6. Sonntag nach Trinitatis, 22. Juli 2001
Predigt über Jesaja 43, 1-7 von Walter Meyer-Roscher

Jesaja 43, 1-7:
So spricht der Herr, der dich geschaffen hat. Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben, Kusch und Seba an deiner Statt, weil du ich meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe. Ich gebe Menschen an deiner Statt und Völker für dein Leben. So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her! und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.

Anmerkung zur Predigt

Liebe Gemeinde,

"Heute lernen wir die Sprache, in der Gott das Leben geschaffen hat". Mit diesen Worten trat vor einem Jahr der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, Bill Clinton, vor die Weltpresse, um das amerikanische Forschungsprojekt zur Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes vorzustellen. Inzwischen redet alle Welt von der Gentechnologie. Die einen preisen sie im Hochgefühl des Triumphes, die letzten Geheimnisse der Schöpfung zu enträtseln und kommenden Generationen ein Leben in Gesundheit und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Die anderen warnen vor einem Missbrauch der Forschungsergebnisse und haben Angst vor der Möglichkeit, dass künftig Leben gezüchtet, manipuliert und verwertet werden kann.

Eigentlich sollte sich niemand dem Gedanken verschließen, die Gentechnologie zum rechtzeitigen Erkennen und Therapieren von Erbkrankheiten zu nutzen. Leiden und Leid können gemildert, Gesundheit kann gestärkt, menschliches Leben kann lebenswerter werden.

Aber müssen nicht auch die Kritiker gehört werden? Darf man wirklich die unverwechselbare Identität eines Menschen mit Hilfe der Gentechnologie bestimmen? Immerhin zeigte schon auf der EXPO im Themenpark "Der Mensch" ein Film, wie Eltern die Eigenschaften ihres künftigen Kindes mit Hilfe der Gentechnik selbst festlegen. Der Regisseur Stephen Spielberg - bekannt durch Filme wie "Jurassic Park" oder "Schindlers Liste" - hat mit einem neuen Film das Schicksal eines solchen Designer-Kindes beleuchtet. In Amerika läuft er schon unter dem Titel A.I. - Artificial Intelligence - Künstliche Intelligenz.

Es ist die Geschichte eines Wunschkindes mit ganz bestimmten, im Voraus festgelegten Eigenschaften. Dieses Kind soll nach dem Willen seiner Eltern sie einmal über den möglichen Verlust ihres ersten Kindes hinwegtrösten, das ernsthaft erkrankt ist. Das künstliche gezeugte Wunschkind wächst heran und bezaubert Eltern und Umwelt mit den gewünschten und gezüchteten Eigenschaften und mit seiner gesteuerten Intelligenz. Aber das Kind, das es ersetzen soll, bleibt wunderbarerweise am Leben und beansprucht weiterhin den ersten Platz in der Familie. Es verdrängt auf Dauer in der Gunst der Eltern das ja schließlich nur als "Ersatz" künstlich erzeugte Geschwisterkind. Dieses aber fühlt sich ausgegrenzt und diskriminiert - ein Menschenkind, das an sich selbst verzweifelt. "Wer bin ich", fragt es. "Ich bin doch Ich", klagt es, "ich bin doch einmalig, bin doch unverwechselbar".

Die Bestimmung der Eigenschaften eines kleinen Menschenkindes durch Eingriffe in das Erbgut ist - technisch gesehen - keineswegs mehr unmöglich. Wollen wir auf diese Weise die Sprache lernen, in der Gott das Leben geschaffen hat? Bestimmen w i r jetzt die Identität eines Menschen? Entscheiden w i r, was ihn zu diesem einen unverwechselbaren, einzigartigen Menschen macht? Bleibt er dann wirklich noch einzigartig oder ist er austauschbar?

Unsere Gesellschaft tut ja schon alles, um die Einzigartigkeit eines Menschen zu nivellieren und seine Unverwechselbarkeit nur noch durch Zahlen auf einer Chip-Karte auszudrücken.

"Ihre Patientennummer, bitte", heißt es am Empfangstresen vieler Arztpraxen. "Geben Sie Ihre Pin ein", lesen wir, wenn wir unser Handy einschalten. Und am Geldautomaten wird erst einmal unsere Geheimnummer abgefragt, ehe wir unser eigenes Geld abheben können. Unser Passbild allein tut es auch nicht mehr. Die eingestanzte Nummer erst verhilft uns zu unserer wahren Identität auf Ämtern und Behörden.

Anonym in der Masse, nur eine Nummer in den Lebensvollzügen der Gesellschaft! Dann ist man doch auch austauschbar. In der Wirtschaft, in der industriellen Arbeitswelt ist das so. Eine Managerin gibt offen zu, "die neuen Produktionsweisen kalkulieren mit der austauschbaren Verwertbarkeit des Menschen."

Anonymität, Austauschbarkeit - das kann Menschen krank machen, die sich wie das Wunschkind in Spielbergs Film fragen müssen: Wer bin ich eigentlich für meine Umwelt, bin ich überhaupt noch eine Person, die geachtet und geliebt wird oder bin ich überflüssig, bin ich für unsere Gesellschaft letzen Endes nur ein Kostenfaktor, ein Verwertungsobjekt, eine Nummer? Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle aber - das wissen wir doch - sind eine Quelle von Konflikten und Gewalt.

Da hilft dann auch eine Verbesserung des Erbgutes nicht entscheidend, wenn wir letzten Endes doch nur dazu bestimmt sind, als Nummern zu existieren. Eine Gesellschaft von anonymen Einzelwesen, die sich nur noch mit einer genormten Plastikkarte zu Wort melden oder als Nummern aufgerufen werden, hat doch keine Zukunft. In einer solchen Gesellschaft werden Einsatz für andere und Engagement für das Gemeinwohl immer mehr verkümmern. Düstere Zukunftsaussichten! Sie machen uns Angst.

Wer bin ich in Wahrheit und wer bestimmt meine Identität als ein unverwechselbarer, besonderer Mensch - Biowissenschaftler, Gentechniker oder anonyme Verwaltungsapparate, die mich zur Nummer degradieren? Wer bestimmt meine Identität, mein Menschsein?

Die Frage ist nicht neu. Der Prophet, den wir Deuterojesaja, den zweiten Jesaja, nennen, hat im Exil in Babylon Menschen vor sich, die seit zwei Generationen fern ihrer Heimat, abgeschnitten von ihren besonderen kulturellen Wurzeln und ihrer Geschichte leben müssen. Für ihre Umwelt sind sie eine Masse anonymer Fremder, Gefangene. Und Gefangene sind eben nur Nummern. Sie leiden darunter. Sie meinen, austauschbar zu sein, vergessen selbst von ihrem Gott.

Aber wie sie damals sehnen wir uns doch alle danach, nicht vergessen zu werden, nicht nur als anonyme, austauschbare Nummern zu leben. Jemand sein, eine unverwechselbare, einzigartige Person - das ist doch ein menschliches Urbedürfnis. Wir alle spüren es - die damals und wir heute. Unser Leben muss doch so etwas wie einen "Mehrwert" haben, mehr als nur die biologischen Abläufe zwischen Geburt und Tod, mehr als nur die austauschbare Verwertbarkeit, die namenlose Existenz als Nummer in einer anonymen Gesellschaft.

Von diesem Mehrwert spricht der Prophet, wenn er die Zusage Gottes weitergibt: "Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein." Diese Zusage ist keine Beschwichtigung nach der Melodie: Es ist doch alles halb so schlimm, es wird schon werden. Sie ist auch kein Versprechen eines Lebens ohne Gefahren, ohne bedrängende Probleme. Versprochen wird nicht die Bewahrung v o r Gefahren und Problemen, sondern i n all den Situationen, die uns Angst machen. "Fürchte dich nicht", sagt Gott, "wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen, und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen". Das ist nicht wörtlich zu verstehen. Die Elemente Feuer und Wasser sind Symbole für die elementaren Gefährdungen des Lebens, für alles, was uns zu schaffen macht, uns bedrängt und uns entmutigt. "Lass dich nicht entmutigen, fürchte dich nicht", sagt Gott. "Ich will bei dir sein".

Der Prophet erinnert daran, dass Gott, der seine Nähe und seine Begleitung auf dem Weg in die Zukunft verspricht, uns nicht unbekannt ist. "So spricht der Herr, der dich geschaffen hat", sagt er. Er redet vom Schöpfer des Lebens, von Gott, der alles Leben schenkt - immer noch, auch wenn manche meinen, ausschließlich der Gentechnologie und menschlichem Forscherdrang neues Leben zu verdanken.

Wer die Geburt eines kleinen Menschenkindes noch als ein wirkliches Wunder bestaunen kann, der ist doch ansprechbar für diese Erinnerung des Propheten, dass unser Leben ein Werk des Schöpfers, ein Geschenk Gottes ist. Und dann ist er auch ansprechbar für seine Zusage: "Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein".

Erfahrbar wird diese Zusage schon in der Taufe des neu geborenen kleinen Menschenkindes. Da wird sein Name genannt, seinem Leben im Auftrag Gottes eine nur ihm eigene Bedeutung und ein einzigartiger Wert zugesprochen. Ehe dieser Mensch sich selbst und anderen beweisen kann, wer er ist, ehe er irgendeine Leistung erbringen, einen Erfolg vorweisen kann, sagt Gott ihm: "Ich habe dich aus der Anonymität herausgerufen, bei deinem Namen genannt. Du gehörst mir." Und das gilt auch, wenn die Gesellschaft ihn nur als eine Nummer wahrnehmen will - eine unter unzähligen anderen. "Du bist nicht austauschbar", sagt Gott. "Du bist unersetzbar, weil ich dich liebe. In meinen Augen hat dein Leben einen einzigartigen Wert und eine unzerstörbare Würde. Deshalb fürchte dich nicht vor der Zukunft, auch nicht vor den Gefahren und Problemen, die auf dich zukommen. Ich gehe mit auf deinem Weg, in deiner Nähe".

Gottes Zusage gilt weiter. Gerade wenn wir meinen, in anonymen Strukturen gefangen zu sein, abhängig und unfrei, erinnert uns Gott: "Ich habe dich erlöst, gewissermaßen aus solchen Zwängen freigekauft, wie die Mächtigen früher einen Sklaven freigekauft haben. Diese Freiheit kannst du nutzen. Die Gaben und Fähigkeiten, die ich dir mit deinem Leben mitgegeben haben, kannst du sinnvoll einsetzen für dich, für andere und für die Gemeinschaft, in der du lebst. Lass dich nicht entmutigen, du bist nicht bedeutungslos. Wo du dich für andere einsetzt, wo du dich für die Gemeinschaft engagierst, für Mitmenschlichkeit und für das Leben, da bist du jemand und da hat dein Leben einen Sinn. Scheue dich nicht, diesen Weg der Freiheit, den ich dir eröffnet habe, nun auch entschlossen zu gehen. Ich gehe mit, in deiner Nähe".

Das ist eine Sprache, die jeder versteht, die aber viele wieder vergessen haben, die Sprache Gottes, die unsere Seele anspricht und die unser Leben lebenswert macht. Menschen arbeiten daran, die Sprache zu lernen, in der - wie Präsident Clinton es ausgedrückt hat - Gott das Leben geschaffen hat, die Sprache, durch die alle körperlichen Merkmale und Eigenschaften eines Menschenlebens angelegt werden. Vielleicht ist es für unsere Zukunft und für die Zukunft unserer Gesellschaft noch wichtiger, sich an die andere Sprache Gottes zu erinnern, die durch den Propheten Deuterojesaja zum ersten Mal für entmutigte, von Anonymität bedrängte und von Angst gelähmte Menschen laut geworden ist: "Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein".

Diese Sprache Gottes bezieht alle Menschen ein. Sie spricht jeden Einzelnen an. Sie richtet sich dann aber auch an die Gemeinschaft aller, die Gottes Zusage hören. "Alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen habe", sagt er, "will ich in einer Gemeinschaft zusammenführen, zu der Menschen aus Ost und West ebenso gehören wie die vom Norden und vom Süden der Welt". Wir reden von der Gemeinschaft der Kinder Gottes, die seine Sprache über alle Grenzen hinweg öffentlich und vernehmbar nachsprechen soll - Gottes Sprache, die die Menschen damals wie heute das Hoffen lehrt.

Amen

Anmerkung zur Predigt:

Nach der liturgischen Ordnung unserer Kirche stehen an diesem Sonntag Taufe und Tauferinnerung im Vordergrund. Der erste Vers des Predigttextes - gleichzeitig der Wochenspruch - ist schon zu Beginn der Kirchengeschichte auf die Taufe und die Getauften bezogen worden. Gottes Zusage an sein Volk im Exil in Babylon gilt weiter - seit Jesus Christus ohne Einschränkung für alle, "die mit meinem (Gottes) Namen genannt sind" (Vers 7). Sie gilt dem Einzelnen ebenso wie der Gemeinschaft der Kinder Gottes.

Die Predigt konzentriert sich auf diese Zusage und versucht, sie im Umfeld angstmachender Erfahrungen und problematischer Tendenzen in unserer Gesellschaft als "Erlösung" (Vers 11) und ermutigende Hoffnung zu konkretisieren.

Walter Meyer-Roscher
Landessuperintendent i.R.
Adelogstr. 1
31141 Hildesheim

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