Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

1. Advent, 2. Dezember 2001
Predigt über Hebräer 10, (19-22).23-25 , verfaßt von Hans-Gottlieb Wesenick
auf der Grundlage einer Predigt von Hartmut Löwe (1)

Weil wir denn nun, liebe Brüder, durch das Blut Jesu die Freiheit haben zum Eingang in das Heiligtum, den er uns aufgetan hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das ist: durch das Opfer seines Leibes, und haben einen Hohenpriester über das Haus Gottes, so laßt uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in vollkommenem Glauben, besprengt in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser.

Laßt uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat; und laßt uns aufeinander achthaben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken, und nicht verlassen unsre Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das um so mehr, als ihr seht, daß sich der Tag naht.

Liebe Gemeinde!

Das hat wohl jeder schon erlebt: auf einmal geht es nicht mehr weiter. Eine Tür ist verschlossen; ein Grenzstein, ein Schlagbaum, ein Verbotsschild markieren plötzlich eine unüberwindliche Grenze. Wir stehen am Ende unserer Welt.

Die Alten stellten sich zwischen Himmel und Erde eine Wand vor. Sie rannten dagegen an und erfuhren, wie schwer sie sich durchstoßen läßt. Sie waren fest davon überzeugt: Gottes Welt und unsere Erde sind einander fremd, oft sogar feind. Folglich gibt es profane, also weltlich-menschliche Bereiche, und es gibt davon abgegrenzte Bezirke des Heiligen. Heute reden und denken wir nicht mehr so. Die Welt, so sagen wir, ist eine geworden, Profanes und Heiliges sind nicht länger mehr getrennte Bereiche.

Da ist gewiß Richtiges erkannt. Denn wir leben ja "nach Christi Geburt", post Christum natum. Und mit dem Kommen Jesu Christi in unsere Welt sind Grenzen niedergerissen worden. Gleichwohl denke ich manchmal, ob nicht die Alten klüger waren als wir, realistischer, nüchterner, jedenfalls mit beiden Beinen auf der Erde stehend und nicht ständig auf Illusionen schwebend in ihrer Welt unterwegs. Wie sie geraten auch wir nach wie vor an Grenzen. Noch immer und nicht selten schon wieder gibt es verschlossene Türen. Da können wir nicht weiter, bleiben gefangen.

Was am 11. September in New York und Washington passierte, das ist solch eine neue Grenze. Plötzlich war sie da - für die Amerikaner und mit ihnen für die ganze sogenannte westliche Welt. Viel ist darüber geredet und erklärt worden seither. Nur allmählich werden Konturen erkennbar, Konturen eines tiefgehenden und seit langem schon schmorenden Konflikts, Zusammenhänge, Gründe. Der Schock sitzt tief. Und viele Reaktionen auf das schreckliche Geschehen überzeugen nicht. Natürlich muß dem Terrorismus entschlossen begegnet werden, auch mit militärischen Mitteln. Dennoch ist noch völlig ungewiß, wie die Militäraktionen in Afghanistan ausgehen werden. Noch ist diese Tür nicht offen.

Und eine andere auch nicht: wird es der UNO-Konferenz, die am Dienstag in Bonn begonnen hat, gelingen, eine neue staatliche Ordnung für Afghanistan wenigstens im Ansatz zu vereinbaren? Oder werden hier ungewollt schon verhängnisvolle Weichen für den nächsten Krieg gestellt?

Als eine dritte verschlossene Tür sehe ich das recht schwierige Verhältnis zwischen unserer westlichen Welt und der orientalisch-muslimischen Welt. Die westliche Welt ist stark vom Christentum geprägt, hat sich aber von diesen Wurzeln immer mehr gelöst und trennt nun stark zwischen Religion und Glaube als persönlichen Überzeugungen auf der einen Seite und dem neutralen Staat und einer Gesellschaft, in der jeder gleiche Rechte hat und jeden gelten lassen soll, auf der anderen Seite. Für Muslime ist diese Trennung kaum vorstellbar: Mensch, Staat und Gesellschaft gehören unter Allah auf's engste zusammen. Die Religion, der Glaube, sie bestimmen das ganze Leben.

Wer wird solche verschlossenen Türen aufschließen? Wie finden Menschen und Gesellschaften in unserer Welt trotz teilweise grundverschiedener Überzeugungen dennoch in Frieden zueinander? Wo sind Himmel und Erde wirklich füreinander offen?

Im Alten Testament klagt und schreit die Gemeinde: "Ach, daß du den Himmel zerrissest und führest herab, daß die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht." Wollte Gott doch endlich eingreifen! Diese Sehnsucht ist übermächtig.

Das bleibt unsere Situation, liebe Gemeinde, auch nach Christi Geburt! Wollte Gott doch endlich eingreifen. Das wünschen sich auch bei uns viele. Wir leben im Advent, immer wieder. Türen sind verschlossen. Himmel und Erde sind einander fremd und feind. Gott und Mensch sind einander nicht "grün", und auch die Menschen untereinander stehen auf Kriegsfuß miteinander.

Wir stoßen auf unüberwindliche Grenzen. Wir haben keinen Schlüssel zu der verschlossenen Tür. Christen glauben: Das kann sich nur ändern, wenn uns einer von der anderen Seite entgegen und zu Hilfe kommt, wenn Gott selber eine Tür auftut. Dann werden sogar eiserne Vorhänge durchlässig. Dann kann der Eintritt in das Heilige gelingen. Der Autor des Hebräerbriefes sagt: "Wir haben durch das Blut Jesu die Freiheit zum Eintritt in das Heiligtum." Es bleibt nicht immer nur Advent. Wir warten nicht umsonst. Verschlossene Türen werden sich auftun!

Es ist wie am Heiligen Abend, wenn sich die Tür zum Weihnachtszimmer öffnet: "Christus hat uns einen neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang aufgetan." Der Vorhang im Jerusalemer Tempel verschloß das Allerheiligste dort; nur der Hohepriester durfte einmal im Jahr hinter diesen Vorhang treten und so dem Göttlichen ein wenig näher kommen als alle anderen Menschen. Heute möchte ich diese Begriffe und Bilder des Hebräerbriefes jedoch nicht weiter erklären. Dazu wird ein ander Mal Gelegenheit sein. Entscheidend ist, daß der Autor mit diesen Sätzen sagen will, was durch Christi Kommen in die Welt neu und anders geworden ist, nämlich: während menschliche Wege überall vor Mauern und verschlossenen Türen enden, gehen Christen auf einem Weg, der weiterführt. Ihr Weg ist eine Brücke zum Paradies. Er verbindet Himmel und Erde. Es ist Gottes Weg, der weiterführt. Er gibt uns nicht auf, bis er uns gefunden hat.

Darum ist zu fragen: Wie wird Gottes Weg unser Weg? Wie bleiben wir auf seinem adventlichen Weg? Denn wir spüren nur zu oft: immer wieder verlieren wir ihn, irren von ihm ab, wissen die Richtung nicht mehr, bewegen uns im Kreise. Damit ergeht es uns nun allerdings nicht viel anders als den Christen, an die der Hebräerbrief gerichtet ist. Deren Eifer des Anfangs war geschwunden. Mattigkeit, Müdigkeit, Mutlosigkeit breiteten sich aus. Unklar und fraglich war diesen Christenmenschen sogar das Ziel geworden, das vor ihnen liegen sollte. Allmählich machte es keine Freude mehr, gegen den Strom zu schwimmen - das ist sowieso immer mühsam -, weil sich so wenig änderte.

Ist das nicht auch unsere Situation, liebe Gemeinde? Unsere stabil genannte Kirche erweist sich immer wieder als krisenanfällig, labil. Wir müßten wieder mehr Freude am Glauben gewinnen, uns nicht so oft am Ende unserer Möglichkeiten sehen, wenn uns der Wind entgegenbläst. Was ist zu tun?

Der Mann, der an die Hebräer geschrieben hat, gibt uns zwei Hinweise: 1. Er mahnt seine Leser, an ihrem Bekenntnis festzuhalten. Und 2. zeigt er, daß Christenmenschen niemals allein sind. Immer haben sie jemanden neben sich, der auf demselben Weg ist, einen, der auch hofft und glaubt und liebt.

"Laßt uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken." Das klingt aufreizend konservativ. Ist denn das jetzt dran: festhalten, bewahren, bleiben bei dem, was formuliert ist? Viele sagen doch, wir müßten in Neuland aufbrechen, statt uns im Gewohnten einzurichten.

Das ist nicht falsch. Aber zuerst einmal ist es notwendig, daß wir uns klar werden darüber, woher wir kommen. Wer seinen Ausgangspunkt nicht kennt, läuft in die Irre. Das Bekenntnis der Christen, mag es noch so alt sein, gibt uns Auskunft, woher wir kommen, wer und was wir sind, und zugleich ist es ein Wegweiser, der uns Christen die Richtung angibt und miteinander auf dem Weg hält. Das Bekenntnis zeigt uns Herkunft und Ziel, damit wir auf dem Weg zu Gott bleiben und uns nicht verlaufen.

Und zuweilen ist das Alte überaus aktuell. Niemand braucht sich des alten Glaubensbekenntnisses zu schämen, denn es vermag noch heute Wege zu zeigen, die uns aus unseren Verlegenheiten herausführen. Einige Beispiele will ich nennen.

Wir klagen über die Zerstörung unserer Erde. Vernünftige Leute warnen davor, unseren Planeten weiter zu plündern, wie es immer noch geschieht. Wir hören es, und unter uns ist das Bewußtsein dafür gewachsen, daß wir alle mithelfen müssen, die Ausbeutung von Natur und Umwelt aufzugeben. Einiges, gar nicht wenig, ist geschehen und wird auch weiterhin geschehen, manches dabei aber nur halbherzig getan. Der alte Adam rudert immer noch bequem mit im gewohnten Strom. Weithin fehlt die Kraft, das Steuer herumzureißen und geduldig in die andere Richtung zu rudern und das auch wirklich entschlossen und konsequent zu tun. Und es wird immer teurer. Der Wirtschaftsminister hat gerade dieser Tage darauf aufmerksam gemacht. Das freilich hört der alte Adam gern.

Das Bekenntnis sagt uns: Solange Euch nicht deutlich ist, wem die Erde gehört, kann Euch keine neue Orientierung gelingen. Ihr behandelt die Erde immer noch wie Ausbeuter. Ihr mißbraucht sie als Material. Das aber ist schon im Ansatz verkehrt. Die Erde hat einen Herrn. Sie ist Gottes Geschöpf. Gottes Geschöpfe jedoch darf man nicht plündern. Sie wollen geliebt, sie wollen unsere Freunde sein, Gottes gute Gaben. "Ich glaube an Gott, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde." Das sagt unser Bekenntnis.

Oder: Wir sind ratlos über den Menschen. Wir wundern uns, wie böse er sein kann, wie grausam und wie falsch, wie sein Herz zappelt und sich sehnt nach ein bißchen Glück, wie er Angst hat vor Krankheit und vor dem Ende und dem Sterben.

Das Bekenntnis sagt uns: Am Menschen nicht irre werden kann nur, wer sein Urbild kennt, wer weiß, wie der Mensch gedacht ist. Deshalb zeigt es uns Jesus Christus, der leiden mußte, starb und auferstand. Das ist des Menschen Bestimmung: zu leben und zu sterben wie er. "Ich glaube an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, unseren Herrn."

Schließlich: Wir sind verwirrt durch den "Geist der Zeit", den manche verächtlich-aggressiv den "Zeitgeist" nennen, ohne jedoch zu sagen, was sie denn damit nun genau meinen. Uns beunruhigen Ideen und Ideologien. Ja, einige müssen jede Idee, jede Mode, die von irgendwoher angeflogen kommt - je fremdartiger und je östlicher, desto besser - umgehend ausprobieren. Wie ein Schmetterling flattern sie von Blume zu Blume, nennen das "Suchen" und lassen es sich viel kosten. Nur merken sie nicht, daß sie Fantasien und Ideologien aufsitzen und sich von denen dauernd an der Nase herumführen lassen.

Kein Wunder, sagt das Bekenntnis, daß ihr Angst vor der Zukunft habt und nicht wißt, was auf euch wartet. Vergeßt nicht, daß es den Heiligen Geist gibt. Der hilft euch, die Geister zu unterscheiden. Der führt euch zusammen zu einer Gemeinschaft und zeigt euch, wo Gott auf euch wartet. "Ich glaube an den heiligen Geist, die heilige christliche Kirche." Und dazu Martin Luther: "Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist hat mich dazu berufen."

Liebe Gemeinde, um unserer Welt, um der Menschen willen lohnt es sich, am Bekenntnis festzuhalten, über seinen Gehalt immer wieder nachzudenken, sich immer wieder dessen zu vergewissern, was unsern Glauben ausmacht und worin er wurzelt. In Neuland aufzubrechen vermag nur, wer solch ein Fundament unter seinen Füßen hat, wer sich von diesem Wegweiser an seine Herkunft erinnern und in die neue Richtung weisen läßt. So kann er zuversichtlich vorwärts schreiten.

Aber es geht nicht nur um das alte Bekenntnis. Wichtig ist die Einsicht: Christenmenschen sind niemals alleine. Immer gibt es jemanden neben uns, der glaubt und hofft wie wir. Das vergessen wir häufig und lassen uns anstecken von den ständig wechselnden Moden des Individualismus. Aber Einzelgänger geben leicht auf, wenn es schwierig wird, oder werden zu Sonderlingen. Unser Bibelabschnitt empfiehlt uns dagegen: "Laßt uns aufeinander achthaben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken."

Natürlich sollen wir einander nicht bevormunden. Doch das geschieht ja auch kaum irgendwo. Viel bedenklicher ist, wie achtlos wir häufig aneinander vorübergehen, wie selten wir uns auf unser gemeinsames Christsein hin ansprechen und uns unseres gemeinsamen Glaubens vergewissern, gerade auch dann, wenn wir zu schwierigen Fragen des Alltags nicht unbedingt die gleichen Antworten haben.

Wäre das nicht etwas: einander zu fragen und zu sagen, was uns das Glauben leicht macht und wo unsere Zweifel sitzen? Unsere Kinder warten auf Gespräche, in denen endlich einmal die lebenswichtigen Dinge auf der Tagesordnung stehen. In diesen Adventswochen könnte die Gelegenheit zu solchen Gesprächen vielleicht besonders günstig sein. Und man könnte dann vielleicht sogar miteinander singen. Utopie? Keine Ahnung? Es käme auf Versuche an.

"Aufeinander achthaben": miteinander sollte es gelingen, Aufgaben zu erkennen, die wir tatsächlich bewältigen können, ohne daß dies in Streß und Hetze ausarten müßte. Deren Bewältigung läßt es aber etwas freundlicher und menschlicher auf unserer Erde werden - und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Auch sonst im Jahr soll keiner einsam sein - müssen! Manchmal dürfen wir uns schon ein wenig die Sporen geben, wenn wir träge werden und faul. Sonst verkommt unser Christsein in der Langeweile. Und dann wundern wir uns noch, daß das Glauben keine Freude macht.

Vielleicht nehmen wir uns in den nächsten Wochen etwas mehr Zeit füreinander als sonst und versuchen, miteinander ins Gespräch zu kommen über das, was zählt und was zweitrangig ist. Vielleicht widerstehen wir hier und da der Hetze, schenken und bereiten nicht mehr vor, als uns wirklich möglich ist. Dann, liebe Gemeinde, wird Advent. Dann gehen wir Schritte hinein ins Heiligtum Gottes. Christus hat uns doch längst die Tür zum Paradies geöffnet. Er ist für uns zu Gott gegangen. So dürfen wir es nun mit ihm und in seinem Namen auch tun. Sein Tag kommt. Die Nacht vergeht.

Amen.

Pastor i. R. Hans-Gottlieb Wesenick, Stauffenbergring 33, D-37075 Göttingen
Tel. 05 51 / 2 09 97 05 - Fax 2 09 97 08 - e-mail: H.-G.Wesenick@t-online.de

(1) Diese Predigt hat eine Predigt von Hartmut Löwe zu diesem Text zur Grundlage, die in "Worte am Sonntag, heute gesagt: Predigten der Gegenwart; die Sonn- und
Festtage des Kirchenjahres / hrsg. von Horst Nitschke, 6. Perikopenreihe Bd. 1, Gütersloh 1977" veröffentlicht wurde.


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