16. Sonntag nach Trinitatis - Erntedankfest - 30. September 2001
Predigt über Lukas 7,11-17 , verfaßt von Eberhard Harbsmeier,

Løgumkloster (Dänemark)

"Weine nicht!"

Die erste Reaktion auf diese Geschichte war bei mir lange Zeit diese: Das klingt alles ziemlich phantastisch, daß jemand aus dem Tode ins Leben zurückkehrt - und auch wenn das einmal geschehen sollte: Was hilft uns das heute, was hilft das den Menschen, die heute der Unwideruflichkeit des Todes gegenüberstehen.

Ich denke, wenn man diese Geschichte so - gleichsam von außen - sieht, wird man mit ihr nicht viel anfangen können. Ich möchte deshalb die Geschichte einmal anders erzählen, d.h. eine andere Geschichte, die eigentlich ganz ähnlich ist und die für mich viel bedeutet hat - auch wenn ich es nie erlebt habe, sondern nur davon gehört und gelesen habe. Und ich denke, daß diese - meine Geschichte - sehr wohl etwas mit dem zu tun hat, was uns im Evangelium erzählt wird: Daß Jesus jemandem von Tode ins Leben zurückkehren läßt.

Es geschah vor fast hundert Jahren, im August 1913. Ich habe davon gehört und auch in der Erinnerungen meines Großvaters Hermann Stoevesandt gelesen. Meine Großeltern hatten damals vier Kinder, die jüngsten waren Zwillinge, nicht viel älter als ein jahr alt, ein Junge und ein Mädchen. Durch den Garten lief ein kleiner Fluß. Mein Großvater erzählt: Die Kinder spielten im Garten im Laufgitter, die Mutter hatte sie einen Augenblick aus den Augen verloren, weil sie ins Haus gegangen war, um einen Korb zu holen. Dabei hatten die Kinder plötzlich das schützende Gitter verlassen und waren beide zum Wassergraben gekrochen, und darin ertrunken. Jeder Rettungsversuch kam zu spät.

Mein Großvater schreibt in seinen Erinnerungen: "Es war schwer, sich zurechtzufinden. Als die Kinder im Sarge lagen, der in der Erkerstube aufgestellt war, und meine Frau und ich allein davorstanden, war ich mit meinem Latein am Ende. Meine Frau kniete nieder, ich kniete neben ihr, und sie fand den Ton, den einzigen der hier lautwerden konnte. Sie dankte Gott für alle die Freude, die er uns an den Kindern geschenkt hatte, und die Freude war größer gewesen als das Leid, das nun an ihre Stelle getreten war. Diese Kinder haben nicht umsonst gelebt, denn sie haben uns gezeigt, daß unser Leben in jedem Augenblick in Gottes Hand steht, daß er uns alles gibt und nach seinem Willen auch alles nehmen kann. So ergab sich von selbst, daß wir auf das Kreuz auf dem Grabe den Spruch setzten:
Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeigt,
daß wir seine Kinder sollen heißen.
Von Gott kommt nur Gutes, und am Ende unseres Lebens werden wir für das Leid ebenso zu danken haben wie für die Freude. Von dem kleinen Grabe ist ein Segen ausgegangen, der uns bis an unser Ende begleiten wird. Wir haben das Danken gelernt und begriffen, was es bedeutet, im Ernst zu sagen: Dein Wille geschehe".

Kann man am Grabe eines Kindes lernen, was es heißt zu danken? Starke Worte. Im Munde eines Pastoren würden Sie vielleicht hohl klingen - so wie das auch in der Geschichte vom Jüngling zu Nain der Fall ist: Es gibt einen Trost, ein "Weine nicht", den nur Gott selbst geben kann.

Es ist auch nicht so, daß Leid und Trauer nun einfach verschwinden. Mein Großvater berichtet, daß es natürlich schwer war für die Eltern der Kinder, sich zurechtzufinden, Weihnachten gehen sie zum Grabe der beiden Kinder und sind wieder recht verzagt.
Aber fast genau ein Jahr nach dem Unglück , berichtet mein Großvater, "wurden uns Zwillinge geboren". Wieder ein Junge und ein Mädchen: "Es war beinahe nicht zu fassen, daß uns wiedergeschenkt wurde, was wir ein Jahr zuvor verloren hatten, und die Mitfreude, die wir von allen Seiten erfuhren, war größer, als wir geglaubt hätten".

Man kann darüber streiten, welches Wunder größer ist, am Grabe eines Kindes danken zu können - oder daß einem wiedergeschenkt wird, was man verloren hat. Mein Großvater war bestimmt kein sentimentaler Christ, sehr nüchtern, trug sein Herz nicht auf der Zunge. Man erzählte von ihm, daß er einmal nach dem Gottesdienst in die Sakristei ging, sich seine sonntägliche Zigarre anzündete, und zum Pastoren sagt: Ihre Predigt, Herr Pastor, war nicht mal so viel Wert wie die Asche dieser Zigarre. Aber immerhin: An nächsten Sonntag saß er wieder in der Kirche.

Wenn ich die Geschichte vom Jüngling zu Nain im Lichte der Erzählung von meinem Großvater höre, dann steht für mich nicht so sehr das Wunder der Wiederbelebung im Mittelpunkt, sondern der einfache Satz Jesu: "Weine nicht!". In unserem Munde sind das ja oft ohnmächtige und hohle Worte, und ich würde nie zu einem Mutter, die ein Kind verloren hat, zu sagen wagen: Weine nicht, sei lieber dankbar. Und manchmal machen wir uns ja auch eine Theorie zurecht darüber, daß es ja auch gut ist, weinen zu können, und furchtbar nicht weinen zu können. Wer weint, gibt Ausdruck für sein Leid und seine Trauer - nicht weinen können, nicht trauern können, stumm bleiben kann furchtbar sein. Und wir leben vielleicht in einer Kultur, in der Weinen gleichsam nicht erlaubt ist.

Dennoch wäre es falsche Romantik, im Weinen nur eine legitime Form von Therapie zu sehen. Es ist furchtbar, nicht weinen zu können, aber auch furchtbar, nicht mit dem Weinen aufhören zu können.

Ich verstehe die Geschichte vom Jüngling zu Nain in diesem Sinne: Es gibt einen Trost, den man sich nicht selbst geben kann, auch nicht einem anderen Menschen. Es gibt einen Trost, den nur Gott schenken kann. Man kann nicht jemanden auffordern, am Grabe eines Kindes Gott zu danken. Man kann sich dies auch nicht selbst zumuten oder sich dazu verpflichten. Dann würden die Worte und die Frömmigkeit falsch! Aber es kann einem geschenkt werden.

Mag sein, daß uns heute - angesichts der Ereignisse um uns und angesichts des Textes - zum Danken nicht zumute ist. Es wäre zynisch, wollte man davon absehen, es wäre zynisch, wollten wir Erntedankfest halte, "als ob nichts geschehen wäre". Man kann nicht dazu auffordern, angesichts des Todes, angesichts des Leids zu danken. Aber es kann einem geschenkt werden, man kann darum bitten: Daß die Uniwiderrufbarkeit des Todes uns nicht die Dankbarkeit für das Leben raubt.

Amen.

Rektor, Prof. Eberhard Harbsmeier
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