Reformationstag, 31. Oktober 2001
Predigt über Jesaja 62, 6-7.10.12, verfaßt von
Martin Hein

Um die Reformation der Kirche geht es an diesem Tag, liebe Gemeinde.
Wir erinnern uns an jenes Ereignis, als Martin Luther vor inzwischen 484 Jahren in Wittenberg seine 95 Thesen veröffentlichte und damit eine Bewegung in Gang setzte, an deren Ende eine neue Gestalt der Kirche stand. Aber wir fragen zugleich, was die Erinnerung, so lieb sie uns auch sein mag, für die evangelische Kirche in der Gegenwart austrägt, vielleicht sogar: ob sie überhaupt noch lohnt angesichts der völlig veränderten Zeitumstände und Herausforderungen, denen wir uns ausgesetzt sehen.

Das alles tun wir auf dem Hintergrund der Worte aus dem 60. Kapitel des Jesajabuches, die bei näherem Hinhören eine überraschende Auslegung dessen sind, was Reformation der Kirche bedeuten könnte. Der Gang weit in die Geschichte zurück, noch einmal zwei Jahrtausende weiter als zu Martin Luther, zeigt uns, wie stark unser Glaube von der Hoffnung auf Veränderung lebt - und daß jede Veränderung zum Guten letztlich in Gottes machtvoller Zuwendung zu uns gründet.

Damals lag Jerusalem danieder, zerstört und entvölkert durch die babylonische Heere. Gewiß, das Schlimmste war inzwischen vorüber. Die Nachfahren der Deportierten konnten aus der Gefangenschaft zurückkehren. Aber der Anblick vergangener Schönheit blieb bedrückend und der Wiederaufbau unendlich mühsam und entbehrungsreich. Der Mut konnte einen verlassen, ehe man sich überhaupt ans Werk machte. Aber sollte Gott ausgerechnet jetzt, da ein neuer Anfang immerhin möglich schien, sein Volk vergessen haben? Würde er nicht mehr zu seinen Verheißungen stehen? Wenn das so wäre, müßten alle Anstrengungen, die zerstörte Stadt Jerusalem wieder zu errichten, vergeblich sein. Die Erneuerung des alten Glanzes konnte doch nur möglich werden, wenn Gott sich zeigt und zu dem steht, was er versprochen hatte: daß er selbst es ist, der in diese Stadt kommt, weil er sie liebt. Diese Erwartung bestimmte den Propheten. Darum lohnten sich für ihn alle Anstrengungen - je eher und je mehr, um so besser, trotz der Beschwernisse, die unmittelbar vor Augen lagen: trotz all des Schutts und der Trümmer, die beiseite geräumt werden mußten, damit die Bahn für Gottes Ankunft frei würde.

Es war ein doppelter Appell also, liebe Gemeinde, den der Prophet in unsicherer Zeit lauthals und unüberhörbar in die Öffentlichkeit brachte: ein Aufruf an Gott, doch endlich seine Zusagen zu erfüllen und Jerusalem wieder erstehen zu lassen, und zugleich ein Aufruf an das Volk, in seiner Hoffnung auf Gott nicht müde zu werden, ihm Tag und Nacht in den Ohren zu liegen, und in dieser Zuversicht auf Gottes Kommen mit dem Aufbau der neuen Stadt zu beginnen. Das eine wäre ohne das andere nicht denkbar: Gottes Ankunft nicht, ohne zuvor die Hindernisse zu beseitigen, die im Weg liegen - und die mühevolle Arbeit nicht ohne die große Aussicht, daß sie sich um des großen Zieles willen lohnt!

Erneuerung ist nötig - und sie ist möglich. So könnten wir die flammende Botschaft des Propheten auf den Punkt bringen. Und darin ähnelt ihr das Anliegen der Reformation. Zugestanden: Die Kirche ist nicht das neue Jerusalem! So vermessen sollten wir nie sein. Und dennoch spannt sich der Bogen von damals unmittelbar in die Zeit der Reformation. Martin Luther und alle, die von seiner Wiederentdeckung des Evangeliums von Gottes Gnade angesprochen und erfaßt wurden, fühlten sich durchaus in einer zunächst zwiespältigen Lage: auf der einen Seite waren sie davon überzeugt, daß es eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern geben müsse, auf der anderen Seite wurden sie mehr als einmal verzagt angesichts der Größe der Aufgabe, die vor ihnen lag und der sie sich aus eigenen Kräften nicht gewachsen fühlten. Um so mehr war ihnen daran gelegen, die Reformation der Kirche Gott selbst anzuvertrauen und allein als sein Werk anzusehen. Unter dieser Vorgabe machten sie sich daran, die Steine aus dem Weg zu räumen, die die unmittelbare Begegnung zwischen Gott und den Menschen zu behindern drohten - und das war Vieles, was sich im Laufe einer langen kirchlichen Tradition angesammelt hatte: etwa daß es die Kirche sei, die Gottes Heil vermittele, oder daß es auf das Tun guter Werke ankomme, um sich vor Gott als gerecht zu erweisen und ihn gnädig zu stimmen. Für Martin Luther, aber auch für die anderen Reformatoren stand außer Frage: Die Kirche muß sich von Grund auf ändern, will sie dem Auftrag ihres Herrn wieder neu entsprechen, das Evangelium von Jesus Christus zu bezeugen. Aber daß sie dazu auch imstande ist, verdankt sie allein Gott selbst. Die Kirche ist eben in erster Linie nicht eine menschliche Institution, sondern entsteht und besteht ausschließlich durch Gottes Wort. Daß es uns Menschen erreicht, ist Auftrag der Kirche. Alles andere würde sie zum Selbstzweck machen. Sie weist also nicht auf sich selbst, wenn es um die Verheißung der Gegenwart des ewigen Heils geht, sondern sie weist weg von sich auf Christus. In der Verkündigung der Kirche begegnet er uns und verbindet uns im Glauben mit Gott. So gesehen wußte Luther: Die Reformation der Kirche ist zuerst und zuletzt Gottes Werk!

In diesen großen Zusammenhang fühlten sich die Reformatoren eingebunden. Mochte aus ihrer Sicht noch so viel im Argen liegen, war dies für sie doch kein Grund, alles Bisherige preiszugeben. Deshalb sollte die Botschaft von der freien Gnade Gottes für alle Menschen keine neue Kirche neben der alten begründen, sondern die bisherige Kirche erneuern. Es blieb ein dauerhaftes Anliegen der Reformation, die Einheit der Kirche zu wahren. Diese Einheit aber hatte für sie für eine entscheidende und grundlegende Voraussetzung, und die sahen sie im Lauf der Geschichte durch die Kirche selbst verschüttet. Martin Luther drückte das folgendermaßen aus: "Die ganze Welt soll und kann kein andres Licht haben, durch das sie könne erleuchtet werden, als Christus allein. Dieser Glaube und Bekenntnis ist der rechte Grund, auf dem die christliche Kirche gebauet ist. Dies ist auch der Kirche einig Merkmal und Wahrzeichen, an dem man sie als an einem ganz gewissen Zeichen erkennen soll." Rückkehr zur Grundlage der Kirche und Erneuerung auf einem festem Fundament, das niemand Geringeres als Christus ist, lauteten darum die Forderungen, die in die Tat umgesetzt wurden. Aber wohlgemerkt: dies alles in dem Bewußtsein, daß es Gott selbst ist, der dadurch in der Kirche wirksam ist und erfahrbar wird.

Um dieser alles entscheidenden Grundlage willen nahm die Reformation in Kauf, daß sich die Wege bei der Gestaltung der Kirche trennten. Evangelisch zu sein, war die neue Weise, den alten Glauben zu leben, daß Gott uns liebt und zugetan ist - "und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit."

So ist es seit bald fünf Jahrhunderten geblieben. Und niemand wird behaupten wollen, Gott sei in unserer Kirche nicht gegenwärtig gewesen. Aber was sich anfangs wie ein Lauffeuer verbreitete und tiefgreifende Umwälzungen in Kirche und Gesellschaft erzeugte, kommt heute vielen eher ausgebrannt und abgeflacht vor. Vom Feuer und von der Entschiedenheit des Ursprungs scheint wenig zu spüren zu sein.

Wie verhält sich dieser Eindruck zur Auffassung der Reformatoren, daß die Erneuerung der Kirche kein einmaliges Geschehen sei, das irgendwann zum Abschluß gelange? Für sie stellte die Reformation einen fortwährenden Prozeß dar. Immer wieder habe sich die Kirche in der Rückbindung an Christus und sein Evangelium zu erneuern!

Das freilich ist leichter gesagt als getan. Denn natürlich kann es da Ermüdungserscheinungen geben. Auch in der evangelischen Kirche im Lauf der Jahre Vieles verfestigt und ist zugleich Vieles brüchig geworden. Mit beidem haben wir es ja in der Gegenwart zu tun: mit dem Gefühl der Erstarrung und dem der Instabilität. Kann unter diesen Bedingungen die Erinnerung an die Ursprünge der Erneuerung etwas austragen, wie sie uns im Jesajabuch, aber auch bei Martin Luther begegnen? Anders gefragt: Wie ist Reformation der Kirche heute möglich?

Die Antwort darauf, liebe Gemeinde, ist nach allem sehr naheliegend: Die Erneuerung der Kirche steht unter einer großen Verheißung, wenn wir uns in unserem Glauben und in unserem Handeln in gleicher Weise wie vor fünfhundert Jahren an Christus wenden und ihm unsere Kirche anbefehlen. Schon der Prophet in alter Zeit hatte gewußt, daß alles Tun beim Wiederaufbau Jerusalems vergebliche Liebesmühe sei, wenn sich nicht Gott selbst zu diesem Werk bekennt. Und die gleiche Erkenntnis drückt ein Satz aus, der zu meinen Lieblingsworten aus dem reichen Schatz Martin Luthers gehört: "Wir sind es doch nicht, die da die Kirche erhalten könnten. Unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen. Unsere Nachkommen werdens auch nicht sein; sondern der ists gewesen, ists noch und wird's sein, der da sagt: 'Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.'" Mit der Hinwendung zum Herrn der Kirche und dem Gebet zu ihm fängt jede Reformation an. Oder um es im Bild der Bibel zu sagen: "Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, laßt ihm keine Ruhe, bis er" - und jetzt sage ich: die Kirche erneuere! Ohne unser Gebet wäre alles Tun nicht nur kurzatmig, sondern verlöre den entscheidenden Grund und das Ziel aus den Augen.

Diese Haltung schließt allerdings auch die Selbstkritik ein. Deren waren die Vertreter der damaligen Kirche nicht in der Weise fähig, wie es notwendig gewesen wäre. Es geht um die konkrete Frage, welche Hindernisse sich in die evangelische Kirche eingeschlichen haben und welche Irrwege sie womöglich gegangen ist, so daß die Begegnung mit Gott erschwert oder sogar verhindert wird. Sollten wir zu dieser Selbstkritik nicht fähig sein, werden uns die Kritiker der Kirche sofort behilflich sein können. Einige Anfragen legen sich nahe und sind ernsthaft zu beachten: Hat in der evangelischen Kirche die Sorge um den äußeren Bestand längst Überhand genommen gegenüber dem Vertrauen auf Gottes Hilfe? Sind wir als Protestanten längst dabei, das Erbe der Reformation dadurch in Frage zu stellen, daß wir meinen, uns als Kirche wie als Einzelne ständig durch Leistungen beweisen zu müssen? Droht womöglich die Gefahr, daß unsere Kirche - ich sage es bewußt einmal drastisch - ein seelenloser Selbstläufer wird, ohne zu merken, daß Menschen heute auf einer neuen Suche nach Halt und Sinndeutung sind, dieses Bedürfnis aber andernorts stillen? Und es mag sich gerade auch am Reformationstag der Eindruck aufdrängen, wir seien in ökumenischer Hinsicht recht selbstgenügsam geworden und würden nicht mehr wirklich an der Trennung der Kirchen leiden.

Eine Reformation der Kirche, will sie nicht bloß oberflächliche Kosmetik sein, verbindet stets beides: grenzenloses Vertrauen auf Christus und nüchterne Wahrnehmung, wie es um uns steht! Dann erst - aber dann auch wirklich! -, liebe Gemeinde, können die Überlegungen beginnen, wie, in welche Richtung und auf welchen Wegen Veränderungen in Gang gesetzt werden sollen. Gegenwärtig sind nicht nur in den evangelischen Landeskirchen viele dabei, entsprechende Perspektiven zu entwickeln und umzusetzen. Das ist wichtig und aller Mühe wert. Es kommt darin etwas von der Liebe zu Christus und seiner Kirche zum Ausdruck, die schon damals die Reformation bestimmte.

Allen Unkenrufen zum Trotz lohnt es sich, weiterhin an der Erneuerung und Fortentwicklung unserer Kirche zu arbeiten - in der Hoffnung, daß auch für uns gilt, was Gott einst durch seinen Propheten ausrichten ließ: "Siehe, dein Heil kommt!" Für die Schritte, die wir gemeinsam gehen, gebe er uns Beharrlichkeit und Zuversicht, in allem aber gebe er uns seinen Segen. Amen.

Bischof Dr. Martin Hein
Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
E-Mail: bischof@ekkw.de