutter hatte erklärt: "Sie ist eine Kriegerwitwe und trägt Schwarz". Wie zerrissen diese Zeit gewesen ist!
Wie nah rastloser Aufbruch und jäher Abgrund waren! Menschen, zerstreut und vertrieben, hungernd und voller Lebenserwartung, den Blick nach vorn richtend. Ja, es ging um Ziele und um Arbeit und Aufbau. Und abends wurde am Klostergut, versehen mit einem Heiß- oder Kaltgetränk zur singenden Säge und Akkordeon getanzt, während Bier und Band zunächst nur den Tommies vorbehalten waren. Gesungen wurde auch. Vielleicht in der einen Jugendgruppe: "Jesu geh voran". Und in der anderen: "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit". Gedacht wurde dabei wahrscheinlich das Gleiche: hoffentlich geht es aufwärts.

Und der Herr ging umher in alle Dörfer und Städte, und da er das Volk sah, jammerte ihn desselben, denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben: ja, das Reich Gottes kommt mit Orientierung und Aufbau. Erinnerst du dich, an die Zeiten und an den Konfirmandenunterricht? Jesus nennt Namen, Wenn man ganz oben anfängt, kennt man die auch nocht: Petrus und Andreas, Johannes und auch Jakobus, aber wer ist Thaddäus und die anderen? Wie man ja auch heute noch von Adenauer und Kurt Schumacher spricht, von Heuß und Dehler, vielleicht auch von Hermann Ehlers oder Otto Dibelius einerseits und Martin Niemöller andererseits, aber sicher auch von Gustav Heinmann, der sein christliches Gewissen über die politische Karriere gestellt hatte. Wenn man heute die Namen von damals nennt, dann um zugleich leicht skeptisch anzudeuten, wie sehr heute die großen Namen fehlen,- aber es ist doch so gewesen, dass ihr alle damals, so zerrissen und so niedergeschlagen ihr auch gewesen seid, doch vom Willen zum Neuanfang getragen worden seid, zwar kämpferisch unterschiedlich in den Ansichten, doch vereint in dem Wissen, dass wir Ziele für unser Leben und unsere Arbeit brauchen. Und das es von außen gesehen Unbekannte sind, die dieses weitergegeben haben. Was wären wir ohne unsere Eltern. Was würden wir denken, ohne die, die uns unterrichtet und mit denen wir uns auseinandergesetzt haben. Wo würden wir heute ohne den Rat und die Hilfe der Freunde und Nachbarn stehen? Nach den Zeiten gefragt und was sie darin getragen hätte, sagte mir eine von euch hatte mir ihren Konfirmationsspruch. Den wollte ich eigentlich gar nicht wissen, weil man heute als Pastor danach nicht fragt. Doch sie musste es einfach sagen. Denn das Wort ist wichtig. als Grund und Ziel: "Fürchte dich nicht, glaube nur". Daran kann man das Leben ausrichten. Es ist ja nicht so, sagte sie, dass alles Gold ist was glänzt; und dass das Leben auch seine Tiefen hat, die Werte der Fünfziger und Sechziger: Geld, Gesundheit und Schönheit: alles viel zu flach. Allein der Glaube. Man muss ja kein Kirchgänger sein...

Ach ja? Aber der Herr geht in die Städte und Dörfer und sieht was los ist und was den Menschen fehlt. Und er sendet Bekannte und Unbekannte in die Welt. Weil es die Jünger sind, haben sie bei ihm gelernt, was zu tun und zu hoffen ist. Jesus, Joshua, Gott sieht , wie niedergeschlagen, wie zerrissen und orientierungslos die Menschen sind. Und es jammert ihn, ja es rührt ihn zutiefst. Die Menschen, die von ihm gesandt sind zu heilen und zu helfen: wir werden damit anfangen müssen, die Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit an uns herankommen lassen müssen. So wie der Tag gestern (in Göttingen vielleicht) gewesen ist, liegen uns Kritik und Abgrenzung, der Ruf nach verbindlichen Werten und ihrer Durchsetzung nahe. Die Sendung der Christen in die Welt fängt jedoch mit dem Erbarmen an. Ob wir es schaffen können, uns von den Jüngeren zutiefst anrühren zu lassen, auf sie zuzugehen, obwohl sie nicht viel wissen von den Zeiten und Namen, der Arbeit und dem Glauben, die euch geprägt haben? Wie es mit unserer Zeit weitergeht, ist offen. Es bleibt die Bitte, dass Menschen, bekannte, unbekannte, in diese Welt gesendet werden, die eines `rüberbringen in diese Zeit: die Liebe Gottes, die höher ist als alle Vernunft, bewahrt allein Herz und Sinn.


P. Wolfgang Petrak
St.Petri Göttingen-Weende
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37077 Göttingen, den 14.Juni 01
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