2. Sonntag nach Trinitatis, 24. Juni 2001
Predigt über Jesaja 55,1-5, verfaßt von Heinz Janssen

"HÖRET, SO WERDET IHR LEBEN"

Predigttext Jes 55,1-5 (nach Martin Luther, Revision 1984)

1Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und eßt! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!
2 Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben.
3 Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben! Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, euch die beständigen Gnaden Davids zu geben.
(4 Siehe, ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt, zum Fürsten für sie und zum Gebieter.
5 Siehe, du wirst Heiden rufen, die du nicht kennst, und Heiden, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des HERRN willen, deines Gottes, und des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat.)


Liebe Gemeinde!

Ein Aufruf, sich kostenlos, gratis, zu holen, was man gewöhnlich teuer bezahlen muss. Essen und Trinken - kommt, greift zu, es kostet nichts, ihr bekommt alles umsonst! Für die Kostbar-keit des Wassers, wie sie in unserem Predigttext anklingt, haben wir hierzulande erst wieder ein Gefühl entwickeln müssen. Außer dem Wasser werden die noch kostbareren Getränke Wein und Milch verschenkt, und es gibt auch etwas zu essen!

I. Auf alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser, esst und trinkt! (V.1) Wie auf einem orientalischen Basar möchte sich hier eine Stimme Gehör verschaffen. Ob sie sich im Stimmen-gewirr durchsetzen wird? Da versucht einer den anderen marktschreierisch zu überbieten, die bessere Qualität seines Angebots anzupreisen und dafür zu werben. Aber jene Stimme lässt sich nicht abhalten, sie zieht sich nicht zurück, sie nimmt in Kauf, eine Stimme von vielen ande-ren zu sein. Eine freundlich einladende Stimme will sie sein, dafür kräftig werben, dass die Menschen das wirkliche, wahre Leben kennenlernen. Wir merken jetzt: die kostenlos angebo-tenen Lebensmittel Wasser, Wein und Milch, auch Brot, sind Bilder für Leben und Lebensfülle, Schönheit und Freude.

Diese freundliche Einladung zum Leben galt ursprünglich der israelitisch-jüdischen Gemeinde im babylonischen Exil im sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Für die meisten fern von der Heimat Gefangenen gab es keine Gedanken an Schönheit und Freude mehr. Die Hoffnung, bald wieder heimkehren zu können, schwand von Tag zu Tag dahin. Das Leben in der Gefangen-schaft war für sie kein Leben mehr. Was war nun mit der einst so glaubwürdigen Verheißung Gottes an König David und damit auch an das Volk, nachdem es mit dem Königtum jämmer-lich zu Ende ging? Leben und Lebensfülle, Hoffnung auf eine gute Zukunft waren ganz aus dem Blick geraten. Eben in diese traurige Situation hinein wird ein Prophet beauftragt, die freundliche Einladung zum Leben auszusprechen. Er wurde später wegen seiner guten und aufrichtenden Botschaft oft der "Evangelist des Alten Testaments" genannt. Die wichtige Not-wendende Bedeutung der Einladung wird durch die Frage unterstrichen: "Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und sauren Verdienst für das, was nicht satt macht?" - Die Betroffenen werden mit der Frage konfrontiert, warum sie in Dinge investieren, die ihren Hun-ger und Durst nach Leben nicht stillen können? - Weit verbreitet ist auch unter uns die Einstel-lung: Was nichts kostet, ist nichts wert. Teure Preise scheinen Qualität zu garantieren. Das Billige oder Kostenlose bleibt unbeachtet.

II. Jene Stimme hatte es damals ebenso schwer wie heutzutage, sich durchzusetzen. Mit ihrer "Warum"-Frage vertritt sie das Gegenteil von dem, was bei den Menschen auf dem "Markt des Lebens" Geltung hat. Jene Stimme meint, dass vieles, für das wir Geld ausgeben und um das wir uns mühen, nicht wirklich sättigt, uns erfüllt, den Hunger nach Leben und den Durst nach Erfüllung nicht stillen kann. Wieviele empfinden heute, auch wenn sie über großen materiellen Reichtum verfügen und sich Vieles leisten können, innerliche Leere. Haben wir trotz vieler Lebensmittel die Lebensmitte verloren?

Wir möchten jene Stimme fragen: Hast du denn wirklich Besseres anzubieten? - Und doch kann jede und jeder empfinden: Was nützt mir aller Lebensstandard, was nützt mir aller berufli-cher Erfolg, alle materiellen Güter, wenn ich kein Verständnis finde, wenn ich mich von keinem Menschen angenommen fühle, wenn ich zutiefst in meinem Inneren unzufrieden, unglücklich bin? Wir wissen: sich angenommen fühlen, Zufriedenheit, Glück - diese menschlichen Werte können nicht mit Geld gekauft werden, sie sind nicht käuflich. Erstaunlicherweise verheißt jene Stimme einen vollen Genuß. Einladend und werbend zugleich ruft sie: Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. Martin Luther übersetzte an dieser Stel-le ursprünglich (Übersetzung aus dem Jahre 1546): "Höret mir doch zu / vnd esset das gute / So wird ewer Seele in wollust fett werden". - Was ist das Leben, was ist wirkliches Leben? - Was jene Stimme ankündigte, war durchaus nichts Kärgliches. Das bessere Angebot besteht nicht in weniger Leben und Genuss, in Lebensverneinung oder gar Rückzug aus der Welt. Es geht um nicht weniger als um Lebensfülle. Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben.

III. Höret, so werdet ihr leben! Wer ist das, der so sprechen darf? - Kann so jemand von uns sprechen? - Mit solchen Worten würden wir uns doch sofort unglaubwürdig machen. Was ist das für ein Wort, auf das das bessere Angebot hinweist und den bedrückenden Kreislauf von ungesättigtem Leben durchbricht? Die Antwort bleibt nicht aus: 'Schenkt mir eure Aufmerk-samkeit', sagt jene Stimme, 'kommt her zu mir! Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, eine dauerhafte, unzerreißbare Verbindung eingehen, eine lebendige Beziehung. Was ich einst dem König David zugesagt habe, soll in der beständigen Lebensgemeinschaft zwischen mir und euch umfassende Wirklichkeit werden'.

Nun wird deutlich: Jene Stimme kommt von Gott. So kann niemand anderes als Gott sprechen. Damals wie heute sucht Gott hörende und nachdenkliche Menschen. Damals wie heute wirbt er mitten im Stimmengewirr des Alltags, uns wieder auf das Leben einzustellen...Aber damals wie heute hat es Gottes Stimme auch schwer, das Herz der Menschen zu erreichen, bei ihnen Zu-trauen zu dem zu erwecken, was sie sagt - damals bei den Juden in babylonischer Gefangen-schaft ebenso wie bei uns in den tausend Gefangenschaften unseres Lebens. Bis heute mag so mancher Mensch denken und es zuweilen offen aussprechen: Ich will von diesem Gott nichts (mehr) wissen, der mir dieses versagte und jenes nahm. Aber die Stimme Gottes sucht uns, sie bleibt bei ihrem Angebot und bringt sich auch noch heute bei uns in Erinnerung.

IV. In der gößten Aussichtslosigkeit will Gott mit mir neu anfangen, in meiner Verzweiflung, in meinem Enttäuscht- oder Verbittertsein, in meiner Unersättlichkeit und Sehnsucht nach Le-ben, erfülltem Leben? - Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, spricht Gott. Diese Verheißung verbindet uns als Kirche Jesu Christi mit der Synagoge, mit unseren "älteren Schwestern und Brüdern", an die sie zuerst gerichtet war. Der Gott Israels und Jesu bietet uns seine verlässliche und beständige - alle menschlichen Grenzen überwindende - Gemeinschaft an. Menschliche Gemeinschaft kann zerbrechen, seine Gemeinschaft bleibt bestehen. Sie will in unsere menschlichen Beziehungen aufbauend und heilend hineinwirken.

Auch wir sind heute - wie damals die Israeliten in ihrer Sehnsucht nach Befreiung aus der Ge-fangenschaft - eingeladen, bei Ihm, GOTT, das Leben zu suchen. Gott ruft alle, die Hunger und Durst nach Leben haben, die sich nicht einfach abfinden mit dem, was ist. Gott führt uns zum frischen Wasser (Psalm 23,2). Diese Einladung klingt ein halbes Jahrtausend später noch-einmal in der Einladung Jesu auf, die als Wochenspruch unseren Glauben stärken will; sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Stimme, die uns im Namen Gottes Leben verheißt, wirkliches Leben, das uns in schwierigen Lebenssituationen, aufatmen, aufleben lässt: "Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken".

Gottes und Jesu verlässliche Nähe dürfen wir in der Feier des Heiligen Abendmahls erfahren: "Schmecket und sehet, wie freundlich Gott ist. Wohl dem, der auf ihn trauet!" (Psalm 34,9). Martin Luther rief im Anklang an den einladenden Grundton unseres Predigttextes einmal sein Volk auf: "Kauft, solange der Markt vor der Tür ist! Braucht Gottes Wort und Gnade, solange sie da sind!" Ja, das Leben ist da, und wir sind gefragt und herausgefordert, wie wir mit dem (Geschenk des) Leben(s) umgehen. Wohlan alle, die ihr hungert und dürstet nach Leben, kommt her zu mir, spricht Gott, hört doch auf mich, das wird euch und allen, denen ihr begeg-net, gut tun. Ihr werdet euch an dem Brot und der Quelle des Lebens freuen und damit gestärkt auf dem Weg des Glaubens, der Hoffnung gegen allen Augenschein und der Liebe gehen - in das Heute Gottes. Amen.

Exegetisch-homiletische Hinweise: In unserer Perikopenordnung gibt es immer noch viel zu wenig Texte aus der Bibel Israels, die als das "Alte" bzw. "Erste Testament" immerhin zwei Drittel unserer christlichen Bibel umfasst. Darum sollten solche Texte mit besonderem Bedacht gepredigt und dabei auf die gemeinsamen Wur-zeln von Kirche und Synagoge, von Christen und Juden - gerade im Hinblick auf die Rede vom "ewigen Bund" Gottes (V.3b) - hingewiesen werden. Der Predigttext Jesaja 55,1-5 bietet uns die Chance des hörenden Ge-sprächs mit der Judenheit. Es ist nicht ratsam, den literarisch einheitlichen Text zu zerstückeln, indem man etwa Vv.3b-5 und damit die kerygmatische Mitte auslässt. Im Zentrum von Jesaja 55,1-5 steht eine Heilsan-kündigung. Ihr Inhalt ist die Zusage Gottes eines bleibenden Bundes mit seinem Volk (V.3b), die in V.4 mit einem Rückblick auf den Davidbund und in V.5a mit der Ausweitung ("Demokratisierung" G.v.Rad) der ur-sprünglich König David zugedachten "Gnadenerweise" Gottes auf das ganze Volk Israel entfaltet werden. Der Zuspruch ergeht "um deines Gottes, des Heiligen Israels, willen" (V.5b), ein Ausdruck, der hervorhebt, dass Gottes Heilshandeln "ohn all mein Verdienst und Würdigkeit" (M.Luther) geschieht. Gottes Verheißung "wird sich darin erweisen, daß Israel auf eine völlig neue Weise über sich hinauswächst und für die anderen Völker zum Zeugen des wunderbaren Wirkens seines Gottes wird" (C.Westermann, ATD 19, 230). Wer dürfte gegen-über diesem universalen Handeln Gottes Grenzen aufrichten?

Liedvorschläge: EG 168 Du hast uns, Herr, gerufen; 225 Komm, sag es allen weiter; 229 Kommt mit Gaben und Lobgesang; 171 Bewahre uns Gott

Heinz Janssen
Pfarrer an der Providenz-Kirche Heidelberg
und Lehrbeauftragter für Altes Testament an der J.W.Goethe-Universität Frankfurt/M.
E-Mail: Providenz@aol.com