Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr, 11.11. 2001
Predigt über Lukas 18,1-8, verfaßt von Pater Heribert Arens, ofm

"Jesus sagte ihnen durch ein Gleichnis, daß sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten: In einer Stadt lebte ein Richter, der Gott nicht fürchtete und auf keinen Menschen Rücksicht nahm. In der gleichen Stadt lebte auch eine Witwe, die immer wieder zu ihm kam und sagte: Verschaff mir Recht gegen meinen Feind! Lange wollte er nichts davon wissen. Dann aber sagte er sich: Ich fürchte zwar Gott nicht und nehme auch auf keinen Menschen Rücksicht; trotzdem will ich dieser Witwe zu ihrem Recht verhelfen, denn sie lässt mich nicht in Ruhe. Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mich ins Gesicht. Und der Herr fügte hinzu: Bedenkt, was der ungerechte Richter sagt. Sollte Gott, der seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern zögern? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen. Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde (noch) Glauben antreffen?"

"Wird der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde noch Glauben antreffen?" Das ist der nachdenklich stimmende Schlusssatz dieses Evangeliums. Darauf läuft alles hinaus. Den Glauben, der sich auch im nicht nachlassenden Gebet äußert, gilt es, lebendig zu erhalten. Und das ist alles andere als leicht! Oder haben Sie je erlebt, daß Sie Gott um etwas gebeten haben - und Sie haben es postwendend erhalten? Das mag zwar vorkommen, aber es ist doch wohl eher die Ausnahme! Normalerweise beten, flehen, schreien Menschen zu Gott, ohne daß der sich in das Geschehen einmischt und die Ursache ihrer Not beseitigt. Die Geschichte des bittenden Gebets ist - zumindest, was die direkte Erhörung der Gebete angeht - eher eine Misserfolgs- denn eine Erfolgsgeschichte. Da ist es näherliegend, aufzugeben als weiterzubitten!

"Ich habe ihn jetzt dreimal gebeten, und er hat nicht darauf reagiert. Jetzt kann er mir gestohlen bleiben. Ich sehe zu, wie ich die Sache anders löse." Wer hätte einen solchen oder ähnlichen Satz nicht schon mehr als einmal ausgesprochen. Wenn mir jemand durch seine Missachtung meiner Frage oder Bitte zeigt, daß er in Ruhe gelassen werden will, mache ich mich nicht zum Narren. "Der kann mir gestohlen bleiben! Ich finde schon andere Mittel und Wege!" In dieser menschlich nur zu verständlichen Reaktion liegt die Gefährdung des Glaubens, von der der letzte Satz dieses Evangeliums spricht. Ich möchte ja an Gott glauben. Ich möchte darauf vertrauen, daß er mein Leben begleitet, daß er mich schützt und stützt. Aber wenn der Großteil meiner Anliegen, mit denen ich mich an ihn wende, ins Leere läuft.....! Da kann der Glaube, kann das Vertrauen leicht verloren gehen. Wenn der Menschensohn wiederkommt, darf er sich nicht wundern, wenn er keinen oder nur noch wenig Glauben vorfindet.

Das Aushalten des Misserfolgs, ihn weiterhin bitten, auch wenn keine Antwort, geschweige denn eine Erhörung kommt, dazu lädt mich Jesus mit dem Gleichnis des Evangeliums ein. Gott immer wieder ansprechen, auch wenn er schweigt und schweigt, an ihm festhalten, auch wenn ich ihm gleichgültig zu sein scheine, täglich neu bitten, auch wenn er mir allem Anschein nach die kalte Schulter zeigt, das ist seine Empfehlung für ein gelingendes Leben - wahrhaftig keine einladende Einladung! Erst recht nicht, wenn ich diese Werbung für das "allezeit beten" neben die Einladung der mir vertrauten Werbung stelle. Werde ich eingeladen zu einem Beruf, dann werden mir selbstverständlich ein entsprechendes Gehalt und Aufstiegschancen verheißen - unterstrichen von Fotos erfolgreicher Berufsbewerber. Lädt die Werbung mich ein, ein bestimmter Produkt zu kaufen, verheißt sie den schnellen Erfolg und unterstreicht die Verheißung mit glücklichen Gesichtern. Werbung und Einladung haben Erfolg und Glück als Geschwister.

Gleichzeitig mache ich oft, ja meist die Erfahrung, daß das schnelle Glück wenig taugt. Wie oft jage ich Trugbildern nach, die ich für Glück halte, in Wirklichkeit aber erweisen sie sich als leer und untauglich. Auf der anderen Seite erfahre ich, daß Dinge, auf die ich lange warten, um die ich kämpfen muss, die mir nicht in den Schoß fallen, mich eine Erfahrung von Glück und Beschenktsein erleben lassen, die mein Leben bereichert und trägt. Und nicht selten mache ich die Erfahrung: das, was ich erbitte, ist nicht immer das, was mir gut tut. Manchmal bin ich im Rückblick geradezu dankbar, daß Gott mich nicht erhört hat, daß er mich hat warten lassen, daß er mir vielleicht anderes geschenkt hat, was ich nicht erwartet habe, was aber dem Gelingen meines Lebens dient.

Vor Jahren las ich einen autobiographischen Roman von Mary Verghese: "Um Füße bat ich und er gab mir Flügel. Mary Verghese ist eine schöne junge Frau. Kurz vor ihrem Examen als Ärztin wird sie bei einem Autounfall schwer verletzt. Ihr schönes Gesicht wird durch eine große Wunde entstellt. Ihr Körper bleibt querschnittsgelähmt. Ihre Füße stehen ihr nicht mehr zur Verfügung - stattdessen der Rollstuhl. Oft bittet sie Gott um "neue Füße". Vergeblich. Aber was er stattdessen nach und nach in ihr aufbaut, ist Hoffnung, Lebensmut, Energie, Vertrauen. Sie bleibt entstellt, an den Rollstuhl gefesselt. Aber sie wird eine berühmte Ärztin. Die ihr begegnen, bekommen durch diese Frau neue Hoffnung und Lebensmut. Am Ende stellt sie staunend und dankbar fest: "Um Füße bat ich - und er gab mir Flügel".

Jesus, der uns mit dem Gleichnis des Evangeliums zu unablässigem Gebet einlädt und zusagt, daß Gott uns erhören wird, hat selbst ja ähnliches erlebt. Vor ihm tut sich der Kreuzweg und der grausame Tod am Kreuz auf. Er bittet in seiner großen Angst: "Vater, wenn es möglich ist, dann lass diesen Kelch an mir vorübergehen!" Gott hat ihn nicht erhört. Jesus musste das Kreuz auf sich nehmen, er musste die schmerzliche und schmähliche Kreuzigung ertragen. Auf diesem Kreuzweg aber erlebte er gleichzeitig: "Engel dienten ihm". Gott führte ihn nicht am Leiden vorbei, aber er blieb im Leid an seiner Seite, er ließ ihn nicht allein. Gott machte ihm am Ostermorgen nach dem schweren Todesweg das Geschenk der Auferweckung, das Geschenk eines unzerstörbaren Lebens.

Wie wäre unsere Heilsgeschichte verlaufen, hätte Gott die Bitte Jesu erhört, hätte er ihn an all dem Schweren und Leidvollen vorbeigeführt? Wie viele Leidende in unserer Welt wären hoffnungslos, mutlos, gottverlassen in ihrem Leid, weil sie ihren leidenden Bruder Jesus nicht an ihrer Seite finden könnten. Wie gut für uns alle, daß Gott mit seinem Sohn diesen Weg gegangen ist, der auch unserem Leben verheißt: Ich führe dich nicht an Schwerem und Leid vorbei, du wirst klagen und stöhnen. Aber sei gewiss, ich bin an deiner Seite, ich schenke Dir Mut und Kraft, das Schwere zu bestehen. Ich zeige dir in meinem Sohn, daß der beschwerliche Weg durch das irdische Leben in ein Leben mündet, das keinen Tod mehr kennt, in dem "jede Träne weggewischt wird von deinen Augen".

Bedenke ich das alles, dann bekommt die Einladung Jesu eine Intensität und Aktualität! Jesus weiß, wie schwer es ist, den Glauben an Gott durchzuhalten, wenn das Leben eher von der Erfahrung der Gottferne geprägt ist. Die Gemeinde, der Lukas sein Evangelium schreibt, macht bereits im ersten Jahrhundert diese Erfahrung. Sie hatten sich auf Jesus eingelassen, hatten ihr Leben geändert im Vertrauen: Er kommt bald wieder und macht alles neu und gut. Statt dessen mussten sie erleben, daß er - trotz intensiven Betens und Bittens nicht wiederkam. Vielmehr erlebten sieVerleumdung, Verfolgung und Ermordung. Die Versuchung war groß, aufzugeben, sich den "Realitäten" zu fügen und weiterzuleben, als hätten sie nie von Jesus gehört. Dieser Versuchung widerspricht das Gleichnis. Es lädt ein zu einer Tugend, die gemeinhin kaum im christlichen Tugendkatalog auftaucht: der Tugend der Hartnäckigkeit, der Zähigkeit. Gib nicht so schnell auf. Halte zäh an dem fest, was dir wichtig geworden ist, selbst wenn der Augenschein dagegen spricht.

Diese Einladung hat bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Wir leben in einer säkularisierten Welt, in der die Gesetze des "Machens", des Erfolgs, des schnellen Glücks regieren. Es sieht so aus, als brauche die Welt Gott nicht. "Wir können's alleine!" In dieser Welt an einen Gott glauben und auf einen Gott hoffen, der zumindest auf den schnellen Blick wenig von sich spüren lässt, das ist nicht leicht! Schnell färbt die Gott-losigkeit ab, schnell hat sie dich in ihren Sog genommen, manchmal fast unmerklich. "Wird der Menschensohn, wenn er kommt, noch Glauben antreffen? Wird er noch Beter antreffen, die mit Gott reden, die auf seine Nähe bauen, die auf seine Hilfe vertrauen - selbst wenn er ganz anders hilft, als sie es erwarten?

Es braucht ein Vertrautwerden mit diesem Gott, um zu entdecken, daß er da ist, daß er am Werk ist - wenn vielleicht auch ganz anders, als wir es erwarten. Es braucht die Zähigkeit einer Mary Verghese, die in ihrer gelähmten Lebenssituation die Kraft findet, zu entdecken, daß ihr Flügel wachsen. Es braucht das ausdauernde Verweilen am Lebensweg Jesu, um an seinem Weg zu erspüren, daß Gott uns nicht am Schweren vorbeiführt, uns aber durch das Schwere begleitet: "...und Engel dienten ihm". Und es braucht das ausdauernde Verweilen bei meinem eigenen Leben. Es ist gut, wenn ich mein Leben nicht nur mit flüchtigem Blick anschaue, sondern verweilend, ausdauernd, mit der Sehnsucht im Herzen, den verborgenen Gott in meiner Lebenswirklichkeit zu entdecken.

Einer, der das mit bewundernswerter Glaubenskraft konnte, war der Schauspieler und Dichter Ernst Ginsberg. 1964 starb er, nachdem eine heimtückische Krankheit seinen Leib mehr und mehr gelähmt hatte. Diese Phase seines Lebens hat er in betenden Gedichten festgehalten, die er am Ende nur noch mit Fingerzeichen diktieren konnte. Er verkörpert für mich eine Haltung, die dazu beiträgt, daß der Menschensohn, wenn er kommt, noch Glauben antreffen kann. Mit einem kurzen Gedicht von ihm und mit den letzten Versen eines seiner Gebete beschließe ich diese Predigt:

Augenschein

Zur Nacht hat ein Sturm alle Bäume entlaubt
sieh sie an, die knöchernen Besen.
Ein Narr, wer bei diesem Anblick glaubt
es wäre je Sommer gewesen.

Und ein größerer Narr, wer träumt und sinnt
es könnte je wieder Sommer werden.
Und grad diese gläubige Narrheit, Kind,
ist die sicherste Wahrheit auf Erden. (1)


Ich falte
die Hände,
die lahmen,
im Geist
und bete
ins Dunkel
daß es
zerreißt. (2)

aus: Ernst Ginsberg, Abschied, Zürich 1965, S. 238 (1), 258 (2)

Pater Heribert Arens, ofm (*)
37308 Geismar-Bebendorf
E-Mail: Kloster-Huelfensberg@t-online.de

(*) =ordo fratrum minorum: Franziskaner