3. Sonntag nach Trinitatis, 1. Juli 2001
Predigt über Lukas 19,1-10, verfaßt von Peter Weigandt

Eine merkwürdige Geschichte! Da zog Jesus durch Jericho, die Oasenstadt unweit des Toten Meeres, war schon auf dem Weg nach Jerusalem, und kehrte dann wieder um. Zu einem Gang durch diese Stadt lade ich Sie jetzt ein.

Wie Wilhelmshöhe in Kassel früher Sommerresidenz des letzten deutschen Kaisers war, war Jericho einst Winterresidenz Herodes des Großen, des letzten Königs der Juden. Nach dessen Tod wurde die Stadt zu einem kleinem, aber feinem Kurort, in dem die reichen Jerusalemer bei angenehmen 20° den Winter verbrachten, während es in ihrer hochgelegenen Stadt womöglich schneite. Paläste, Villen, Badeanlagen, Gärten, Theater, Amphitheater und Rennbahn bestimmten das Bild der damaligen Bezirkshauptstadt. Hinzu kamen die Gebäude des Militärs, der Steuerbehörden und Gerichte. Und wie es in solchen Kleinstädten ist: Jeder kannte jeden.

Wirtschaftlich ging es den Menschen gut. Man exportierte Balsam für medizinische und kos-metische Zwecke, Datteln, Feigen und Wein. Der jüdische Historiker Josephus schrieb damals über diese vom Klima begünstigte, wasserreiche Oase, "daß man nicht fehlgehen würde, wenn man diesen Ort als göttlich bezeichnete, an dem so reichlich die seltensten und schönsten Pflanzen wachsen."

Zwei Wegstunden östlich der Stadt gab es eine Furt und eine Fähre über den Jordan und damit den Zugang zu den großen Krawanenstraßen. Der Jordan war die Landesgrenze. An Grenzen gibt es Zoll und Zöllner. Daran hat sich wenig geändert. Zwar brauchten die Bürger zur Zeit Jesu weit weniger Steuern zu zahlen als wir heute. Aber auch in jenen Tagen war die Staatskasse unersättlich. So mußten Zölle einbringen, was Steuern nicht einbrachten. Darum kassierten die Römer an vielen Stellen des Landes Zölle - oder richtiger: ließen kassieren. Denn sie hatten ihre Leute dafür, Einheimische wie Zachäus, die als Zollpächter mit der verhaßten Besatzungsmacht zusammenarbeiteten. Kollaboration war schon immer schlimm und besonders damals. Denn wer sich als Jude mit den heidnischen Römern einließ, galt als unrein und durfte darum nicht am Gottesdienst teilnehmen, und, wer mit solchen unreinen Leuten zusammenkam, wurde selber unrein.

Hinzu kam dies: Die Leute, die für die Römer Zölle einzogen, hatten die Einnahmen von einer oder - wie Zachäus, einer der Großen im Zollgeschäft - von mehreren Zollstellen gepachtet. Dafür mußten sie dem kaiserlichen Fiscus hohe Vorauszahlungen leisten. Wen wundert es, wenn sie versuchten, für sich einen möglichst großen Gewinn zu erwirtschaften. Betrug gehörte mit zum Geschäft; denn nicht jeder, der zahlen mußte, kannte die amtlichen Tarife. In Jericho waren es übrigens 25 % des Warenwertes.

Kurz, Zollpächter galten bei ihren Volks- und Glaubensgenossen nicht ohne Grund als Landesverräter, Erpresser und Betrüger. Wenn wir bedenken, daß auch Zöllner Familien hatten - und die Angehörigen von Zöllnern waren nicht besser angesehen als diese selbst -, dann können wir uns vorstellen, in welcher Atmosphäre das Familienleben des Zachäus trotz allen Reichtums sich abspielte, die Kinder heranwuchsen. Die Leute mieden jeden Kontakt, der über das Berufliche hinausging, mit ihm, sahen vorbei, wenn sie ihm begegneten. Zudem gehörte er zu denen, deren Motto war: Der gute Mensch denkt an sich, selbst zuletzt.

Meistens war in Jericho nicht viel los. Da hörte man eines Tages, daß Jesus von Nazaret durch die Stadt kommen werde. Im Nu waren alle auf den Beinen, um diese Sensation nicht zu verpassen, auch Zachäus. Gedrängt voll waren die Straßen. Verzweifelt versuchte der große Zollpächter Zachäus, dem Gott nur eine kleine Gestalt gegeben hatte, sich durchzudrängeln. Doch seine Mitbürger ließen ihn hinten stehen. Endlich konnten sie es ihm einmal zeigen.

Zachäus war aber nicht aufzuhalten. "Ich muß diesen Jesus sehen", sagte er sich. Warum, wußte er nicht genau. Aber er mußte ihn sehen! Er lief ein Stück die Straße nach Jerusalem voraus und kletterte auf einen großen, dicht belaubten Maulbeerfeigenbaum, wie sie noch heute dort wachsen. "Hier werde ich nicht gesehen und kann selber gut sehen", mag er sich gesagt haben. Als Jesus kam, sah er zu Zachäus hinauf. Er wußte, daß ihn dieser Mensch suchte, sah ihn an und sagte: "Zachäus, spute dich, steige herab. Heute muß ich in deinem Haus bleiben." Schneller, als er hinaufgekommen war, stand Zachäus wieder unten und nahm Jesus mit in sein Haus. Daß er sich freute, wer wird ihm das verdenken? Zu ihm, der von allen gemiedenen und geschnittenen wurde, ausgerechnet zu ihm, kam Jesus.

Natürlich empörten sich die anderen, die rechtschaffenen Bürger Jerichos lautstark über das Geschehene. Hätten wir uns nicht auch darüber aufgeregt? "Unerhört!" "Warum kehrt er nicht bei einem ein, der es verdient?" "Wie kann Jesus sich nur mit diesem üblen Burschen einlassen?" So oder noch deutlicher mögen ihre Bemerkungen gewesen sein. Denn ein übler Bursche bleibt ein übler Bursche. Das wußten die Jerichoer genau. Wäre es nach ihnen gegangen, hätte Jesus ihre Stadt - wie geplant - durchquert und auf diese Unterbrechung seiner Reise verzichtet. Dann hätten sie ihn gesehen - das war ja alles, was sie wollten - und er hätte ihnen diesen Ärger erspart.

Doch was war mit Zachäus los? Sagte doch der hartgesottene und mit allen Wassern gewaschene Zollpächter zu Jesus - und die um ihn herum standen, hörten es -: "Herr, ich verspreche dir, ich werde die Hälfte meines Besitzes den Armen geben. Und wenn ich jemanden um etwas betrogen habe, will ich ihm das Vierfache zurückgeben." Das war viel, mehr als das jüdischen Gesetz zur Wiedergutmachung vorschrieb. Was war geschehen?

Wie jeder Mensch brauchte Zachäus einen, der ihn von seiner Schuld freisprach und ihm einen neuen Anfang eröffnete. Er hatte das sichere Gefühl, daß dieser Jesus, der sich einfach beim ihm einlud, solch einer sei. Deshalb ließ er sich von ihm ansprechen. Und weil er sich von ihm ansprechen ließ, geschah dies: Zachäus erkannte, was er falsch gemacht hatte und kehrte auf seinem Lebensweg um. Aber er schlich sich nun nicht wie ein geprügelter Hund aus seinem bisherigen Lebenskreis hinaus, sondern blieb dort, wo er gelebt hatte. Nur betrieb er jetzt sein Geschäft menschlicher, den geltenden Regeln entsprechend. Nicht sein Beruf hatte ihn unrein gemacht, sondern wie er diesen Beruf ausgeübt hatte. Schließlich gab es auch unter den Juden Zollpächter, die die Achtung ihrer Mitmenschen erringen konnten.

Zachäus konnte so umkehren. Es machte ihm nichts aus. Denn da war ja einer, der ihn nicht mied wie die anderen; einer, der ihn zur Kenntnis nahm, einer, der nicht bloß beruflich mit ihm verkehrte, obwohl er gar keinen Anlaß hatte - oder doch? Denn dieser Jesus aus Nazaret hatte einmal gesagt, daß nicht die Gesunden einen Arzt brauchten, sondern die Kranken. Und er hatte auch gesagt, es sei nicht seine Aufgabe, die in Gottes neue Welt einzuladen, bei denen alles in Ordnung sei, sondern die Ausgestoßenen und Schuldbeladenen.

Sozusagen im Handumdrehen war Zachäus ein neuer Mensch geworden, nur weil ihn jemand nicht übersah, sondern auf seinem Ast sitzen sah und ihn ansah; weil ihn einer nicht mit eisigem Schweigen überging, sondern auf ihn zuging: "Heute muß ich in deinem Haus bleiben." Das heißt soviel wie: "Heute hat dich Gott mit deiner ganzen Familie angenommen." Zachäus wird sich gefühlt haben wie einer, der plötzlich von einer ansteckenden Krankheit geheilt war. Und nicht nur er war geheilt, sondern auch seine Familie. Sie konnten jetzt leben wie andere Familien auch.

Hier verbirgt sich eine ganz aktuelle Botschaft, gut verpackt in eine Geschichte, die zwar fest in Ort und Zeit verankert, aber zugleich weit von uns entfernt ist. Denn wir alle leben von der Liebe Gottes, die wir durch andere Menschen erfahren, durch Menschen, die uns nicht übergehen und übersehen, sondern die uns ermutigen und trösten, die uns auch dann noch ansehen, wenn wir für andere nur noch Luft sind. Wir leben alle davon, daß Gott uns seine Liebe durch andere Menschen schenkt. Könnten dann nicht gerade wir als von Gott so reich Beschenkte besonders gut weiterschenken? Darum lassen Sie uns Ausschau halten nach denen, die auf einen Baum gestiegen sind, die nicht gesehen werden möchten und doch auf einen warten. Es gibt mehr Wartende, als wir denken, auch hier im Haus und im Internet.


Dr. Peter Weigandt
Glockenblumenweg 9
34128 Kassel
Tel. (0561) 882 01 86

Lit.: Chr. Zippert (Hg.): Gottesdienstbuch. Gütersloh 1990. S. 96f.
Liedvorschläge: EG 155,1; 316,1-3; 346,1.3; 355,1-3; 421