Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

4. Advent, 23. Dezember 2001
Predigt über Jesaja 52, 7-10, verfaßt von Paul Kluge

Liebe Geschwister,

eines der Adventsgedichte, die ich besonders gern mag, stammt von dem Schweizer reformierten Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti. Es lautet:

Sie blicken nach oben / und warten auf den, /der da kommt. / Derweilen / hinter ihrem Rücken / der da kommen soll, / kommt.

In seinem ersten Vers beschreibt Kurt Marti die uns allen geläufige Adventsbotschaft, wie sie auch im Wochenspruch der vergangenen Woche Ausdruck fand: 'Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.' Und dann schauen wir und sehen - nichts. Weil wir nämlich nicht nur etwas, sondern die Erlösung zu sehen hoffen - und daraus wird dann schnell der Erlöser - merken wir dann nicht mehr, wie befreiend, wie erlösend es sein kann, aufzusehen, den gesenkten Blick zu heben, das Haupt zu erheben und erhobenen Hauptes stehen und gehen zu können.

Dieses Nicht-Bemerken ist das Thema der zweiten Strophe des Gedichtes: Der Erwartete kommt hinter dem Rücken der Wartenden, er kommt hinterrücks, kommt wie ein Dieb in der Nacht und gerade von dort, von wo ihn keiner erwartet. Bei "Kirchens" gehört es fast zum guten Ton, Armut zu glorifizieren und von den Reichen nichts Gutes zu erwarten. Und dann besucht ein altes Ehepaar die Geburtstadt der Frau, nicht weit von Magdeburg, besucht auch das örtliche Altenheim der Diakonie. Zum Abschied geben sie dem Heimleiter einen Scheck : Drei Millionen D-Mark für das Heim und seine Bewohner...

Kurt Marti erinnert mit seinem Gedicht daran, daß das Kommen des Erwarteten nicht berechenbar ist und warnt vor dem Trugschluß, er käme gerade von dort, von wo, und gerade so, wie wir ihn erwarten. Nein, er kommt gerade von dort, von wo wir uns abgewandt haben, kommt aus dem, dem wir den Rücken zukehrt, was wir hinter uns gelassen haben..

Noch einmal Kurt Marti: Sie blicken nach oben / und warten auf den, /der da kommt. / Derweilen / hinter ihrem Rücken / der da kommen soll, / kommt.

Ein Prophet, dessen Namen wir nicht kennen und der seinem Volk Israel in der babylonischen Gefangenschaft Mut und Hoffnung geben will, malt den Menschen ein triumphales Bild vom Kommen Gottes: Jes 52, 7-10...

Die in Babylon gefangenen Juden nämlich hatten sich im Lande eingerichtet. Daß sie je wieder zurückkämen in ihr Land, hofften sie nicht mehr. Sie gingen ihren Sklavendiensten nach, schlossen Freundschaften, auch Ehen mit anderen Versklavten. Sie waren gezwungen, die Feste der babylonischen Götter mitzufeiern, nicht wenige fanden sogar Gefallen daran. Andere trafen sich halb illegal, halb geduldet am Sabbat zum Gottesdienst. Doch die Gottesdienste waren wenig ermutigend, die Prediger klagten über die gegenwärtigen schlimmen Zeiten und vergoldeten die Vergangenheit. An die Zukunft dachte man nicht. Ein Lied, in der Gefangenschaft entstanden, wurde gern gesungen: "An den Wassern von Babylon saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hängten wir an die Weiden dort im Lande. Denn die uns gefangenhielten, hießen uns dort singen und in unserm Heulen fröhlich sein: "Singet uns ein Lied von Zion!" Wie könnten wir des HERRN Lied singen in fremdem Lande? Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein. HERR, vergiß den Söhnen Edom nicht, was sie sagten am Tage Jerusalems: "Reißt nieder, reißt nieder bis auf den Grund!" Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast!"

Der Prophet mochte dieses Lied nicht. Es war ihm zu resignativ. Zu viel Klage, zu wenig Hoffnung. Rückwärtsgewand und ohne Perspektive. Nur der - allerdings verständliche - Wunsch, daß irgend ein mächtiges Volk den Babyloniern heimzahle, was sie den Juden angetan hatten. Aber welche Macht der Welt kümmerte es schon, wenn das kleine Volk Gottes unterginge!

Der Prophet aber war der Meinung, daß sein Volk das Recht hatte zu überleben, ja, daß es den anderen Völkern etwas Besonderes zu sagen und zu zeigen hatte; daß es der Welt demonstrieren solle, wie gut sich nach und mit Gottes Wort und Gebot leben läßt. Davon wollte, davon mußte er seine Glaubensgenossen überzeugen. Mußte sie an ihre Besonderheit erinnern und daran, daß Gott sie unter allen Völkern der Erde berufen hatte, sein Volk zu sein. Sie, die sich nach Erlösung aus der Gefangenschaft Babylons sehnten, waren für die Erlösung der Menschen aus Schuld und Sünde vorgesehen.

Doch seine Glaubensgenossen glauben ihm das nicht, glaubten nicht, daß sie etwas Besonderes seien. Glaubten, daß es besser sei, mit den Wölfen zu heulen und mit den Schafen zu blöken. Wollten lieber so sein wie alle anderen, statt sich im Guten von den anderen zu unterscheiden.

Das aber - da war der Prophet ganz sicher - durfte um der anderen Willen nicht passieren. Denn auch für die anderen wollte Gott da sein, ihnen seine Gnade, seinen Segen schenken und ihr Herr sein: Herr der ganzen Welt, allen Völkern fällt deine Gnade zu, auch ihr Gott bist du. Ihrer Fürsten Schar stellt vor dir sich dar als dein Eigentum, dir zum Preis und Ruhm. Deinem Gottesreich kommt kein andres gleich, deine Herrlichkeit währt in Ewigkeit.

Diesen Psalm sollte man singen, dachte der Prophet des öfteren, und sich damit selbst ermutigen. Die Ärmel aufkrempeln, anstatt sich selbst aufzugeben. Sich als entblößter Arm Gottes verstehen, der seine Stärke zeigt, eine Stärke, der man vertrauen, auf die man sich verlassen kann. Dann könnte die Klage über Vergangenes sich in konkrete Hoffnung auf Zukünftiges wandeln: Die Hoffnung auf ein neues Jerusalem, in dem Gott, der Herr zum Wohl und Heil seines Volkes und der ganzen Welt regiert.

Jerusalem war ein Trümmerfeld, Stadt und Tempel zerstört, der Berg Zion entweiht. Die Bewohner als Sklaven nach Babylon verschleppt. Hier saßen die Alten und weinten, die Jungen hatten sich häuslich eingerichtet, als würden sie auf immer dort bleiben. Beides, fand der Prophet, war Verrat der Verheißung Gottes an Abraham, Verrat auch an Gottes Führung aus ägyptischer Knechtschaft ins gelobte Land. Doch Gottes Verheißung und Zusage galt unverändert: Sein Volk wohnt unter seiner Herrschaft in seinem Land. Wenn doch nur die Leute nicht so kleinmütig, so wankelgläubig wären! Wenn sie doch nur nach vorn und in die Zukunft blickten anstatt sich in Erinnerung an Vergangenes zu bemitleiden!

Der Prophet wollte, er mußte sie aufmuntern. Es wollte ihnen ein Bild von der Zukunft malen, ein Bild, das Sehnsucht wecken, ein erstrebenswertes Ziel zeigen könnte. Und wie er so dasaß und nachdachte, wie er das anstellen könnte, überkam ihn die Erinnerung an das zerstörte Jerusalem. Allmählich entstand vor seinem inneren Auge ein Bild: Zwischen den Trümmern sitzen Menschen und weinen: Sie haben alles verloren, was sie hatten, und alles, was ihnen wichtig war, liegt in Schutt und Asche. Da tauchen auf den Bergen Gestalten auf, laufen auf die Menschen zu. Noch ist nicht zu erkennen, ob es sich um Freunde oder Feinde handelt. Die Gestalten beginnen zu winken und zu rufen, und was sie rufen, klingt wie Heil und Friede. "Gott ist König," rufen sie immer wieder. Doch die Leute sitzen und weinen. Ihre Tränen trüben den Blick, ihr Klagen ist lauter als das Rufen der Boten; sie rufen ins Leere, und keiner nimmt sie wahr. Da beginnt einer, die Leute wachzurütteln, aufzurütteln, will sie aus ihrer Verlorenheitsverliebtheit herausreißen. Ein paar andere tun es ihm gleich, wiederholen die Worte der Boten, rufen sie jedem einzelnen zu. Und langsam, ganz langsam heben die Menschen ihre Augen, blicken auf zu den Rufern und hören deren Botschaft: "Gott ist König!"

Sie können noch nicht glauben, was sie da hören und sehen. Zu sehr sind sie noch in der Vergangenheit befangen, zu sehr noch mit dem verbunden, was untergegangen ist und dem sie nachtrauern. Sie können sich nicht vorstellen, daß Gott, daß ihr Gott wieder herrschen kann und will. Manche wollen sich das auch nicht vorstellen; sie haben nicht nur sich, sondern auch ihren Gott aufgegeben. Wozu sollen sie sich da noch anstrengen!? Doch manche Träne versiegt, und zuversichtliche Hoffnung verdrängt allmählich die Verzagtheit. Immer mehr Menschen stehen auf und beginnen, ihren Gott als König zu feiern. Feiern ihn, als wäre er schon da und werden immer sicherer, daß er kommt. Doch:

Sie blicken nach oben / und warten auf den, /der da kommt. / Derweilen / hinter ihrem Rücken / der da kommen soll, / kommt.

Amen

Gebet:
Du, Gott, rufst uns aus allem heraus, was uns gefangen hält: Aus unseren Trieben und unseren Zwängen rufst du uns in die Freiheit deines Reiches. Manche aber zögern, deinem Ruf zu folgen. Ihnen rufen wir zu:
Gemeinde: Komm, geh mit mir in das Land wohin ich geh ...
In deinem Reich, Gott, werden Friede und Gerechtigkeit sich küssen und jeder kann sich deiner Gnade und deiner Stärke erfreuen. Manche aber leben in Unfrieden, andere in Trauer. Ihnen rufen wir zu:
Gemeinde: Fried und Freude in dem Land, wohin ich geh ...
Gott, du König aller Königreich, du hast alle Menschen zu Erben deines Reiches berufen.. Wir aber fühlen uns manchmal allein und möchten verzagen. Uns rufen wir zu:
Gemeinde: Viele Freunde sind schon dort, wohin ich geh ...
Gott, wir warten auf das Kommen deines Sohnes, der gerade die Müden und Beladenen mit offenen Armen empfangen will. Ihnen rufen wir zu:
Gemeinde: Jesus Christus wartet dort, wohin ich geh ...
Alle Tränen willst du abwischen, kein Leid und kein Schmerz wird mehr sein, kein Angstgeschrei und kein gewaltsamer Tod. Aller Welt rufen wir zu:
Gemeinde: Keine Tränen in dem Land, wohin ich geh ...

Liedvorschläge:
Dein König kommt in niedern Hüllen, EG 14; Nun jauchzet all (WL), EG 9, 1, 4, 5; Jauchzt, alle Lande, EG 279, 1 + 2; Lobt Gott, den Herrn, EG 293, 1 + 2; Nun jauchzt dem Herren, EG 288, 1, 3, 5; Tochter Zion, EG 13, 1 - 3

Paul Kluge, Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk in der Kirchenprovinz Sachsen
Magdeburg
E-Mail: Paul.Kluge@t-online.de


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