12. Sonntag nach Trinitatis, 2. September 2001
Predigt über Markus 8,22-26, verfaßt von Peter Kusenberg

Und sie kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu Jesus einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre.
Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas?
Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen.
Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, sodass er alles scharf sehen konnte.
Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf!
Markus 8, 22-26

Liebe Gemeinde,
ich bin überzeugt davon, dass jeder unter uns ein bestimmtes Bild von Jesus hat. Es hat sich entwickelt im Laufe unseres Lebens, von den Anfängen des Kinderglaubens bis zum heutigen Tag. Wir stellen uns sein Äußeres vor: Mitte Dreißig, meist mit Bart, schlank (wer käme schon auf die Idee, sich Jesus als übergewichtig vorzustellen?), und mit harmonischen, etwas nachdenklichen Gesichtszügen.

Und wenn wir an seine Tätigkeit denken, umherziehend durch Städte und Dörfer Galiläas, auch dann hegen wir bestimmte Erwartungen. Die Geschichten von wunderbaren Heilungen gehören dazu. Die Evangelien scheinen voll davon. Dort, wo Jesus hinkommt, beseitigt er Krankheit, Behinderung, selbst den Tod.

Und bei einer Gelegenheit hat er selbst dieses Bild unterstrichen. Als Johannes der Täufer im Gefängnis liegt und über die Frage grübelt, ob Jesus denn wirklich der lang Erwartete sei, von dessen Kommen er, Johannes, an den Ufern des Jordan gepredigt hatte, da antwortet Jesus mit einem Zitat aus den Propheten: "Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, der nicht Ärgernis nimmt an mir."

Der Predigttext heute passt genau in dieses Bild. In nur wenigen Sätzen schildert er, wie Jesus einem Blinden das Augenlicht zurück gibt. Er nimmt ihn bei der Hand, befeuchtet seine Augen mit Speichel und legt die Hände heilend auf ihn. Kennern der Bibel wird vielleicht ungewöhnlich vorkommen, dass er dies zwei Mal tut - die Heilung geschieht stufenweise, denn der Blinde sieht zunächst nur schemenhaft. Ich denke, dies soll betonen, wie schwierig die Heilung und wie groß das Wunder ist.

Blindheit im Sinne körperlicher Krankheit, Blindheit als Behinderung gehört heute zu den Dingen, die wir - wenn überhaupt - nur am Rande wahrnehmen. Zum gegenwärtig hochgejubelten Lebensstil mit dem Dreiklang von "fit sein", "Fun haben" und "cool sein" passt das nicht. Weil es stört, wird es ausgeblendet. Wie so manches andere.

Kaputte Beziehungen interessieren nur, wenn andere davon betroffen sind. - Armut? Doch nicht bei uns! - Sterben? Aber bitte weit weg!

Aber was ist das denn anderes, wenn ich einen Teil der Realität nicht mehr wahrnehmen will oder kann, wenn nicht eine künstliche, selbstgewählte Blindheit? Wegsehen, geflissentlich übersehen, gar nicht erst hinsehen - das sind die Krankheitssymptome moderner Blindheit.

Wie oft mache ich mich in Konfliktsituationen freiwillig zu einem der drei famosen Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen, um des eigenen Wohlbefindens willen, oder - weil das besser klingt: um des lieben Friedens willen. Aber ist das Frieden? Oder nur Waffenstillstand? Oder schon Kapitulation?

Und auch dort, wo es nur um die Kleinigkeiten meines Alltags geht: nehme ich eigentlich noch alles in vollem Umfang wahr? Oder hat sich im Laufe der Zeit eine Betriebsblindheit eingeschlichen? Still und unbemerkt? Und mit welchen Folgen?

Ich möchte dazu an dieser Stelle eine Geschichte des griechischen Dichters Nikos Kazantzakis erzählen:
Es war einmal, sagte er, ein kleines Dorf in der Wüste. Alle Einwohner dieses Dorfes waren blind. Eines Tages kam dort ein großer König mit seinem Heer vorbei. Er ritt auf einem gewaltigen Elefanten. Die Blinden hatten viel von Elefanten erzählen hören und wurden von einer heftigen Lust befallen, heranzutreten und den Elefanten des Königs berühren zu dürfen und ihn zu untersuchen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was das für ein Ding sei.

Einige von ihnen - vielleicht waren es die Gemeindeältesten - traten vor und verneigten sich vor dem König und baten um die Erlaubnis, seinen Elefanten berühren zu dürfen. Der eine packte ihn beim Rüssel, der andere am Fuß, ein dritter an der Seite, einer reckte sich hoch auf und packte das Ohr, und ein anderer wieder durfte einen Ritt auf dem Rücken des Elefanten tun.

Entzückt kehrten alle ins Dorf zurück, und die Blinden umringten sie und fragten eifrig, was denn das ungeheuerliche Tier Elefant für ein Wesen sei. Der erste sagte: "Er ist ein großer Schlauch, der sich hebt und senkt, und es ist ein Jammer um den, den er zu packen kriegt." Der zweite sagte: "Es ist eine mit Haut und Haaren bekleidete Säule." Der dritte sagte: "Es ist wie eine Festungsmauer und hat auch Haut und Haare." Der, der ihn am Ohr gepackt hatte, sagte: "Es ist keineswegs eine Mauer, es ist ein dicker, dicker Teppich, der sich bewegt, wenn man ihn anfasst." Und der letzte sagte: "Was redet ihr für Unsinn? Es ist ein gewaltiger Berg, der sich bewegt!" (Nikos Kazantzakis, Die Blinden)

Wer blind ist, erkennt nur einen Teil seiner Welt. Und kommt zu falschen Schlussfolgerungen. Wer sich blind macht, das eigene Wahrnehmungsfeld eingrenzt, dem geht es ebenso. Und das kann fatale Folgen haben.

"Blind vor Hass" sagen wir manchmal. Fanatismus ist die gefährlichste Form der Blindheit. Wozu Fanatismus fähig ist, sehen wir täglich in Bildern aus Palästina, Mazedonien, Afghanistan, Nordirland - die Liste ist lang.

"Blind vor Kummer" - auch das gibt es. Menschen, die über einen Verlust nicht hinweg kommen, sich einschließen in ihrer Trauer, im Gefängnis ihres Schmerzes leiden, unfähig, einen Weg hinaus zu finden.

"Blind vor Eitelkeit". Die Macher, die Erfolggewohnten, deren Wahrnehmung nicht weiter reicht als bis zum Rand des eigenen Glanzes, denen jedes Mittel recht ist, ihre Ziele durchzusetzen.

Ich glaube, wir sind uns einig: es gibt Formen der Blindheit, die nichts mit gesunden oder kranken Augen zu tun haben. Und niemand von uns wird wohl allen Ernstes behaupten wollen, sie oder er sei völlig immun gegen solche Art Blindheit.

Und das bringt uns zu der Frage: Wie lässt sich diese Blindheit heilen? Gibt der Predigttext eine Antwort darauf?
Ja. Das Wichtigste: es braucht andere Menschen dazu. Allein geht es offenbar nicht. Für den Blinden im Evangelium ist es Jesus. Für uns kann es jeder Mensch sein, der wie Jesus zu helfen bereit ist - und wir können es für andere Menschen sein.

Das Zweite: Helfer und Hilfsbedürftiger kommen einander sehr nahe. Jesus, so haben wir gehört, "nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas?"

Hilfe ist also etwas sehr Handgreifliches. Wer helfen will, darf sich nicht scheuen, zuzufassen, muss, wenn es nötig ist, auch "den Finger in die Wunde legen" können. Und wenn ich Hilfe brauche, sollte ich darauf gefasst sein, dass diese Hilfe mir nahe geht, dass sie auch einen empfindlichen Punkt bei mir berühren kann. Aber gerade das ist es, was Heilung und Hilfe von wirkungsloser Gesundbeterei unterscheidet.

Mein Wunsch zum Schluss: Achten wir auf uns selbst, auf unsere Sichtweise. Passen wir auf, nicht blindlings den bequemsten Weg einzuschlagen. Helfen wir anderen, nicht betriebsblind zu werden, sondern ihr rechtes Augenmaß zu bewahren.

Wir haben die schöne, bildhafte Redewendung "es fällt mir wie Schuppen von den Augen". Es wäre wunderbar, wenn uns dies von Zeit zu Zeit passieren würde. Amen.

Peter Kusenberg, Pastor und freier Journalist
Adelebsen-Erbsen
E-mail: peter.kusenberg@kirche-erbsen.de