12. Sonntag nach Trinitatis, 2. September 2001
Predigt über Markus 8,22-26, verfaßt von Klaus Schwarzwäller

Liebe Gemeinde!

Diese kleine Wundergeschichte kommt schlicht und einfach daher. Alles klingt ganz selbstverständlich, ja geradezu harmlos. Man führt in Bethsaida - es liegt am nördlichsten Zipfel des Sees Genezareth - einen Blinden zu Jesus mit der Bitte, "daß er ihn anrührte"; also man bittet Jesus in höflicher Zurückhaltung, er möge den Mann heilen. Jesus läßt sich nicht weiter nötigen: Er nimmt ihn bei der Hand, führt ihn vor den Ortsrand, spuckt ihm in die Augen und massiert eine Weile. Dann läßt er ab und heißt den Mann sich umgucken. Und siehe da, er kann bereits wahrnehmen, allerdings nur verschwommen. Jesus massiert abermals einige Zeit; als der Mann dann guckt, sieht er wieder klar. Jesus schickt ihn daraufhin heim, gibt ihm jedoch die uns verblüffende Anweisung, nicht in den Ort zurückzukehren und auch niemand im Ort vom Geschehen etwas zu sagen. Damit endet die Geschichte - und läßt uns mit der etwas befremdeten Frage zurück, wohin um alles in der Welt hätte dieser Mann denn sonst gehen sollen?

Die Frage bleibt offen, störend offen - als ob hier kein Problem läge! Wie überhaupt alles so beiläufig geschildert wird, als ginge es um ein paar Feigen oder Weintrauben. Das fordert heraus; ich gestehe: Je länger ich diesem Wunderbericht nachgedacht habe, umso mehr habe ich mich hieran, überhaupt an dem ganzen Geschehen gerieben. Dreierlei hat mich besonders stutzen lassen:

Zum einen meidet Jesus die Öffentlichkeit und will am Ende ausdrücklich nicht, daß der Geheilte in seine normale Umwelt, also seine Lebenswelt zurückkehrt. Was Jesus an ihm getan hat, das soll nicht - ja, was soll es eigentlich nicht? Jesus kann doch nicht so naiv gewesen sein zu meinen, es werde sich nicht herumsprechen!
Zum anderen wird der Vorgang der Heilung relativ ausführlich beschrieben. Es ist, als sollte alle Aufmerksamkeit beim Tun Jesu festgehalten werden. Das aber ist, vorsichtig gesagt, wirklich nicht aufregend.
Und zum dritten überhaupt die Art des Heilens selbst: Sie ist einerseits nicht besonders appetitlich, und andererseits muß sich Jesus hier - um es einmal flapsig auszudrücken - schon ein wenig anstrengen.

Lassen Sie uns diesen drei Auffälligkeiten nachgehen. Ich beginne mit der letzten:

Jesus muß schon einiges tun, damit der Mann wieder sehen kann, und das läßt sich wenig appetitlich an. Gut, in der damaligen Welt war man bei weitem nicht so etepetete wie wir heute. Doch damals wie bei uns ist das Anspucken eine besonders erniedrigende Beleidigung. Sie drückt aus: Was ich um keinen Preis bei und in mir behalten mag, das soll auf dir liegen, für das bist du gerade gut oder vielmehr: schlecht genug; pfui Deubel! Aber es gab auch eine andere Weise; für sie mögen wir heute - wieder - Verständnis haben. Wir wissen nämlich aus der Arbeit der Kripo, daß Spucke - selbst Spucke! - die für den jeweiligen Menschen typische Desoxyribonukleinsäure enthält, so daß durch Speichelproben ein Mensch eindeutig identifiziert werden kann. Sagen wir es allgemein: Der Speichel, also schlicht: unsere Spucke enthält das, was uns ausmacht, transportiert also in einer gewissen Weise mich selbst. Indem hier Jesus dem Blinden in die Augen spuckt, bespuckt er ihn gerade nicht, sondern legt mit dem Speichel gleichsam sich selbst auf seine Augen, so daß er nunmehr ganz und gar bei dem Blinden ist - eine Bedeutung, die den Alten geläufig war und uns verloren ging.

Jesus also legt sich gleichsam selber auf die Augen des Blinden. Warum er es in diesem Fall so hält und in anderen Fällen nicht, darüber mag man mutmaßen - eine Antwort haben wir nicht. Grübeln wir also nicht darüber, sondern sehen wir näher zu, was hier geschieht. Das ist dies, daß Jesus es in diesem Fall für gut und richtig hält, seinen Einsatz, seine Fürsorge, seine Beteiligung spürbar, sichtbar, merklich werden zu lassen. Warum auch immer, jedenfalls ist dieser Blinde es ihm wert, um seinetwillen und zu seiner Heilung Aufwand zu treiben. Ein Aufwand, um's zu wiederholen, der uns Heutige nicht sonderlich appetitlich anmutet. Wo Jesus wirkt und heilt und hilft, geht es offensichtlich nicht nach unseren Auffassungen und Maßstäben von Hygiene und Ästhetik und Gehörigkeit zu. Gottes Handeln hat seine eigenen Maßstäbe. Sie mögen uns erfreuen oder befremden: Nicht er hat sich uns anzupassen, sondern umgekehrt wir uns ihm, es falle uns leicht oder schwer. Wenn ich's noch einmal etwas flapsig ausdrücken darf: Wer mit Gott zu tun hat und von ihm Hilfe und Heil erwartet, darf nicht zimperlich sein. Und wo Gott sich für uns einsetzt, da hinken unsere Maßstäbe. Siehe das Kreuz von Golgatha...

Der zweite Punkt war die relativ ausführliche Beschreibung. Wir wissen alle: Man kann etwas so oder auch so erzählen, je nach dem. Die Evangelien erzählen Jesu Wunder zumeist äußerst knapp und präzis. Das Geschehen wird auf die paar unentbehrlichen Züge gekürzt; nicht nur die Einzelheiten, sondern auch alles das, was nicht unbedingt zum Geschehen gehört, mag man sich selber ausmalen; den Evangelisten liegt regelmäßig nichts an alledem. Hier aber stoßen wir auf ein Verweilen beim - ich hatte sagen wollen: beim Nebensächlichen. Aber woher will ich das wissen? Mag der Heilungsvorgang als solcher bei anderen Wundern auch als so nebensächlich erscheinen, daß er mit keiner Silbe erwähnt wird: Hier findet er Aufmerksamkeit. Warum? Man mag mutmaßen, grübeln; wir wissen es nicht. Es ist halt so: Hier wird der Vorgang als solcher ausgemalt - warum auch immer.

Ich gestehe: Mich hat das verdrossen. Als ich mich fragte, warum eigentlich, stieß ich darauf: Hier läßt sich keine verborgene Linie, keine versteckte Regel, keine erklärende Theorie finden. Sondern diese Abweichung von der Regel der knappen, eher nur andeutenden Erzählung der Wunder Jesu ist einfach da. Ein Grund ist nicht erkennbar. - Im Leben bleibt immer wieder vieles und auch Gewichtiges offen. Aber wenn in Gottes Tun etwas offen bleibt... Meine Erfahrung ist, daß man das nicht erträgt, daß das ärgert. Und also wird gebogen und gefeilt und gesägt und gehobelt, bis es hinkommt, bis deutlich ist: Das hier, das war nur: ein Ausrutscher, ein Zufall; oder aber: aus diesem oder jenem genau nachweisbaren Grund wird es gerade jetzt... und hätte eigentlich noch viel ausführlicher... Und was dergleichen sonst noch ist. Mir ging darüber etwas auf. Mir ging darüber auf, wie schnell und selbstverständlich und auch unüberlegt wir so oft dabei sind, Gott und sein Tun zu sortieren und in Schubfächer zu packen und notfalls mit Gewalt hineinzustopfen. Denn wenn das nicht geht, dann - dann wäre mein eigener Standpunkt nicht mehr sicher. Dann könnte ich nicht stehen bleiben. Dann müßte ich mich bewegen, notfalls aus meinen gewohnten Auffassungen heraus, wie dieser Blinde aus dem Ort...

Indem ich versuchte, mich zu bewegen und mich einzulassen, ging mir etwas auf. Mir ging auf: Hier wird an einer Stelle einfach einmal beschrieben, was das heißen mag, daß Jesus heilt und Wunder tut. Nämlich dies, daß er gerade auch in seiner göttlichen Macht - ich sag's einmal mit einem saloppen Ausdruck - "sich ‚reinhängt". Er "hängt sich" hier "'rein" um eines Menschen willen, der so unbedeutend und nebensächlich ist, daß nicht einmal sein Name überliefert wird; "hängt sich" also "'rein" für irgendeinen beliebigen Durchschnittsmenschen, der offenbar ebenso gut ein anderer hätte sein können. Was heißt "Durchschnittsmensch"; es handelt sich um einen Menschen der Art, die zahlen dürfen, wenn Geld gebraucht wird, die man mit hohen Worten abspeist, wenn es ihnen schlecht geht, die man als arbeitsscheue Drückeberger verdächtigt, wenn sie aus der Bahn geworfen wurden, die man als menschliche Verfügungsmasse und statistische Größe auffaßt und unter hehren Parolen verschleißt, als ob sie dazu geboren wären, verbraucht zu werden, also - den Älteren vertraut - "Otto Normalverbraucher". Für einen solchen Menschen "hängst sich" Jesus hier "'rein".

Wenn uns das deutlich ist, dann beginnt die zuerst genannte Auffälligkeit einzuleuchten: daß Jesus die Öffentlichkeit meidet und hinterher nicht will, daß der Geheilte in seine normale Umgebung zurückkehrt. Jesus war kein Politiker - show und Schaumschlägerei, aber auch Eigenwerbung und Reklame, Propaganda und Selbstlob - womöglich öffentliches - lagen ihm fern. Nicht daß Jesus die Öffentlichkeit scheute, daß er ihrem Licht nicht standhielt, gar daß er etwas zu verbergen hatte. Im Gegenteil: Er tritt an die Öffentlichkeit, setzt sich ihr aus, stellt sich unbequemen Fragen und Anfeindungen. Darum - am Rande bemerkt - hat der christliche Glaube von Anfang an der Vernunft nicht nur standgehalten, sondern sie - historisch eindeutig - in unvergleichlicher Weise gefördert. Nein, das Licht wird nicht gescheut - weder das Licht des Tages noch das Licht der Wahrheit noch das Licht der Vernunft.

Aber neben dem Licht, das hell macht und Klarheit schenkt, gibt es auch das Licht, das blendet, weil es lediglich anstrahlt und in den Vordergrund zerrt: die Scheinwerfer des großen Auftritts, die Strahler der Sensation, die Bühnenlampen der Show und des glamours. Das ist das Licht, das Jesus meidet - er ist kein Showmaster. Er weiß, daß entweder die Wahrheit leuchtet - oder eben die Lampen, mit denen man etwas anstrahlt und ins Licht holt. Ihm geht es um das Leuchten der Wahrheit. Und ehe das - damals wie heute - überstrahlt wird durch die Scheinwerfer derer, die auf Sensation oder event aus sind, zieht Jesus sich aus der Öffentlichkeit zurück und erlegt das auch denen auf, denen er hilft oder die er heilt: Haltet euch außen vor! Sucht nicht das große "Ah!" und "Oh!" der Gaffer! Meidet den Rummel der Medien! Gebt den Paparazzi des Wortes und der Kamera keine Chance! Laßt das, was ich an euch getan habe - also laßt mich und euch selbst nicht gemein machen durch Sensationsgeilheit! Bewahrt die Wahrheit des Wunders vor den lüsternen Blicken und dem schmierigen Speichel derer, deren Augen für das Licht der Wahrheit blind sind! Und darum: Wenn's darauf ankommt, dann meidet eben eure normale Umgebung! Haltet euch da fern. Entweder ich - oder der Rummel!

Uns ist nicht überliefert, wie es weiterging. Wir hätten das gerne gewußt, würden auch gerne Klarheit darüber haben, ob die Leute, die den Blinden zu Jesus brachten, tatsächlich eine sensationsgeile Meute waren; im Text deutet ja nichts hierauf hin. Wir wüßten gerne, ob der Geheilte sich an Jesu Auflagen gehalten hat und wie er dann sein Leben organisierte. Uns interessiert schon, ob Jesus danach in den Ort zurückkehrte - und ob umgekehrt nicht ein paar Neugierige ihm gefolgt waren und ihn aus einem Versteck beobachtet hatten. Alles Fragen, die ins Leere greifen - und greifen sollen; denn sie lenken ab.

Sie lenken ab von Tatsache und Ernst dessen, daß Gottes Handeln und seine Wunder keine Schauobjekte sind: nicht zum Beglotzen und zum Begaffen und zum Begutachten und zum Bereden und zum Vermarkten. Sondern daß dort, wo Gott Menschen hilft und heilt, seine Taten uns erkennen lassen, daß dem Herrn selber auch Namenlose und Durchschnittsexistenzen wichtig genug sind, "sich" für sie "'reinzuhängen" und ihnen in einer Welt von sehenden Blinden Augenlicht und Einsicht zu schenken.

Amen.

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
E-Mail: kschwarzwaeller@foni.net