Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch 
8. Sonntag nach Trinitatis, 05. August 2001
Predigt über Johannes 9,1-7 von D. Reichert

 

Liebe Gemeinde,
Wunder und Heilungen sind begehrt. Einmal mehr, ein andermal weniger. Zur Zeit sind sie wieder eher auf dem Mehrweg. .
Wundern muss das eigentlich nicht. Lange genug wurde als Regression in die Kindheit das denunziert, was als heimliche Sehnsucht nach heiler Welt immer wieder ein Stück Anschub, Wirkkraft und Motivation gewesen ist, die zu Veränderungen geführt hat.
Jenes Stück Hoffnung nach einer Welt, die endlich so in Ordnung ist, wie ich sie möchte, und wie ich sie mir wünsche.
Wo Wunder nicht mehr einfach ins Abseits gestellt bleiben, sondern eben vielleicht so ein wenig auf dem Mehrweg sind, merke ich zugleich, dass plötzlich gerade die Worte fehlen, um jetzt und verstehbar von Wundern zu reden.
Worte fehlen, um so von ihnen zu reden, dass andere es hören, `das meint sie, davon redet er, das gibt es´.
Worte fehlen, dass andere genau das hören und dann selbst sagen, `das meine ich auch und das will ich auch´.
Trotzdem, Wunder sind begehrt, warum auch nicht. auch nicht?

Wer würde heute, wenn Wunder nicht begehrt wären in einem Umkreis von sagen wir einmal mehr als hundert Kilometern den Namen von Lengede heute noch kennen, wenn nicht damals, - wann es genau war, weiß ich, ohne nachzuschlagen, selbst nicht mehr, aber der Name ist geblieben - , wenn nicht damals bei dem Grubenunglück Menschen gegen alle Wahrscheinlichkeit gerettet worden wären?
Aus der Welt waren Wunder nie, auch wenn ihre Tonstärke geringer gewesen war und der Gedanke an sie öfter dann nur noch auftrat, wenn sie gerade nicht eintraten.

Wir sind bereit für Wunder und Heilungen und nicht nur dann, wenn sie uns selbst betreffen,
Das tun sie statistisch ja bekanntlich am seltensten. Wir sind es auch nicht einfach im Gegenüber und in der alten Konfrontation zu dem, was wir an naturwissenschaftlichen Gesetzen kennen, sondern durchaus neben und mit ihnen.
Wunder müssen nicht nur der Rest von dem sein, was wir noch nicht wissen, - nicht allein das, was sich reduziert, je mehr ich weiß,
sondern Wunder und das, was ich nachweisbar weiß, scheinen auf dem Weg zu einem vielleicht nicht ausgewogenen, aber auf alle Fälle nicht nur konkurrenzbezogenen Nebeneinander.

Warum ich das erzähle?
Johannes erzählt eine Wundergeschichte, und von der will ich Ihnen erzählen, - nein, ich will sie Ihnen erzählen.
Vorweg gesagt, für die unter Ihnen, die die Überschriften der Bibel noch im Ohr haben, es ist die Heilung des Blindgeborenen im 9.Kapitel des Johannesevangeliums.

Wundergeschichten haben etwas von Märchen und Märchen haben etwas von Wirklichkeit.
Märchen und Wundergeschichten haben manches, worin sie sich berühren, aber sie haben auch Wesentliches, was sie trennt.
Märchen fangen an mit ihrem `es war einmal´, Wundergeschichten nicht. Dabei steht in den Märchen das `es war einmal´ genaugenommen für die Worte `so war es nie´. Und wo es am Ende heißt, `und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute´ , dann steht das für den Gedanken `schön wäre es, wenn...´.
Märchen markieren deutlich, `das ist nicht wirklich so´, und gleichzeitig transportieren sie zwischen Anfangs- und Schlusssatz Erfahrungen, die aus der Wirklichkeit gewonnen sind, -
und legen mit ihnen Schlussfolgerungen und Ratschläge nahe.

Wundergeschichten geben keine Ratschläge, und sie transportieren auch keine Erfahrungen.
Mit ihnen geht es andersherum: Die Begegnung des Glaubens mit Jesus Christus und die Erfahrung mit dem Evangelium ist es, die die Wundergeschichten mittransportiert.
Und mit ihnen wird gleichzeitig Wirkliches mittransportiert und weitergegeben. Dazu gehört auch, dass viele Wundergeschichten mit einer festen Redewendung aufhören, `und sie lobten Gott´, - sie, nämlich die Leute, Menschen, die dabei waren und dabei etwas von Gott begriffen und verstanden haben.
Märchen erzählen etwas, Wundergeschichte werden miterzählt.

Also bei Johannes Kapitel 9, die Verse 1bis 7, die Heilung des Blindgeborenen. ((Textverlesung))

Johannes erzählt ein Gespräch zwischen Jesus und den Jüngern. Da ist ein äußerer Anlass, eine Frage, eine Antwort, eine Behauptung und dann ein Heilungswunder.
Aber was erzählt Johannes da eigentlich?

Mitten auf dem Weg nach Jerusalem kommt Jesus mit den Jüngern an einem Blinden vorbei, an einem, der von Geburt an blind ist. Er wird kein großes Schild neben sich stehen gehabt haben, "bin blind von Geburt an". Herausgerufen hat er es vielleicht, um auf sich aufmerksam zu machen - oder auch nicht. Jedenfalls Jesus und die Jünger und wer immer die Geschichte hört oder liest, weiß es. Warum und wie, das ist offenbar nicht wichtig.
Leicht, so will ich das verstehen, deutet Johannes damit an, dass es bei allem Leid und aller Schwere des Schicksals dieses Blinden gar nicht so sehr um ihn geht. Nicht er ist es, der hier im Mittelpunkt steht. Deshalb muss auch mein Blick nicht allein bei ihm bleiben, und ich muss mich - wenn auch aus noch so viel gutem Herzen und aufbrechendem Mitleid - nicht nur auf ihn konzentrieren.
Allerdings, dies lohnt sich schon festzuhalten, der Blinde ist auch für Johannes, der sein Evangelium schreibt, nicht nur Material. So wie nie ein Mensch Material sein kann, reiner Gegenstand des Berechnens oder allgemeiner theoretischer Reflexionen. Der Blinde wird schließlich am Ende geheilt und mit hineingenommen in das, was Johannes von diesem Gespräch zwischen Jesus und den Jüngern erzählt.

Gespräche haben immer irgendwo verborgenen oder manchmal auch ganz offen herumliegende Stolpersteine auf ihrem Weg.
Einer weiß etwas vom anderen, der andere mag den einen nicht, sie verstehen beide Anderes, unter gleichen Worten andere Sachverhalte, Werte und Dinge. Keiner hat erlebt, was der andere erlebt hat, - was für die andere als Erfahrung mitschwingt, - was sich einklinkt aus eigener Erinnerung in Sichtweise und Bewertung.
Nie spielt dies alles zusammen mit, aber etwas davon meist.
Das macht Erzählen, Unterhalten, Verständigen nicht unmöglich, aber es erschwert es immer.
Johannes setzt das oft ein in seinen Geschichten, dass Menschen sich in Gesprächen missverstehen. Er macht das stilistisch gekonnt und pointiert, ein Stichwort gegeben und falsch kombiniert aufgenommen. Aber im Grunde ist das nichts Außergewöhnliches. Es ist der einfache Normalfall unter uns immer wieder, einer, über den wir dann glücklicherweise auch oft hinauskommen.
Also muss ich auch bei der Heilung des Blindgeborenen nicht allein dabei bleiben und nicht darauf mein Interesse konzentrieren,
dass die Jünger etwas sehen (den Blinden) und nach etwas anderem fragen (nach der Absicherung ihres Welt- und Lebensverständnisses, danach, wie sie Leiden und Schuld verstehen können, möglichst klar aufeinander bezogen und verrechenbar),
und auch nicht darauf, dass sie in der Antwort Jesu, nachdem er ihre Frage kurz streift (`weder er noch sie´), auf etwas ganz anderes verwiesen werden (Gott soll in der Welt erkennbar sein) als darauf, wonach sie gefragt hatten,
und auch nicht darauf,
dass da ein Wortspiel von Blind über Offenbarwerden und Licht auftaucht. Auch das macht nicht das Zentrum aus, sowenig wie der Blinde.

Dort ist das Zentrum und der Mittelpunkt, wo Jesus ganz bei sich selbst bleibt, wo er von der Stoßrichtung seines Handelns und von seiner Aufgabe redet.. In sie nimmt er die Jünger mit hinein. Bei allem, was geschieht, was jemand tut oder sagt, kommt es darauf an, dass darin das Handeln Gottes offenbar wird, dass Gott selbst deutlich, erkennbar, erfahrbar wird.
Das ist es, was der Welt fehlt, was sie sich nicht von selbst sagen kann, worin sie, ohne es blind bleibt, so wie der am Wegrand, blind bleibt. Sie bleibt es, weil sie selbst blind geboren ist und nicht von sich aus zum Sehen kommen kann. Sie bleibt es, weil das Sehen nicht in ihr drin ist, mancher anderen Welthoffnung und eigenerstellten Weltsicht entgegen.
Wer sich auf Jesus einlässt, muss wissen, dass nicht Selbsterkenntnis, sondern Erkanntwerden (und dann genauer schon längst Erkanntwordensein) es ist, was ihn kennzeichnet und zeichnet und auszeichnet.
Nein, es ist kein zynischer Satz, wenn Jesus auf den Blindgeborenen bezogen sagt, dass an ihm Gottes Werke offenbar werden sollen. Nicht damit sie, die Jünger, ihn später einmal sehen sollen und als Gesprächsanstoß haben, ist er blind geboren, sondern er, der blind geboren ist, an ihm, wie die Jünger ihm da zufällig begegnen, können sie Gottes Werke und an ihnen Gott selbst begreifen und so auch sich selbst, - nicht anders
Nicht die Theodizeefrage und nicht die Frage nach Schuld und Leid und nach dem Zusammenhang von eigener Tat und eigenem Ergehen, sind es, um die es geht,
sondern es geht um Gottes Werke. Sie müssen getan werden, von Jesus, von Jesus und von den Jüngern.
Das ist die Aufgabe von der Jesus redet, zu der er die Jünger führt.
Sie ist die Aufgabe, die sie erkennen müssen, die sie sehen müssen
und die sie sehen können. Sie könne sie sehen, so, wie der Blinde zum Sehen geführt wird.
Plötzlich gehen Blinder und Jünger und Jünger und Jesus in Eins.
Das Wunder, so lebensgewinnend wichtig es für den Blinden ist, ist für die Jünger wichtig, damit sie begreifen , was die Aufgabe Jesu ist und ihre mit ihm.
Damit sie begreifen, dass Jesus sie dazu führt, wie den Blinden zum Sehen:
Die Werke Gottes zu tun, solange es Zeit ist, den Glauben zu leben, klar und erkennbar"denn es kommt die Nacht".

Das ist die Keim- und Kernzelle dieses Evangeliumstextes: Zum Glauben kommen, - so wie hier die Jünger, die am Blinden, der geheilt wird, zum Sehen kommen. Zum Glauben kommen heißt, von Gott reden, ihn leben, handeln, gestalten. Sonst bleibt Blindheit, sonst bleiben die sich selbst gestellten Fragen, die selbstentworfenen Antworten und das Gestrüpp der Unlösbarkeit, mit der sie, einmal formuliert, immer wieder verwirren, ratlos werden lassen und nicht zum Lösen führen.
Von dieser Erfahrung des Glaubens wird die Wundergeschichte mittransportiert, - wird das Wunder bildhaft und anschaulich mit hineingenommen in das eigentliche Gespräch, den eigentlichen Hinweis, die Stoßrichtung Glauben leben und so Gott erkennbar werden lassen.

Die Wundergeschichte gibt keine Lösung, so wie manche und schöne Märchen, die Lösungen und Handlungsmodelle, anbieten, `was mache ich dann, wenn´.
Die Wundergeschichte gibt, so plastisch sie ist, den Hinweis auf die Aufgabe für alle Sehenden, für alle Glaubenden, von Gott zu reden, sein Werk zu tun, kurz, unsren Glauben zu eben bevor wieder Dunkel sein wird und Nicht-Sehen für viele. Amen

Sup. Dr. D. Reichert
Gneisenaustr.76
33330 Gütersloh
SuperintendentGT@aol.com

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