20. Sonntag nach Trinitatis, 28. Oktober 2001
Predigt über Markus 2, 23-28, verfaßt von Jürgen Ziemer

Anmerkungen zur Predigt

Liebe Gemeinde!

"Du sollst den Feiertag heiligen!"
So haben wir es gelernt. So steht es in den Zehn Geboten. Ein Tag in der Woche sei besonders, frei von Arbeit und Geschäften des Alltags. Ein Tag sei euch heilig - sei es der Sabbat bei den Juden, sei es der Freitag bei den Muslimen, sei es der Sonntag bei uns Christen.

Haben wir dieses einfache Gebot schon begriffen? Ist es uns wirklich wichtig?
"Du sollst den Feiertag heiligen!" Vielleicht geht es manchem mit diesem Gebot so wie mir, wenn ich ehrlich bin: Dagegen habe ich eigentlich nichts. Aber für seine Beachtung in die Bresche zu springen, das erscheint mir eher fremd.
Wie aber soll das gut gehen? Wenn diejenigen, die Christen sind und auch dafür gehalten werden, den Feiertag nicht mit aller Kraft und Phantasie heilig halten: Wer soll denn dann in unserer Gesellschaft dafür eintreten, dass der Sonntag ein geschützter Feiertag bleibt - für Christen wie für Nichtchristen!

Kein Wunder, wenn daran immer wieder gerührt wird. In Leipzig - oft im Blickpunkt als ostdeutsche Großstadt im Aufwind - war im vorigen Jahr die Öffnung der Ladengeschäfte auch für den Sonntag freigegeben worden. Warum nicht am Sonntag shoppen gehen? Gerade dann, wenn mal Zeit dafür ist. Warum nicht auf diese Weise Wirtschaft und Handel stimulieren, und zugleich der drohenden Langeweile entfliehen?
Doch dann kam der Einspruch - von "oben", nicht von den Bürgern, jedenfalls nicht von einer nennenswerten Mehrheit derselben. Der Gesetzgeber selbst gebot der sonntäglichen Geschäftsfröhlichkeit Einhalt. Denn unser Grundgesetz selbst schützt (wie schon die Weimarer Verfassung zuvor) den Sonntag als Tag "der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung", wie es so schön heißt.
Immerhin. Einige sind nun aufgewacht. Der Sonntag mußte offensichtlich erst in Gefahr geraten, um seinen Schutz wirklich ernst zu nehmen. Vielleicht sind doch mehr Menschen froh über diesen Tag, als zunächst angenommen.
Jüngstes Beispiel: Im Rahmen der Expo 2000 in Hannover wurde unter dem Titel "socialbrain.com." eine groß angelegte Umfrage zu den Zukunftsvorstellungen vorwiegend jüngerer Menschen veranstaltet. Eine Frage, formuliert von Bischöfin Maria Jepsen, lautete. "Würden Sie wünschen, dass in Zukunft der Sonntag geschützt und überwiegend arbeitsfrei bleibt?" 60 % der Befragten antworteten eindeutig mit Ja. Das beruhigt denn doch etwas, sollte uns aber nicht zu sicher werden lassen.
Der Sonntag ist keine Nebensächlichkeit. Er gehört von Anfang in den Dekalog, das Grundgesetz Gottes, und er gehört eben deshalb zur Grundstruktur unseres Lebens. Ohne Sonntag geht es nicht!

Sonntag also ja! Aber wie soll er begangen werden? Die Frage führt uns direkt in die kleine Szene hinein, die heute unser Predigttext ist.
Es wird darin eine Geschichte erzählt, an der wir die unterschiedlichen Weisen der Sonntagsheiligung ablesen können.

Zunächst treffen wir da die Jünger, die engsten Vertrauen Jesu. ER ist mit ihnen unterwegs am Sabbat, dem Feiertag. Die Jesusschar streift durch die Felder, das Korn ist schon reif. Und die Jünger greifen in die Ähren, zerreiben sie und essen die Früchte. Waren sie hungrig, wie Matthäus in der parallelen Überlieferung schreibt? Oder waren sie einfach nur fröhlich und ein wenig ausgelassen, weil Jesus mit ihnen war, der "Bräutigam", der Bote und Garant einer neuen Zeit? Das könnte man sich gut vorstellen. Aber dennoch: ein bißchen gedankenlos erscheint einem dieses Ährenausraufen schon, geradezu "spontimäßig", könnte man sagen. So was bringt erfahrungsgemäß Ärger. Nichts ist da erkennbar von den nachdenklichen und gesetzten Apostelgestalten aus Leonardo da Vincis Abendmahlsrunde.

Ährenausraufen am Sabbat. Da muß man doch schon mal etwas sagen, denken die Pharisäer. Am besten gleich Jesus selbst zur Rede stellen. Die Pharisäer sind ja nun nicht einfach fromme Spießer, wie wir es uns das in einer gewissen christlich-protestantischen Überheblichkeit gern zu recht legen. Die verstehen etwas vom Sabbat, und sie zweifeln nicht daran, dass man hier konsequent sein muß. Schließlich ist der Sabbat Gesetz, Gottes heilige Ordnung, und man muß Sorge tragen, dass da nichts weg bricht von dem, was einen hohen Wert für alle hat. Die Pharisäer tun etwas für den Feiertag, auf der Stelle. Sie waren Religionsvertreter, die nicht für faule Kompromisse zu haben waren, denen das klare Entweder-Oder liegt: Heiligung des Feiertags oder Mißachtung desselben, Ordnung oder Beliebigkeit. Dazwischen gibt es nichts. Man kann den Pharisäern wirklich nicht absprechen, dass sie es ernst meinen. Aber dieser Ernst beunruhigt auch. Dass sich Freude oder Entspannung mit diesem Tag verbinden könnte, lassen sie eigentlich nicht erkennen. Feiertagsheiligung als Pensum?

Was wird schließlich Jesus dazu sagen?
Zunächst: Er stellt sich vor seine Jünger. Sie gehören schließlich mit ihm zusammen. Aber er hält sich hierbei doch zurück. Weder verteidigt er ihr Verhalten, noch weist er sie in ihrer Naivität zu recht. Jesus läßt sich überhaupt nicht auf die Frage ein, was man dann am Feiertag, am Sabbat "darf" und was nicht. Jesus hütet sich davor, die einzig richtige Weise der Feiertagsheiligung vorzuschreiben und zu verkündigen. Für ihn definiert sich der Feiertag nicht von den Verboten und Vorschriften, sondern allein von seiner menschenfreundlichen Zwecksetzung her; denn:
"Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Sabbat um des Menschen willen"
Das ist mehr als eine geschickte Antwort. Das ist mehr als gelehrte Interpretation der Überlieferung. Das ist wirklich ein neues Denken. Und es ist die Sprache der Freiheit. Jesus, der Menschensohn, erweist sich hier als Souverän, als "Herr über den Sabbat", wie es bei Markus wörtlich heißt. Jesus nimmt den Feiertag heraus aus den Festschreibungen durch religiöse und konfessionelle Engführungen. Er legt ihn aus als Freiheitsgabe Gottes für die Menschen, für alle Menschen. Was Jesus zum Feiertag sagt, kann jeder verstehen, und es ist auch für jeden gedacht. Eben: Der Feiertag ist für den Menschen da.

Der Sonntag - Gott gewährt uns Menschen eine Zeit der Gnade und der Freiheit. Das gilt es immer wieder neu zu entdecken. "Was ist so herrlich an diesem Tag? Was ist so kostbar, dass es das Herz ergreift" fragt der jüdische Denker Abraham Heschel im Blick auf den Sabbat. Und bildprächtig antwortet er: "Der Grund ist, dass der siebente Tag eine Goldgrube ist, wo man das kostbare Metall des Geistes finden kann, wo man den Palast in der Zeit baut", worin der Mensch "bei Gott zu Hause ist." Der Feiertag, sei es der Sonntag, sei es der Sabbat - Grundstein für einen "Palast in der Zeit"! Das Bild spricht für sich. Deshalb wird in der jüdischen Tradition der Sabbat so hoch gehalten, ja für das wichtigste Zeichen des Bundes Gottes mit Israel geachtet: weil wir an diesem Tag Gott nah sein können, ja sogar zu Teilhabern seiner Schöpfung werden: " Am siebenten Tag ruhte Gott von allen seinen Werken", heißt es in der Schöpfungserzählung. Wie ER, so wir. Darum: "Du sollst den Feiertag heiligen."

Und darin liegt sein Segen für uns, dass wir durch den Feiertag Distanz gewinnen zum Alltag der Woche, der uns sechs lange Tage mit Beschlag belegt.
Es gibt Momente im Erleben der Zeit, in denen wir eine solche Distanznahme besonders hilfreich empfinden. Wenn das Leben von Not zu Not geht, von Hast zu Hast, von Sorge zu Sorge oder auch von Leere zu Leere, dann hilft es wenn da ein Tag kommt, der anders ist, der uns Raum gibt, an dem wir ruhen und beten können, hören und empfangen, feiern und genießen - ein Tag, an dem sich nicht einfach fortsetzt, was immer ist. Ein Tag, der vielleicht wirklich Gelegenheit bietet, "unser zerrissenes Leben zu heilen", wie Abraham Hechel es ausdrückt. Wie notwendig solche Zeiten der Unterbrechung sind, haben viele gespürt, die unter dem Eindruck der furchtbaren Terrorakte von New York und Washington in die Kirchen kamen, um inne zu halten, die Ratlosigkeit auszusprechen, der Angst Einhalt zu gebieten und neue Hoffnung zu schöpfen.
Das Leben ohne solche Unterbrechungen - sei es für einen Tag, sei es für Stunden gleichsam als ein Mini-Sonntag im Alltag - gibt uns den Mühlen langweiliger Routinen oder schlimmer der endlosen Spirale des Unheils preis. Der Feiertag ist um des Menschen willen gemacht. Es lohnt diese "kostbarste Geschenk aus Gottes Schatzhaus" (Heschel) immer neu zu entdecken, anzunehmen und kräftig zu gebrauchen.

Gewiß, in unserer Gesellschaft nehmen immer weniger Menschen den religiösen Sinn des Sonntags wahr. Und ich verstehe schon, dass manche in der Gemeinde enttäuscht darüber sind, weil so wenige diesen "Palast in der Zeit" für sich bauen und betreten möchten, um darin für einen Moment "bei Gott zu Hause zu sein". Aber es ist weder sinnvoll noch nützlich "pharisäerhaft" zu reagieren und mit gekränkter Mine, die Menschen draußen darüber zu belehren, wofür der Sonntag denn "eigentlich" da ist und wie sie ihn "eigentlich" zu begehen hätten.

Der Sonntag ist Angebot Gottes für die Menschen, Angebot der Freiheit - ohne Bedingungen, auch ohne beiliegende Gebrauchsanweisung. Gott gibt umsonst, denn er ist uns freundlich.
Lassen wir also den Jüngern ihren fröhlichen Streifzug durch die Felder, lassen wir den jungen Leuten die Freude am langen Sonntagsschlaf, lassen wir auch den vielgeschmähten Autofreaks ihren Spaß an der gründlichen Fahrzeugpflege am Sonntagmorgen. Wenn sie doch nur die Gelegenheit ergreifen, die Chance des Tages zu nutzen, Pause zu machen, den Lauf der Dinge zu unterbrechen. Hüten wir uns davor, sie dauernd verbessern zu wollen. Vielleicht spüren sie irgendwann selber, dass sogar noch mehr drin ist an diesem Tage.

"Du sollst den Feiertag heiligen". Wer Pause macht tut es. Aber, wie gesagt, damit sind die Möglichkeiten nicht ausgeschöpft.
Solange dieses Gebot die Menschen erreicht, gilt auch die Einladung den Tag zu mehr zu nutzen: für eine "Reise nach innen", wie Dag Hammerskjoeld, der erste Generalsekretär der UNO, es einst formuliert hatte. Das bedeutet, "alle Pläne, Sorgen und Ängste" loszulassen und sie in Gottes Hand zu legen, um sich danach auf zu machen - gestärkt, erquickt und in der Gewißheit, dass Gott mit uns geht durch den Alltag, der morgen wieder beginnt. "Mit neuer Kraft trete ich die Reise nach außen wieder an, nicht mehr allein, sondern mit meinem Schöpfer zusammen."

"Du sollst den Feiertag heiligen".
Der "Palast in der Zeit" ist für jeden geöffnet. Und wir, als die Glieder der Gemeinde Jesu, des "Herrn über den Sabbat", sollten die Türen weit offen halten, Sonntag für Sonntag - damit Menschen eintreten können, um mit uns den "kostbaren Schatz" zu ergreifen und für einen Moment "bei Gott zu Hause zu sein."
Amen

Der Predigttext für den 20.Sonntag nach Trinitatis gehört in die markinische Komposition der "Anfänge" Jesu. Exemplarisch werden Grundelemente der Verkündigung und Sendung Jesu ins Bild gesetzt. Mit Ihm beginnt etwas grundlegend Neues. Jesus ist für die Seinen der "Bräutigam" und die Gegenwart mit ihm ist Freudenzeit (2,19). Davon wird auch das Verständnis des Sabbatgebots bestimmt. Jesus läßt sich nicht auf unsachgemäße Alternativen für die Begehung des Sabbats ein, sondern erneuert den schöpfungsmäßigen Sinn des Feiertagsgebots im Sinne der Menschenliebe Gottes (2,27).
Nachweis der Zitate in der Predigt: socialbrain.com, Berlin 2000, Frage 114; Abraham Heschel aus der Predigtmeditation von Michael Heymel, Pastoraltheologie (GPM)90, 2001, 435-445; Dag Hammarskjöld aus der Predigtstudie von Christoph Bizer und Wilhelm Gräb: Predigtstudien V/2, 2001, 198-206.

Prof. Dr. Jürgen Ziemer
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