Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

3. Advent, 16. Dezember 2001
Predigt über Offenbarung 3, 1-6, verfaßt von Jobst v. Stuckrad-Barre
Mit einem Fenster-Bild von Marc Chagall

1 Und dem Engel der Gemeinde in Sardes schreibe: Das sagt, der die sieben Geister Gottes hat und die sieben Sterne: Ich kenne deine Werke: Du hast den Namen, daß du lebst, und bist tot!
2 Werde wach und stärke das andere, das sterben will, denn ich habe deine Werke nicht als vollkommen befunden vor meinem Gott.
3 So denke nun daran, wie du empfangen und gehört hast, und halte es fest und tue Buße! Wenn du aber nicht wachen wirst, werde ich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich über dich kommen werde.
4 Aber du hast einige in Sardes, die ihre Kleider nicht besudelt; die werden mit mir einhergehen in weißen Kleidern, denn sie sind's wert.
5 Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angetan werden, und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens, und ich will seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln.
6 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!

Liebe Gemeinde!

Anna, 18 Jahre alt, wieder einmal zu spät dran, schickt ihrem wartenden Freund per SMS die Botschaft: "I.h.d.g.d.l." (Für Nicht-Handy-Benutzer: "Ich habe dich ganz doll lieb!") Und der Freund, eben noch ganz grimmig, sieht seltsam besänftigt aus.

Der Satz, mit dem die Botschaft aus der Offenbarung des Johannes heute beginnt, löst ganz Anderes aus: "Schreibe dem Engel der Gemeinde in Sardes: Ich kenne deine Werke: Du hast den Namen, daß du lebst, und bist tot!" Na bitte. Alles, was eben noch lebendig und fröhlich dreinschaute, sackt in sich zusammen - durchschaut; sinnlos, weiter so zu tun, als ob... Auch die matte Gegenwehr verfängt kaum - wir sind doch nicht in Sardes, wo alles drunter und drüber gegangen sein mag, wir sind doch in NN.

Ich stelle mir vor, ich hätte diesen Abschnitt im Gottesdienst am ersten Adventssonntag vorgelesen, vor der Eröffnung des Basars - was wären das für Reaktion geworden: Unerhört! Was erlauben Sie sich eigentlich, unsere ganze Arbeit der letzten Wochen und jetzt vor Weihnachten so in den Schmutz zu ziehen; oder: kaum ist man mal in der Kirche, wird man auch noch beschimpft: Tot, unvollkommen, besudelt. Woher, lieber Herr Pastor, nehmen Sie sich eigenlich das Recht für Ihr Urteil - wie's drinnen ausschaut, geht niemanden was an usw.usf.

Es kann so weit gehen, daß die Menschen die Aufforderung zum Neubeginn, zur Umkehr gar nicht mehr hören. I.h.d.g.d.l.. Ich komme zu dir - wann, wirst du schon sehen!

Es geht um Sein und Nicht-Sein, um Leben und Tod - in Sardes. Bei uns. Heute. Doch so, daß die Hörer, die wirklich Hörenden, erkennen, Gott will euch aus dem Tod, aus der Oberflächlichkeit, aus all der Betriebsamkeit - und sei es für Weihnachten - heraus zur Lebendigkeit, zur gewonnenen Zeit bringen. Nicht mehr Auge um Auge - dies ewige Zurückschlagen der Erwachsenen, die wie Kinder reagieren; sondern peace um peace, Frieden um Frieden. Das gilt für den Mittleren Osten wie für uns, für Politiker wie Privatleute.

Aber die Form dieser Briefe aus der Offenbarung Johannis, dieser antike Stil der Beglaubigung des (Schreibers und des ) Sprechers: Geister und Sterne mögen in Sardes am Ende des 1. Jahrhunderts eingeleuchtet haben; wir, die wir unsere Horoskope aus Zeitschriften entnehmen oder von Computern anfertigen lassen, wir sind doch darüber längst hinaus...

Und wer ist eigentlich der Engel, dem dieser bedrohlich wirkende Brief gilt - ein Repräsentant der Gemeinde, ein Bote? Der Empfänger jedenfalls der Botschaft des Auferstandenen.

(Hier ist mit einem Overhead-Projektor der Ausriß aus einem Engel-Bild von Chagall, das Sie leicht auf eine Folie drucken können, an die Wand, die Decke oder, wie ich es in unserer sehr hellen Kirche tun muß, auf eine Leinwand zu projizieren. - download der hochaufgelösten Version - 398 KB, bitte Ladezeit beachten!)

Bei meinen Vorbereitungen fiel mein Blick auf das Fensterbild von Chagall, und mit einem Mal sah ich den Engel für Sardes mit ganz anderen Augen. Was, wenn er so aussähe - freundlich, fast lächelnd, mit ausgebreiteten Armen, erwartungsvoll, in himmlisches Blau gehüllt. Und als ich noch länger hinschaue auf den Engel, der da tagein, tagaus zu sehen ist, aber nicht immer so genaue Beachtung findet, merke ich: Chagall hat diesen Engel so gestaltet, daß seine Haltung der des Gekreuzigten ähnelt, doch nicht tot, sondern ganz lebendig, und die Freude spiegelt sich noch in dem Kopf zu seiner Linken.

Wer so weit mitgeht, nimmt auch zur Kenntnis, daß dieser Engel mit Zeichen jüdischer Überlieferung versehen ist; doch das ist im Augenblick nicht so vornean wie die Überlegung: Der Engel der Gemeinde wird den Andern in Sardes, in NN., zum Christus, einladend mit offenen Armen: Kommt, laßt hinter euch, was am Leben hindert, und Verzweiflung, Sinnlosigkeit, Tod zur Folge hat. Kommt, seid aufmerksam und wach für einander, für eure Zeit, für Gott. Denn ich bin unterwegs zu euch, und das zu einer Stunde, die ihr nicht kennt, auch nicht kennen müßt, weil für euch jederzeit Gottes Zeit ist. Das sag den Menschen, die suchen nach dem Leben, die sich nicht mit der Oberfläche begnügen, den Menschen, die Freude und Zeit suchen, um Gottes Kommen nicht zu versäumen.

Sie werden im Buch des Lebens eingetragen sein. Ihr Name ist in Christi Mund - vor Gott und den Engeln; auch dem Engel für Sardes, dem ich vielmals danke für sein leichtes Lächeln: I.h.d.g.d.l.

Amen.

Jobst von Stuckrad-Barre, Hannover
e-mail: Jobst.vonStuckrad-Barre@evlka.de


(zurück zum Seitenanfang)