Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr (Volkstrauertag), 18.11. 2001
Predigt über Jeremia 8, 4-7, verfaßt von Karin Klement

PREDIGTTEXT: Jeremia 8, 4 - 7
So spricht GOTT:
Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?
Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für?
Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen.
Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden.
Es gibt niemandem, dem seine Bosheit leid wäre
und der spräche: Was habe ich doch getan!
Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.
Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen;
aber mein Volk will das Recht Gottes nicht wissen.

VORBEMERKUNGEN
Eine Flut von Bildern über Naturgesetze, die bei Mensch und Tier Geltung haben; doch hinter den Worten wird trauriges Erstaunen spürbar, klagende Ratlosigkeit und schmerzliches Unbegreifen: Bei meinem Volk gelten all diese Regeln nicht!

Gott leidet an seinem Volk, an jenen Menschen, die den gemeinsamen Bund pervertiert, ihre Beziehung zu Gott längst abgebrochen haben. Sie preschen dahin wie ungestüme Schlachtrosse, eisern festgelegt auf eine Richtung und zur Umkehr nicht fähig; als ob die Pferde mit ihnen durchgegangen sind oder sie vom Teufel geritten werden. Ihre Wege sind falsch; diese führen in die Irre, in Sackgassen oder auf Abgründe zu. Dennoch halten sie daran fest; als wären ihre Wege die einzig wahren. Sie sind sich scheinbar sicher in ihrer Art Gott zu dienen; doch ER sieht und hört, dass sie Gott und sich selber etwas vor machen. Sie nehmen Gott gar nicht ernst. Sie spielen IHM etwas vor und glauben, Gott merkt es nicht.

Und niemand registriert wirklich, was er/sie tut und redet; niemand nimmt selbstkritisch zur Kenntnis, was bei ihm/ihr nicht in Ordnung ist. Die Menschen leben dahin, als gäbe es keinen Gott und ihr Verstand, ihre Lebensklugheit wäre das Höchste.

Angesichts der gehäuften vorwurfsvollen Mahnungen im Text regt sich starker Widerstand in mir: Wer mag sich schon gern persönlich in Frage stellen und dabei unterstellen lassen, er/sie sei auf dem falschen Wege? Aber genau dort, wo ich so empfindlich reagiere, ist wohl auch ein wunder Punkt getroffen. Muss ich mir das Wort des Propheten nicht erst recht sagen lassen: Wo halte ich unerbittlich fest an meiner Auffassung, überzeugt, dass sie allein die Richtige sei? Wo bin ich nicht bereit, mit anderen gemeinsam "umzukehren", mich in aller Selbstgewissheit auch immer wieder hinterfragen zu lassen in meinem Denken, Reden und Handeln? Wo glaube ich, alles selbst in der Hand zu haben (Gottesdienstgestaltung, Dienst gegenüber Gott im Leben meiner Gemeinden) und erwarte gar nicht mehr, dass da ein Gott ist, der anderes kann und will?

Manchmal braucht es die Provokation (Herausforderung), um für einen Moment inne und Ausschau zu halten nach der richtigen Richtung, damit wir nicht wie die Lemminge gemeinschaftlich in einen Abgrund zu stürzen.

VOLKSTRAUERTAG - dieser Kasus steht im Vordergrund meiner beiden dörflich strukturierten Gemeinden. Fahnenträger der Vereine werden kommen; am Mahnmal zum Frieden wird an das Unrecht und sinnlose Leiden vergangener Kriege erinnert. Leise, besinnliche Töne - wichtiger, eindrücklicher als manches heftige, vorwärtsstürmende Geschrei.

PREDIGT
Liebe Gemeinde!

Heute ist VOLKSTRAUERTAG - ein staatlicher Gedenktag zur Erinnerung an die Schrecken der letzten beiden Weltkriege. Ein offizieller Tag der Trauer und der Erinnerung, nicht nur für die Angehörigen jener Menschen, die in diesen Kriegen zu Tode kamen, sondern für unser ganzes Volk. Aber kann ein ganzes Volk trauern und Schuld erinnern - zumal, wenn die schmerzlichen Erfahrungen dieser Kriege so lange zurückliegen? Ich kann mir gut vorstellen, dass es z.B. euch Konfirmand(inn)en schwer fällt, eine direkte Verbindung zwischen dem, was sich damals ereignete, und eurem eigenen Leben zu entdecken. Vielleicht sind eure Großväter noch im Krieg gewesen. Doch, was sie davon erzählen, ist für euch weiter weg als die Schlachtenfilme und historischen Berichte im Fernsehen.

Kann ein Volk auch dann noch über die Schrecken des Krieges trauern, Schuld bekennen, wenn es schon in seiner dritten Generation in relativ stabiler Sicherheit und ohne Krieg lebt? Kann es das Entsetzen, die Ohnmacht und das Wissen um Schuld nachempfinden, das durch Bombenterror, Vertreibung oder unmenschliche Grausamkeit gegenüber Wehrlosen ausgelöst wurde?

Wir leben derzeit in einem Land ohne Krieg - aber leben wir in Frieden?? Wohl kaum, denn dazu will es bei uns immer noch nicht reichen. Gewalt herrscht vor in vielen Lebensbereichen - nicht nur durch äußere Terror-Erfahrungen - sondern auch innerhalb von Familien, auf Schulhöfen, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf den Autobahnen. Unter der zivilisierten Oberfläche toleranter Mitmenschlichkeit lodert manches heiße Eisen: Von Fremdenfeindlichkeit über schonungslosen Konkurrenzkampf, von sozialer Ausgrenzung bis zu neuer Armut bei zahlreichen Arbeitslosen - all dies hinterlässt ein breite Spur des Un-Friedens in unserem Land. Der Krieg ist in Deckung gegangen, aber Frieden ist noch nicht geworden. Stattdessen verändert sich das ursprüngliche Bild von KRIEG.

Einst wurden Kriege feierlich erklärt oder zumindest durch politische Entscheidungen eröffnet und ebenso beendet. Sogar im Chaos von 1945 gab es Generäle, die für das geschlagene deutsche Reich eine für alle Soldaten und Zivilisten verbindliche Kapitulation unterzeichnen konnten. Heute eskalieren einzelne Terrorakte zwischen verschiedenen Gruppierungen, die nicht unbedingt identisch sind mit einem Volk. Es wird aus dem Untergrund heraus gekämpft, ausgerichtet auf ein idealisiertes Ziel, verbunden mit persönlichen Machtinteressen, ohne verbindliche Regeln für die jeweiligen Gegner. Ein "erfolgreiches" Attentat gilt z.B. als Legitimation für den gewaltsamen Gegenschlag. Die alttestamentliche Eingrenzung von gegenseitiger Gewalt - "Auge um Auge, Zahn um Zahn" - dient jetzt einem kaum mehr begrenzten Ausleben von nationalen oder persönlichen Rachegelüsten.

Eine Form von "privatisierter Gewalt in unterschiedlicher Mischung aus fundamentalistischem Fanatismus und simpler Kriminalität" nennt der Politiker Erhard Eppler die wechselseitigen Mordanschläge im Nahen Osten, das Gemetzel zwischen Tutsis und Hutus in Ruanda, das Kidnapping von Touristen durch die "Rebellen" der Abu Sayyaf oder verschiedene andere sogenannte "Befreiungskämpfe". Der Krieg hat ausgedient - jetzt herrscht der Terror! Deshalb fällt es mir auch schwer, von einem - wie auch immer legitimierten - "Krieg" in Afghanistan zu sprechen. Wo sich eine Terrororganisation hinter der offiziellen staatlichen Regierung versteckt, wird die Strategie zu ihrer Bekämpfung immer schwieriger und komplexer. Polizei-Arbeit vermischt sich mit militärischen Aktionen. Doch es bleibt fraglich, ob militärische Einsätze erfolgreich sind, selbst wenn sie mit Lebensmittelabwürfen für das Volk "schmackhafter" gemacht werden; es bleibt ungewiss, ob sie die gesuchten fanatischen Mörder treffen und ausschalten können.

Der Terroranschlag am 11. September auf ein Symbol westlicher Wirtschaftsmacht und stolzen Fortschrittsglauben hat unser lange gepflegtes Sicherheitsgefühl zutiefst erschüttert. Er hat uns daran erinnert, dass wir auf keiner "Insel der Seligen" leben, unabhängig vom Leben der Menschen anderer Erdteile. Er hat uns schmerzhaft vor Augen geführt, dass es in dieser Welt weder Frieden, noch Gerechtigkeit und Wohlergehen für alle Völker und Menschen gleichermaßen gibt. Wir können nicht mehr übersehen, dass wir Verantwortung mittragen für eine notwendige gerechtere Verteilung unserer irdischen Ressourcen. Auf menschliche Weise gerechten Ausgleich und Frieden zu schaffen haben wir leider immer noch nicht gelernt.

Darum ist es an der Zeit, umzukehren von den falschen Wegen, mahnt der Prophet JEREMIA im Auftrage Gottes seine Zeitgenossen. Hören wir, was Gott über JEREMIA seinem Volk mitteilt:
- TEXT -

Es ist dringend Zeit umzukehren - generell, nicht nur in einzelnen Punkten persönlicher Lebensweisheit und Lebensgestaltung. Umzukehren radikal - sich neu zu orientieren, bis an die Wurzeln des Selbst. Es geht nicht nur um kleinere oder größere "Verbesserungen" im gemeinschaftlichen oder persönlichen Leben. Nicht nur darum, die Zügel straff zu ziehen, um dem dahinpreschenden Leben eine kleine Richtungsänderung zu geben. Es geht um viel Grundsätzlicheres: um Tod und Leben, ans Ende zu kommen und neu anzufangen.

Wenn Menschen unerwartet an die Grenzen ihres Lebens kommen, herausgerissen werden aus allem, was sie sich in Jahrzehnten aufgebaut haben; wenn Krankheit oder Tod als einzige Perspektive erscheinen, eröffnet sich ihnen ein Abgrund - oder ein völlig neuer, radikaler Ausweg, eine Hoffnung, die alles bisher Gewesene sprengt. Mittelwege, Ausflüchte sind dann nicht mehr möglich. UMKEHR radikal. Ich erinnere General Bastian, einen hohen, verdienten Bundeswehroffizier, der plötzlich eine Kehrtwendung um 180 Grad machte: Vom überzeugten Militaristen zum Friedensbewegten Gewaltverzichter. Solche radikale Umkehr liegt nicht in unserer eigenen Hand. Selbst kleinere Veränderungen des alltäglichen Lebens benötigen manchmal große Anstrengungen, unterstützende Rituale oder Anstöße von außen - gerade auch mit (prophetischen) Worten!

"Unbegreiflich!" Ratloses, trauriges Erstaunen spricht aus den Worten, die dem Propheten durch Gott in den Mund gelegt sind. Als ob ER ganz menschlich enttäuscht sei, klagend und dennoch werbend, redet Gott sein Volk an. Es ist schlicht nicht zu fassen. Können Menschen so unklug sein, dass sie die natürliche, selbstverständliche Reaktion auf ein Erleben verlernt haben? Wer hinfällt, steht automatisch wieder auf, wenn er nicht behindert wird. Wer vom Weg abkommt, in eine falsche Richtung geht, sucht nach rechter Orientierung. Instinktiv spüren wir, wenn die Richtung unseres Lebens nicht mehr stimmt. Entweder landen wir im Dickicht von immer gewaltigeren Problemen. Oder stürzen über unsere Ziele hinaus, ungebremst an ihnen vorbei in einen Abgrund von Schwierigkeiten und Misserfolgen hinein.

Jeremia spricht in Bildern. An die einfachen, elementaren Gesetzmäßigkeiten des Lebens erinnert er seine Zuhörerschaft: Hinfallen und wieder aufstehen. Sich verlaufen und wieder umkehren, um den richtigen Weg zu finden. Nicht wie vom Teufel geritten weitermachen, wenn man sich vertan hat. Es sind Grunderfahrungen des Lebens, dass Menschen immer wieder straucheln, hereinfallen auf vorgegaukelte Feindbilder und verführerische Parolen irreführender Autoritäten. Dass sie auf das falsche Pferd setzen und sich dabei vergaloppieren. Dass sogar die Pferde mit ihnen durchgehen, ungestüm, zügellos und ungebändigt, voller Tatendrang für ein angeblich höheres Ideal; bis sie vom hohen Ross tief herabfallen, unsanft und schmerzhaft landen auf dem harten Boden der Realität. Jeder und jede hat solche Erfahrungen schon einmal gemacht. Gott erwartet keine "fertigen", perfekten Menschen. Seine Lebensordnungen, die er uns mit den 10 Geboten ans Herz gelegt hat, rechnen mit der Schwäche und Fehlerhaftigkeit des Menschen. Sie nehmen sie als das Natürliche hin, um sie dennoch verändern zu wollen. Wie Kinder ja auch erst laufen und den richtigen Umgang miteinander lernen müssen, wenn sie erwachsen werden wollen. So können Menschen an der Lebensordnung Gottes entlang "laufen lernen", können sie ihren Weg ins Leben finden. Das hohe Ross der Selbstüberheblichkeit muss gezügelt werden, damit man Irrtümer, Versagen und Schuld eingestehen und den eigenen Weg ändern kann. An der Hand Gottes wird Umkehr ins Leben möglich.

Nachdem vorab Selbstverständliches geklärt, und die Zustimmung der Hörenden eingeholt ist, redet JEREMIA im Namen Gottes weiter. Eine fast verzweifelt klingende Klage Gottes bringt er ihnen zu Gehör: "Warum? Warum will denn mein Volk irregehen immerzu? Sie laufen alle ihren Lauf, wie ein Ross, das in der Schlacht dahinstürmt. Es gibt niemanden, dem seine Bosheit leid wäre, und der sich fragt: Was habe ich getan? Mein Volk will das Recht Gottes nicht wissen!" Welch ein leidenschaftliches Klagelied, in dem soviel Liebe anklingt. So ohnmächtig um ihre Liebe werbend spricht der Allmächtige zu seinen Menschen und will sie immer noch umstimmen. Er legt ihnen sogar die Worte vor, mit denen eine Rückkehr zu ihm beginnt: "Was habe ich getan?" Worte der Schulderkenntnis; erschrockene Worte der Einsicht in eigenes unrechtes Verhalten. Worte, die dem dahinstürmenden "Schlachtross" jeden vermeintlichen "Zugzwanges" die Zügel anziehen. Worte, die bremsen wollen, was ins Verderben rennt.

Wir sollten anhalten und uns besinnen, die Erinnerung wachrufen und aus ihr lernen: Was haben wir getan - als Volk und Gesellschaft, aber auch jede/jeder einzelne? Was haben wir getan oder unterlassen - damals während der Nazizeit und heute, angesichts so vieler ungerechter Zustände, die jene Menschen, die darunter leiden, zum Aufruhr bringen. Bemühen wir uns um Frieden für alle - oder reicht uns unsere eigene Zu-Friedenheit? Trauer und Schuld-Erinnerung zuzulassen ist schwer, aber wohl dringend notwendig, als Wegweisung auf dem Weg zur Umkehr.

"Mein Volk will das Recht Gottes nicht wissen!" klagt Gott mit dem Munde Jeremias und gibt doch die Hoffnung nicht auf. Und was ist mit unserer Hoffnung? Wollen wir dieses Recht Gottes, Seine Lebensordnung wissen? Also wissen, dass es einen Gott gibt und eine Mitmenschlichkeit in Seinem Namen? Dass es ein Miteinander gibt aus Achtung vor dem anderen als Geschöpf Gottes, und ein Recht auf Leben, weil wir glauben, dass Gott jedem das Leben schenkt? Wollen wir das ernsthaft wissen, davon reden und danach handeln, wo immer es nötig ist?

Zumindest könnten wir anfangen dies noch einmal zu lernen: Dass wir nicht aufhören, miteinander das Gespräch zu suchen, uns keineswegs mit einem scheinbaren Sieg zufrieden geben (auch nicht über die realen Bösewichter, Attentäter und Mörder) vielmehr wirklichen Frieden suchen - zusammen mit den Taliban und sonstigen "Rebellen"; gemeinsam Israelis und Palästinenser, nordirische Protestanten und Katholiken und viele andere "gegnerische" Gruppen - mag es auch nach Jahrzehnten immer wieder schwierig und kompliziert sein.

UMKEHR zu Gott geschieht generell und radikal. Sie hinterfragt unser Können und Wollen, unsere guten Absichten genauso wie unsere festgelegten Überzeugungen. Sie läst uns nackt dastehen - völlig bloß und ungeschützt vor den Augen des Schöpfers. IHM können wir nichts vormachen - warum sollten wir es vor einander, vor uns selber tun??

AMEN

Pastorin Karin Klement
Lange Straße 42
37077 Göttingen
karin.klement@evlka.de