14. Sonntag nach Trinitatis, 16. September 2001
Predigt über Genesis 28, 10-19a, verfaßt von Karsten Matthis

Liebe Gemeinde,

Jakob hat einen phantastischen Traum: Was für ein unglaubliches und monumentales Bild! Eine Himmelsleiter steht auf der Erde und ihre Spitze ragt in den Himmel hinein. Jakob erblickt eine Himmelsleiter auf der die Engel Gottes auf und absteigen. Gott selbst steht unten am Ende der Leiter und spricht zum schlafenden Jakob. Nicht nur für die gottesfürchtigen Erzähler der Genesis wird ein kühnes, unfassbares Bild entfaltet: Gott steigt herab, sucht Jakob an seiner Schlafstelle auf und offenbart sich ihm. Der vom heimischen Hof geflohene und vom Zwillingsbruder Esau verfemte Jakob wird als würdig empfunden, in das Allerheiligste, in die Himmelswelt des einzigartigen Gottes, dem Gott der Väter, zu blicken.

Der sich auf der Flucht befindende Jakob ist kein Großer der Weltgeschichte, weder ist er politisch einflussreich noch moralisch integer. Der Überlieferung nach ist Jakob ein cleverer, listiger Hirte, der seinen Bruder Esau zweimal aus Habgier betrügt. Für ein Linsengericht kauft er ihm das Erstgeburtsrecht ab und erschleicht sich mit Hilfe seiner Mutter den väterlichen Segen. Später werden seine Nachfahren von ihm berichten, dass er ein umherirrender Aramäer gewesen sei.

Ganz selbstverständlich drängen sich Fragen auf: Warum wird Jakob und nicht Esau erwählt? Esau stände doch nach der Tradition als dem Erstgeborenen der Segen zu? Warum wird der listige Zwillingsbruder Jakob Erzvater der zwölf Stämme Israels? Warum wählt sich Gott nicht einen bedeutenden Herrscher aus, um ihn zum Träger seiner großen Verheißung zu machen?

Den Gott Israels stört es nicht, menschliche Konventionen gröblich zu verletzen. Stattdessen wendet sich Gott an Jakob und überbringt ihm eine großartige Verheißung. Nicht nur einen reichen Landbesitz, sondern ebenfalls zahlreiche Nachkommenschaft und immerwährender Schutz spricht er dem Umherirrenden zu. An dieser unglaublichen Verheißung müsste Jakob irre werden, denn für einen Menschen mit dem Erfahrungshorizont eines Nomaden waren dies schier unglaubliche Versprechungen. Zahlreiche Nachkommenschaft, Reichtum und Landbesitz - noch heute sind dies nicht zu realisierende Träume der Menschen im Nahen Osten.

Als Jakob erwacht, erschrickt er über den Traum zutiefst. Niemals hat er mit einer unmittelbaren Begegnung mit dem Himmel auf Erden gerechnet. Dass an dieser Stelle Gott zugegen ist, hatte er nicht vermuten können. Wie eine Auslegung dieser Jakob - Erzählung mutet der Satz aus dem Jesaja Buch an: "Ich ließ mich suchen von denen, die nicht nach mir fragten; ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten." (Jes. 65,1). Jakob wird von Gott auf dem Schlaflager überrascht. Nicht Jakob hat ihn gesucht, sondern der Gott der Väter hat ihn gefunden.

Nach diesem dramatisch, phantastischen Traum handelt Jakob überraschend nüchtern. Er kann den Traum sofort einordnen und weiß ihn auszulegen. Für Jakob ist dieser Traum kein Hirngespinst - nein, er drückt Gottes all umfassenden Segen aus. Dieser Ort der göttlichen Offenbarung muss gekennzeichnet und die Verheißung der Nachwelt überliefert werden. Gott hat sich hier an der Pforte des Himmels, in Bethel, offenbart und die großartige Verheißung, die bereits an Abraham und Isaak erging, erneuert. Hier an dieser heiligen Stelle soll nun ein Gotteshaus stehen. Über diesen heiligen Ort, an dem sich der Himmel öffnete, soll die Nachwelt Kenntnis erhalten. Ein Mahnmal soll von nun an diese einzigartige Gottesbegegnung erinnern.

Liebe Gemeinde, "Pforten des Himmels" könnten wir dies mit so großer Gewissheit sagen, wo diese sind? Wir wünschen und sehnen uns nach göttlicher Geborgenheit, aber als aufgeklärte Menschen, da möchten wir Gott nicht festmachen an einer Kultstätte, an einem bestimmten Ort. Es gibt viele Kirchen in Deutschland mit großer Vergangenheit und starker innerer und äußerer Ausstrahlung, aber diese würden wir nun doch nicht pauschal als Himmelspforten bezeichnen. Der Hamburger Michel, die St. Lorenz Kirche in Nürnberg, der Dom zu Speyer, die wiedererbaute Frauenkirche in Dresden oder der Kölner Dom, um nur einige bedeutende Kirchen zu nennen, sind sicherlich beeindruckend und prägen ihre Stadt. Ihre Kirchtürme möchten wir nicht missen und hören gern das Geläut ihrer Glocken. Nicht nur Christen aller Konfessionen schätzen diese und andere Kirchen als Denkmäler, Stätten der Einkehr und als Ort von geistlichen Konzerten, aber "Tore des Himmels", diese Klassifizierung wird niemand leichtfertig gebrauchen.

Wo, wann und wie Gott sich offenbart, dies entscheidet er nur ganz allein. Gott lässt sich nicht zwingen! Sein Wort lässt sich nicht an einem Ort festmachen. Wo der Himmel über Menschen aufbricht, und Gott sich offenbart, dass entscheidet der freie, souveräne Gott. Aber unsere Gedenksteine, unsere Kirchen, Kapellen und Andachtsräume in Krankenhäusern oder Altenheimen sind und bleiben wichtig: Als Orte des Dankes, des Trostes und der immer wieder neu geschenkten Zuversicht, dass Gott Treue hält. Gottesdienste behalten ihren Sinn als feste Zeiten des Hörens, Lobens und Dankens. Der sonntägliche Gottesdienst bewahrt uns vor der Vereinzelung im Glauben, da wir dort andere Christen treffen und erleben, wie diese von Gottes Wort berührt und getragen werden. Die Predigt schützt uns davor, aus dem christlichen Glauben eine private Angelegenheit zu machen. Eine gute Predigt rüttelt wach und reißt uns aus unserer gefälligen Selbstzufriedenheit heraus, aber Verkündigung soll auch trösten und ermutigen für den Alltag.

Liebe Gemeinde, kein noch so prächtiger Kirchbau und kein Stein wird aus sich selbst heraus heilig. Kein noch so festlicher Gottesdienst und eine noch so rhetorisch ausgefeilte Predigt können für sich allein glaubwürdig sein, wenn nicht Gottes Wort sie trägt. Ein Ort wird uns dann bedeutsam, gar heilig, wenn wir dem lebendigen Gott dort begegnet sind. Gott begegnen wir in seinem Wort und Sakrament, in welchen wir Vergebung, Segnung und Ermutigung erfahren. Gott schenkt uns diese Begegnung und wir erahnen, dass Himmel und Erde sich ganz nahe gekommen sind.

Dass Gott an gewohnten, vertrauten Orten uns nahe kommen will, berichtet eine alte Legende: Zwei Mönche hatten gelesen, dass es am Ende der Welt einen Ort gäbe, wo sich Himmel und Erde berührten. Eine Tür sei dort, es gelte nur anzuklopfen, einzutreten, und schon sei man am heiligen Ort. Und die Mönche beschlossen ihn zu suchen und nicht eher umzukehren, bis sie ihn gefunden hätten, Und sie durchwanderten in vielen Monaten die ganze Welt, bestanden viele Gefahren, und fanden schließlich, was sie suchten. Sie klopften an, bebenden Herzens sahen sie, wie sich die Tür öffnete - und standen zu Hause in ihrer Klosterzelle. Da begriffen sie: Der Ort, wo Gott uns begegnen will, ist immer an der Stelle, den Gott uns alltäglich zugewiesen hat.

Durch das Wort Gottes wird Bethel zum heiligem Ort, nicht durch das Aufstellen des Gedenksteins. Unsere Kirchen und Gemeindehäuser werden nur zu Stätten Gottes, weil seine Verheißung über ihnen liegt. Getragen von seinem Wort wird Kirche zur wahren Kirche, zum Haus Gottes. Sein Segen liegt auf unseren Gottesdiensten und auf sein Wort dürfen wir trauen, welches er vor Tausenden von Jahren zu Jakob gesprochen hat: "Ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe." (Gen. 28, 15)

Amen

Literatur:
Dietrich Hombeck: 14. Sonntag nach Trinitatis, Deutsches Pfarrerblatt, Heft 8/ 2001
Dieter Walter: 14. Sonntag post Trinitatis, Homiletisch - Liturgisches Korrespondenzblatt - Neue Folge, Nr. 70/ 2001

Karsten Matthis, Dipl. Theol.
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E-mail: karsten.matthis@t-online.de