Anmerkungen zur Predigt
Liebe Gemeinde!
"Du sollst den Feiertag heiligen!"
So haben wir es gelernt. So steht es in den Zehn Geboten. Ein Tag in
der Woche sei besonders, frei von Arbeit und Geschäften des Alltags.
Ein Tag sei euch heilig - sei es der Sabbat bei den Juden, sei es der
Freitag bei den Muslimen, sei es der Sonntag bei uns Christen.
Haben wir dieses einfache Gebot schon begriffen? Ist es uns wirklich
wichtig?
"Du sollst den Feiertag heiligen!" Vielleicht geht es manchem
mit diesem Gebot so wie mir, wenn ich ehrlich bin: Dagegen habe ich
eigentlich nichts. Aber für seine Beachtung in die Bresche zu springen,
das erscheint mir eher fremd.
Wie aber soll das gut gehen? Wenn diejenigen, die Christen sind und
auch dafür gehalten werden, den Feiertag nicht mit aller Kraft
und Phantasie heilig halten: Wer soll denn dann in unserer Gesellschaft
dafür eintreten, dass der Sonntag ein geschützter Feiertag
bleibt - für Christen wie für Nichtchristen!
Kein Wunder, wenn daran immer wieder gerührt wird. In Leipzig
- oft im Blickpunkt als ostdeutsche Großstadt im Aufwind - war
im vorigen Jahr die Öffnung der Ladengeschäfte auch für
den Sonntag freigegeben worden. Warum nicht am Sonntag shoppen gehen?
Gerade dann, wenn mal Zeit dafür ist. Warum nicht auf diese Weise
Wirtschaft und Handel stimulieren, und zugleich der drohenden Langeweile
entfliehen?
Doch dann kam der Einspruch - von "oben", nicht von den Bürgern,
jedenfalls nicht von einer nennenswerten Mehrheit derselben. Der Gesetzgeber
selbst gebot der sonntäglichen Geschäftsfröhlichkeit
Einhalt. Denn unser Grundgesetz selbst schützt (wie schon die Weimarer
Verfassung zuvor) den Sonntag als Tag "der Arbeitsruhe und der
seelischen Erhebung", wie es so schön heißt.
Immerhin. Einige sind nun aufgewacht. Der Sonntag mußte offensichtlich
erst in Gefahr geraten, um seinen Schutz wirklich ernst zu nehmen. Vielleicht
sind doch mehr Menschen froh über diesen Tag, als zunächst
angenommen.
Jüngstes Beispiel: Im Rahmen der Expo 2000 in Hannover wurde unter
dem Titel "socialbrain.com." eine groß angelegte Umfrage
zu den Zukunftsvorstellungen vorwiegend jüngerer Menschen veranstaltet.
Eine Frage, formuliert von Bischöfin Maria Jepsen, lautete. "Würden
Sie wünschen, dass in Zukunft der Sonntag geschützt und überwiegend
arbeitsfrei bleibt?" 60 % der Befragten antworteten eindeutig mit
Ja. Das beruhigt denn doch etwas, sollte uns aber nicht zu sicher werden
lassen.
Der Sonntag ist keine Nebensächlichkeit. Er gehört von Anfang
in den Dekalog, das Grundgesetz Gottes, und er gehört eben deshalb
zur Grundstruktur unseres Lebens. Ohne Sonntag geht es nicht!
Sonntag also ja! Aber wie soll er begangen werden? Die Frage führt
uns direkt in die kleine Szene hinein, die heute unser Predigttext ist.
Es wird darin eine Geschichte erzählt, an der wir die unterschiedlichen
Weisen der Sonntagsheiligung ablesen können.
Zunächst treffen wir da die Jünger, die engsten Vertrauen
Jesu. ER ist mit ihnen unterwegs am Sabbat, dem Feiertag. Die Jesusschar
streift durch die Felder, das Korn ist schon reif. Und die Jünger
greifen in die Ähren, zerreiben sie und essen die Früchte.
Waren sie hungrig, wie Matthäus in der parallelen Überlieferung
schreibt? Oder waren sie einfach nur fröhlich und ein wenig ausgelassen,
weil Jesus mit ihnen war, der "Bräutigam", der Bote und
Garant einer neuen Zeit? Das könnte man sich gut vorstellen. Aber
dennoch: ein bißchen gedankenlos erscheint einem dieses Ährenausraufen
schon, geradezu "spontimäßig", könnte man
sagen. So was bringt erfahrungsgemäß Ärger. Nichts ist
da erkennbar von den nachdenklichen und gesetzten Apostelgestalten aus
Leonardo da Vincis Abendmahlsrunde.
Ährenausraufen am Sabbat. Da muß man doch schon mal etwas
sagen, denken die Pharisäer. Am besten gleich Jesus selbst
zur Rede stellen. Die Pharisäer sind ja nun nicht einfach fromme
Spießer, wie wir es uns das in einer gewissen christlich-protestantischen
Überheblichkeit gern zu recht legen. Die verstehen etwas vom Sabbat,
und sie zweifeln nicht daran, dass man hier konsequent sein muß.
Schließlich ist der Sabbat Gesetz, Gottes heilige Ordnung, und
man muß Sorge tragen, dass da nichts weg bricht von dem, was einen
hohen Wert für alle hat. Die Pharisäer tun etwas für
den Feiertag, auf der Stelle. Sie waren Religionsvertreter, die nicht
für faule Kompromisse zu haben waren, denen das klare Entweder-Oder
liegt: Heiligung des Feiertags oder Mißachtung desselben, Ordnung
oder Beliebigkeit. Dazwischen gibt es nichts. Man kann den Pharisäern
wirklich nicht absprechen, dass sie es ernst meinen. Aber dieser Ernst
beunruhigt auch. Dass sich Freude oder Entspannung mit diesem Tag verbinden
könnte, lassen sie eigentlich nicht erkennen. Feiertagsheiligung
als Pensum?
Was wird schließlich Jesus dazu sagen?
Zunächst: Er stellt sich vor seine Jünger. Sie gehören
schließlich mit ihm zusammen. Aber er hält sich hierbei doch
zurück. Weder verteidigt er ihr Verhalten, noch weist er sie in
ihrer Naivität zu recht. Jesus läßt sich überhaupt
nicht auf die Frage ein, was man dann am Feiertag, am Sabbat "darf"
und was nicht. Jesus hütet sich davor, die einzig richtige Weise
der Feiertagsheiligung vorzuschreiben und zu verkündigen. Für
ihn definiert sich der Feiertag nicht von den Verboten und Vorschriften,
sondern allein von seiner menschenfreundlichen Zwecksetzung her; denn:
"Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der
Sabbat um des Menschen willen"
Das ist mehr als eine geschickte Antwort. Das ist mehr als gelehrte
Interpretation der Überlieferung. Das ist wirklich ein neues
Denken. Und es ist die Sprache der Freiheit. Jesus, der Menschensohn,
erweist sich hier als Souverän, als "Herr über den Sabbat",
wie es bei Markus wörtlich heißt. Jesus nimmt den Feiertag
heraus aus den Festschreibungen durch religiöse und konfessionelle
Engführungen. Er legt ihn aus als Freiheitsgabe Gottes für
die Menschen, für alle Menschen. Was Jesus zum Feiertag sagt, kann
jeder verstehen, und es ist auch für jeden gedacht. Eben: Der Feiertag
ist für den Menschen da.
Der Sonntag - Gott gewährt uns Menschen eine Zeit der Gnade und
der Freiheit. Das gilt es immer wieder neu zu entdecken. "Was ist
so herrlich an diesem Tag? Was ist so kostbar, dass es das Herz ergreift"
fragt der jüdische Denker Abraham Heschel im Blick auf den Sabbat.
Und bildprächtig antwortet er: "Der Grund ist, dass der siebente
Tag eine Goldgrube ist, wo man das kostbare Metall des Geistes finden
kann, wo man den Palast in der Zeit baut", worin der Mensch "bei
Gott zu Hause ist." Der Feiertag, sei es der Sonntag, sei es der
Sabbat - Grundstein für einen "Palast in der Zeit"! Das
Bild spricht für sich. Deshalb wird in der jüdischen Tradition
der Sabbat so hoch gehalten, ja für das wichtigste Zeichen des
Bundes Gottes mit Israel geachtet: weil wir an diesem Tag Gott nah sein
können, ja sogar zu Teilhabern seiner Schöpfung werden: "
Am siebenten Tag ruhte Gott von allen seinen Werken", heißt
es in der Schöpfungserzählung. Wie ER, so wir. Darum: "Du
sollst den Feiertag heiligen."
Und darin liegt sein Segen für uns, dass wir durch den Feiertag
Distanz gewinnen zum Alltag der Woche, der uns sechs lange Tage mit
Beschlag belegt.
Es gibt Momente im Erleben der Zeit, in denen wir eine solche Distanznahme
besonders hilfreich empfinden. Wenn das Leben von Not zu Not geht, von
Hast zu Hast, von Sorge zu Sorge oder auch von Leere zu Leere, dann
hilft es wenn da ein Tag kommt, der anders ist, der uns Raum gibt, an
dem wir ruhen und beten können, hören und empfangen, feiern
und genießen - ein Tag, an dem sich nicht einfach fortsetzt, was
immer ist. Ein Tag, der vielleicht wirklich Gelegenheit bietet, "unser
zerrissenes Leben zu heilen", wie Abraham Hechel es ausdrückt.
Wie notwendig solche Zeiten der Unterbrechung sind, haben viele gespürt,
die unter dem Eindruck der furchtbaren Terrorakte von New York und Washington
in die Kirchen kamen, um inne zu halten, die Ratlosigkeit auszusprechen,
der Angst Einhalt zu gebieten und neue Hoffnung zu schöpfen.
Das Leben ohne solche Unterbrechungen - sei es für einen Tag, sei
es für Stunden gleichsam als ein Mini-Sonntag im Alltag - gibt
uns den Mühlen langweiliger Routinen oder schlimmer der endlosen
Spirale des Unheils preis. Der Feiertag ist um des Menschen willen gemacht.
Es lohnt diese "kostbarste Geschenk aus Gottes Schatzhaus"
(Heschel) immer neu zu entdecken, anzunehmen und kräftig zu gebrauchen.
Gewiß, in unserer Gesellschaft nehmen immer weniger Menschen
den religiösen Sinn des Sonntags wahr. Und ich verstehe schon,
dass manche in der Gemeinde enttäuscht darüber sind, weil
so wenige diesen "Palast in der Zeit" für sich bauen
und betreten möchten, um darin für einen Moment "bei
Gott zu Hause zu sein". Aber es ist weder sinnvoll noch nützlich
"pharisäerhaft" zu reagieren und mit gekränkter
Mine, die Menschen draußen darüber zu belehren, wofür
der Sonntag denn "eigentlich" da ist und wie sie ihn "eigentlich"
zu begehen hätten.
Der Sonntag ist Angebot Gottes für die Menschen, Angebot der Freiheit
- ohne Bedingungen, auch ohne beiliegende Gebrauchsanweisung. Gott gibt
umsonst, denn er ist uns freundlich.
Lassen wir also den Jüngern ihren fröhlichen Streifzug durch
die Felder, lassen wir den jungen Leuten die Freude am langen Sonntagsschlaf,
lassen wir auch den vielgeschmähten Autofreaks ihren Spaß
an der gründlichen Fahrzeugpflege am Sonntagmorgen. Wenn sie doch
nur die Gelegenheit ergreifen, die Chance des Tages zu nutzen, Pause
zu machen, den Lauf der Dinge zu unterbrechen. Hüten wir uns davor,
sie dauernd verbessern zu wollen. Vielleicht spüren sie irgendwann
selber, dass sogar noch mehr drin ist an diesem Tage.
"Du sollst den Feiertag heiligen". Wer Pause macht tut es.
Aber, wie gesagt, damit sind die Möglichkeiten nicht ausgeschöpft.
Solange dieses Gebot die Menschen erreicht, gilt auch die Einladung
den Tag zu mehr zu nutzen: für eine "Reise nach innen",
wie Dag Hammerskjoeld, der erste Generalsekretär der UNO, es einst
formuliert hatte. Das bedeutet, "alle Pläne, Sorgen und Ängste"
loszulassen und sie in Gottes Hand zu legen, um sich danach auf zu machen
- gestärkt, erquickt und in der Gewißheit, dass Gott mit
uns geht durch den Alltag, der morgen wieder beginnt. "Mit neuer
Kraft trete ich die Reise nach außen wieder an, nicht mehr allein,
sondern mit meinem Schöpfer zusammen."
"Du sollst den Feiertag heiligen".
Der "Palast in der Zeit" ist für jeden geöffnet.
Und wir, als die Glieder der Gemeinde Jesu, des "Herrn über
den Sabbat", sollten die Türen weit offen halten, Sonntag
für Sonntag - damit Menschen eintreten können, um mit uns
den "kostbaren Schatz" zu ergreifen und für einen Moment
"bei Gott zu Hause zu sein."
Amen
Der Predigttext für den 20.Sonntag nach Trinitatis
gehört in die markinische Komposition der "Anfänge"
Jesu. Exemplarisch werden Grundelemente der Verkündigung und Sendung
Jesu ins Bild gesetzt. Mit Ihm beginnt etwas grundlegend Neues. Jesus
ist für die Seinen der "Bräutigam" und die Gegenwart
mit ihm ist Freudenzeit (2,19). Davon wird auch das Verständnis
des Sabbatgebots bestimmt. Jesus läßt sich nicht auf unsachgemäße
Alternativen für die Begehung des Sabbats ein, sondern erneuert
den schöpfungsmäßigen Sinn des Feiertagsgebots im Sinne
der Menschenliebe Gottes (2,27).
Nachweis der Zitate in der Predigt: socialbrain.com, Berlin 2000, Frage
114; Abraham Heschel aus der Predigtmeditation von Michael Heymel, Pastoraltheologie
(GPM)90, 2001, 435-445; Dag Hammarskjöld aus der Predigtstudie
von Christoph Bizer und Wilhelm Gräb: Predigtstudien V/2, 2001,
198-206.
Prof. Dr. Jürgen Ziemer
Bernhard-Göring-Str.14
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