Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr, 11.11. 2001
Predigt über Lukas 18,1-8, verfaßt von
Hanna Kreisel-Liebermann

Liebe Gemeinde,

vor drei Monaten rief mich eine Frau an: "Meine Tochter kann nicht mehr an der Jugendgruppe teilnehmen, mein "Ex" lauert mir und meiner Tochter auf."
Ihre Stimme klang rauh und mitttendrin stockte sie. Sie sagte, es sei schwer für sie, das zu erzählen. Sie schäme sich. Ihre Tochter habe auch lange nicht gewollt, dass sie mich und die Lehrer anrufe. Aber es helfe ja nichts, wenn sie es nicht sage. Es werde ja doch nur immer schlimmer. Sie hoffe nur, dass der Richter möglichst schnell eine einstweilige Verfügung anordne, damit ihr ehemaliger Mann sie und ihre Tochter endlich in Ruhe lasse. Ich spürte während des Gespräches, dass ich eine Gänsehaut bekam. Helfen könne ich ihr nicht, antwortet sie auf meine Frage. Wie mag sich die Frau, wie mag sich das Mädchen fühlen: der Vater, der ehemalige Ehemann als Bedrohung? Sie trauen sich nicht einmal, auf die Strasse zu gehen, weil er - der ehemals Vertraute und wohl auch geliebte Ehemann und Vater - ihnen etwas antun könnte. Nach vier Wochen kam das Mädchen wieder in die Jugendgruppe. Sie murmelte auf meine Frage, wie es ihr gehe, es sei jetzt alles o.k. Aber in die Augen schauen kann sie mir (noch) nicht.

Sie hat sich gewehrt, die Frau eines Mannes, der sie körperlich und psychisch verletzt hat. Meist unter Alkohol und immer dann, wenn er selbst nicht weiterwusste. Aber, ob aus Schwäche heraus: Schläge tun weh, psychisch und körperlich. Der Richter hat schnell entschieden - und zum Wohle der Bedrohten. Und er hat dem Mann eine hohe Geldstrafe angedroht, sollte er dagegen verstossen. Ein Kavaliersdelikt sei das nicht, wenn ein Mann Ex-Frau und Tochter bedrohe, habe der Richter ergänzt, so war in der Zeitung zu lesen.

Mir war dieses Erlebnis sofort gegenwärtig, als ich den Predigttext für den heutigen Sonntag las. Die biblische Geschichte erzählt von einer Frau, deren Mann gestorben ist: einer Witwe und einem Richter. Ein Gleichnis ist es, d.h. der Erzähler: Jesus nach dem Lukasevangelium will uns eine Ahnung davon geben, wie Gott ist und eine Anregung, wie wir leben können.

Jesus sagte ihnen aber ein Gleichnis um ihnen zu zeigen, dass sie allezeit beten und nicht müde werden sollten und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der Gott nicht fürchtete und sich vor keinem Menschen scheute. Und eine Witwe war in jener Stadt, die kam (immer wieder) zu ihm und sagte: Schaffe mir Recht gegenüber meinem Gegner! Und er wollte eine zeitlang nicht; doch nachher sagte er bei sich selbst: Wenn ich auch Gott nicht fürchte und mich vor keinem Menschen scheue, so will ich doch, weil diese Witwe mir Mühe macht, ihr Recht schaffen, damit sie nicht schließlich kommt und mich ins Gesicht schlägt. Weiter sprach der Herr: Höret, was der ungerechte Richter sagt! Gott aber sollte seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm rufen, ihr Recht nicht schaffen und sollte bei ihnen Langmut üben? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Bälde. Wird jedoch der Sohn des Menschen, wenn er kommt, auf Erden Glauben finden? (Lukas 18,1-8)

Stellt euch/Stellen Sie sich vor, einer Witwe ist Unrecht getan worden. Eine Witwe: heute in Deutschland und damals in Palästina: das ist ein großer Unterschied. Eine Witwe: in Deutschland und in der armen Bevölkerungsgruppe Indiens: das ist ein ebenso großer Unterschied. Erstens: die meisten Witwen in Deutschland sind erheblich älter. In Indien sind sie oft erst Mitte zwanzig. Ähnlich jung müssen wir uns auch diese Witwe vorstellen. Witwen damals in Palästina (Dtn. 10,17-18) und in Indien haben wenige Sicherheiten. Und um die wenigen mussten und müssen sie kämpfen. Witwen in unserem Land sind dagegen recht gut abgesichert - auch wenn sie nur einen Teil der Rente oder Pension bekommen (60%),wenn ihr Mann stirbt und Witwer dagegen alles (100%) behalten. Das ist nach wie vor eine ungleiche Regelung. Der Grund soll sein, dass eine Frau sich allein helfen kann und ein Mann, der seine Frau verliert, externe Hilfe braucht.

Hier in unserem Gleichnis geht es um eine Witwe, der persönlich Unrecht angetan wurde. Die Rede ist von einem "Gegner". Und das war für sie existenzbedrohend. Denn Witwen stand z.B. ein Stück Land zu, auf dem sie sich das Nötigste anbauen konnten. Oft genug aber wurde ihnen dieses Teilchen sozialer Absicherung von der Familie des Verstorbenen oder nicht gewährt. Der Gegner hat sie möglicherweise auch in anderer Weise betrogen. Wir bleiben im Unklaren über die Einzelheiten. Denn darum geht es wohl nicht. Es geht darum, wie sie handelt und was sie damit bewirkt. Und wie der Richter reagiert. Der Richter, der als einer charakterisiert wird, der weder Gott fürchtet noch die Menschen scheue.

Er legt die Assoziation nahe an einen Richter, der nun zu parlamentarischen Ehren gekommen ist. Merkwürdig, dass er auch immer mit seinem Beruf bezeichnet wurde und wird: "Richter Schill" - das verleiht ihm etwas Würdiges, auch eine gewisse Anerkennung für einen, ja ich weiß gar nicht: fürchtet er Gott und achtet die Menschen? Gerne würde ich ihn befragen, den doch auch sympathisch und offen wirkenden nahezu Solo-Parteistreiter Ronald Barnabas Schill. Wer ist dieser Mann? Im "Spiegel" lese ich: " Der Aufstieg Schills begann vor etwa fünf Jahren: Als Richter beim Amtsgericht wollte er einen Inder, der mit einem gefälschten EU-Pass in eine Kontrolle geraten war, für zwei ein halb Jahre ins Gefängnis schicken. Und eine psychisch kranke Frau, die Autos zerkratzt hatte, wurde gleichfalls für zwei ein halb Jahre in den Knast geschickt. Ohne Bewährung, versteht sich. Damals taufte die "Hamburger Morgenpost" Schill in "Richter Gnadenlos" um. An die ganz großen Themen seiner Klientel geht Schill heute nicht mehr ran. Das war aber nicht immer so. Als er 1997 für ganz schwere Fälle wie "bestialische Tötungsdelikte" und Auftragsmorde durch "ausländische Killer" die Todesstrafe ins Gespräch brachte, war auch für den damaligen Hamburger Justizsenator und heutigen Bundesverfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem das Maß voll: Er sei ‚ratlos, wenn ein Richter die Todesstrafe herbeireden will, dessen Dienstzimmer nur einen Steinwurf entfernt von dem Ort steht, an dem die Guillotine zur Nazizeit ihre tödliche Tagesarbeit verrichtete'." Ronald Barnabas Schill ist nun mit fast 20% mit seiner Partei in den Hamburger Senat gewählt worden. Er wird Innensenator in Hamburg - in einer weltoffenen Stadt, in der sich aber viele Bürger "unsicher" fühlen und deswegen Schill gewählt haben. Von ihm versprechen sie sich "härteres Durchgreifen" gegen die alltägliche Bedrohung durch Kriminalität, die sie vor allem bei Ausländern wähnen. Verstehen kann ich, dass die Menschen in Großstädten sich nach mehr alltäglicher Harmonie sehnen und sich weniger Unsicherheit auf den Strassen wünschen. Aber auf wessen Kosten dieses verwirklicht werden soll, bleibt genau zu beobachten.

Der Richter in unserer Geschichte befürchtet vor allem die öffentliche Bloßstellung: Angst vor Gewalt und Beschädigung wohl eher nicht. Aber dieser Frau traut er zu, dass sie sich nicht scheut, ihrer Enttäuschung und ihrem Zorn über eine parteiliche Rechtsprechung Ausdruck zu verleihen, die der Richter für gewöhnlich praktiziert.

Beharrlich kämpft die namenlose Witwe um ihr Recht. Sein Handeln, das "auf-die lange-Bank-schieben" entmutigt sie nicht, das spürt er. Und er wundert sich. Denn wie oft ist es ihm doch gelungen, mit dieser Strategie das Recht zu beugen. Wie oft hat er Erfolge verbuchen können und die Recht-Suchenden mussten unverrichteter Dinge abziehen. Aber in diesem Fall kommt die Gerechtigkeit zum Zuge. Der Richter, vielleicht auch "Richter Gnadenlos" genannt, gibt nach. Iustitia siegt! Iustitia, die Dame mit den verbundenen Augen und der Waagschale als Symbolfigur - so - prangt sie als Skulptur vor allem an jenen Gemäuern, in denen Recht gesprochen wurde. Der Ausgleich soll so geschaffen werden, dass die Waage (wieder) im Lot ist.

Nun ist dieses ein Gleichnis: für Gottes Handeln. Weiter sprach Jesus: Höret, was der ungerechte Richter sagt! Gott aber sollte seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm rufen, ihr Recht nicht schaffen und sollte bei ihnen Langmut üben? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Bälde.

Wie können wir darauf vertrauen, dass Gott Recht schafft? Das ist es doch, was viele beklagen: Wie kann Gott tatenlos zusehen bei so viel Unrecht auf der Erde? Die anschliessende Frage ist für mich ein Teil der Antwort: Aber wird der Menschensohn Glauben finden auf Erden? Glauben und Handeln, Beten und Kämpfen, das lehrt mich die Geschichte von der beharrlichern Witwe: gehören zusammen. Die Witwe hat sich Kraft geholt im Gebet, fühlte sich bestätigt in ihrem Anliegen z.B. durch Psalmen, aber sie war dann auch selbst aktiv. Sie hat nicht gewartet, dass Gott für sie sorgt, sondern sie war sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst. Sie war beharrlich und unnachgiebig. Jesus sagte ihnen aber ein Gleichnis um ihnen zu zeigen, dass sie allezeit beten und nicht müde werden sollten. Ein Gleichnis gegen Resignation und das Gefühl, das ich kenne: "Ich kann ja doch nichts machen, ich bin doch nur ein kleines Rad im Getriebe!"

Aber, liebe Schwestern und Brüder, auch wir kleinen Leute und wir kleinen Räder, wir können etwas bewirken. Dann, wenn wir uns darauf einlassen für Recht und Gerechtigkeit einzutreten und nicht aufgeben. Beispiele gibt es etliche in der Weltgeschichte, aber auch in der Lokalgeschichte. Frauen und Männer, Kinder und Jugendliche, die beharrlich waren und sind. Menschen, die entdeckt haben, dass Beten allein zu wenig und Handeln allein auch zu wenig ist. Beten und Handeln, das ist ein Schlüssel nicht zum Paradies, aber für die Tür zur Hoffnung und zum Vertrauen auf jenen, der uns die Kraft gibt gegen Müdigkeit und Resignation. Und auch zum Widerstand gegen jene, die nun zu parlamentarischen Ehren gekommen sind.

Amen

Literaturhinweis:

Sigrun Wetzlaugk: Schaffe mir Recht...Eine Witwe kämpft um ihr Recht in: Junge Kirche 5/01, Seite 55 ff und für aktuelle Fürbittengebete: www.Brot-für-die-Welt.de

Hanna Kreisel-Liebermann
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