Grundentscheidungen zur Predigt
" Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Obwohl er reich
ist, wurde er doch arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich
würdet."
Um es vorweg zu sagen: Reiche Leute waren sie nicht, die Menschen
in der Gemeinde von Korinth seiner Zeit. Das waren fast nur solche, die
am unteren Ende der Vermögenden-Skala rangierten: Tagelöhner,
einfache Hafenarbeiter, "sozial Schwache". An sie schreibt der
Apostel.
"Brot für Jerusalem"
Sie, auch sie mögen sich doch bitte beteiligen an der für
die Jerusalemer Urgemeinde angelaufenen Hilfsaktion, "Handreichung"
genannt (bei uns im Gottesdienst nennen wir das "Kollekte").
Eine Spende erbittet Paulus von Menschen, für die jede kleine Münze
nicht "nur" eine "Kollekte", sondern ein echtes Opfer
ist. Wie soll er sie dazu gewinnen, ohne sie zu überfordern? Für
Menschen weit, weit weg - ihnen völlig unbekannt!
Er fädelt den Aufruf geschickt ein und erzählt zunächst
von den Gemeinden in Mazedonien, das ist ungefähr 250 km entfernt
von Korinth. "Obwohl sie sehr arm sind, haben sie doch reichlich
gespendet" (V. 1), weit über ihr Vermögen hinaus und haben
so ein bemerkenswertes Vorbild selbstlosen Gebens geliefert, ein Beispiel
dafür, wie Christenmenschen in der Not zusammen stehen - von Gemeinde
zu Gemeinde: echte Partnerschaft! Dann aber kommt er zum Kern der Motivation:
Das Geheimnis von Weihnachten
Sie kennen, sagt Paulus, ein Geheimnis. Noch lange bevor man Weihnachten
in der Christenheit gefeiert hat, kennen sie das Geheimnis von Weihnachten.
Das hört sich in den Worten des Apostels so an: "Obwohl er reich
ist, wurde er doch arm...". Ein kompakter Ausspruch, wie er nicht
dichter sein kann. Bei Paulus finden wir ja keine eigene Weihnachtsgeschichte.
Bei ihm gibt es kein Bethlehem und keinen Stall, keine Krippe und keine
armen Hirten. Die ganze Szenerie der Heiligen Nacht, ohne die wir
uns Weihnachten gar nicht vorstellen können - alles das kommt bei
ihm ja nicht vor. Wer bei ihm nach einer geeigneten Epistel für die
Christtagsliturgie sucht, tut sich schwer. Aber: Das Entscheidende von
Weihnachten - das finden wir, sozusagen die Nuss in der Schale. Denn auch
Paulus kommt nicht darum herum, hinter das Wort vom Kreuz und die
Botschaft vom Auferstandenen zurückzufragen. Auch dann, wenn ihm
der "Christus nach dem Fleisch" (Kapitel 5, 16) nicht besonders
wichtig erscheint, muss er der Frage nachgehen: Wo kommt er denn her,
der Messias Christus? Der so "ganz Andere"? Wie kommt er zu
uns auf die Erde? Wie lässt sich das Geheimnis seines Kommens in
Worte fassen? Der eine Vers unseres Predigttextes ist so ein Anlauf dazu.
Der aber ist eingebettet in den profanen Opferaufruf "Brot für
Jerusalem". Da geht es ja - auch! - ums Geld; genauer: um Menschen,
die arm dran sind, kaum Geld haben, aber nun etwas geben sollen für
andere, die offenbar noch ärmer dran sind. In diesem Zusammenhang,
wo es um Arm und Reich geht, kommt ihm dieser Geistesblitz, ein möglicher
Zugang zum Geheimnis von Weihnachten. Ein neuer Schlüssel zu dem
Mysterium, das letztlich nur - wie bei den Hirten - angebetet und - wie
bei den Engeln - im Lob Gottes verkündigt werden kann.
Was geschah damals?
"Er war reich und wurde arm". ER - an dieser Stelle wird Paulus
geradezu liturgisch feierlich. Er gebraucht dies volle Würdebezeichnung
"unseres Herrn Jesus Christus". ER gab alles dran, verzichtete
auf allen himmlischen Reichtum und wurde arm. Paradoxer sagen kann man
es nicht. Soll auch paradox klingen, bis heute - dieses "Gott wurde
Mensch". Wie soll man es erklären? Ja, sie wollten es,
die Theologen der ersten Jahrhunderte und die Konzilien der Alten Kirche,
,mit allen ihnen zur Verfügung stehenden denkerischen Mitteln. Sie
konnten es nicht erklären, aber sie hielten es fest, das Geheimnis
Jesu: "Wahr Mensch und wahrer Gott" (Evangelisches Gesangbuch
Nr. 30, Strophe 3). Kein Mensch muss heute "lügen", wenn
er zusammen mit der Gemeinde solchen Glauben bekennt. Auch kein evangelischer
Christ! Im Gegenteil: Gerade den reformatorischen Vätern kam es auf
dieses Element im Christusglauben an - denken wir zum Beispiel an die
Strophe:
"Er äußert sich all seiner G'walt,
wird niedrig und gering
und nimmt an sich ein's Knecht Gestalt,
der Schöpfer aller Ding".
Oder in der nächsten Strophe: "... und gibt für
uns ... die klare Gottheit dran" (Nikolaus Hermann, EG 27, 3+4).
Seine arme Gestalt - die unverwechselbare Grundfigur seines Erdenlebens.
"Am Kreuz war er ganz arm ... Wie er aber in seinem Ende war, so
war er stets, immer so, dass er nichts auf Erden sein Eigentum nannte
und nicht auf den Besitz sein Glück und seine Macht gründete,
sondern auf Gott." (Adolf Schlatter). Oder in den Worten eines Erzählers
aus unserer Zeit: "Er besaß nicht einmal eine Zahnbürste,
soviel man weiß. Kein Gepäck, keine Möbelstücke,
keine Wäsche, kein Taschentuch, keine Kennkarte, kein Bankbuch, keine
Versicherungspolice, kein Haus (nicht einmal einen Winterpalast), er brauchte
auch keine Briefe zu lesen und zu beantworten. So viel wir wissen, schrieb
er nie eine Zeile. Heimat war für ihn, wo er sich gerade befand.
Nicht wo er seinen Hut aufhängt, denn er besaß keinen."
(Henry Miller)
Weihnachten - nur für arme Leute?
Doch das ist nur die eine Hälfte unseres Textes. Er geht folgendermaßen
weiter: "Um euretwillen". Weihnachten ist also keine Selbstinszenierung
Gottes. Sein Handeln steht im Zeichen des "für euch". Das
zieht sich durch die ganze vita Jesu hindurch, bis zum letzten Mahl bei
seinen Jüngern: "für euch gegeben". Zielgerichtete
Aktion, nicht ohne Absicht, sondern "damit". Es soll etwas werden.
"Damit ihr durch seine Armut reich würdet". Nochmals im
weihnachtlichen Lied, bei Martin Luther selbst:
"Er ist auf Erden kommen arm,
daß er sich unser erbarm
und in dem Himmel mache reich".
(EG 23,6)
Wir Menschen - arme Leute? Arm seien wir dran, "Bettler" sogar,
wie Luther in seiner Sterbestunde festhält. Welch eine Paradoxie!
Heute, wo wir reich sind in einem nie gekannten Maß! Das kann einem,
wenn man es vor unserem Predigttext bedenkt, schwer auf die Seele fallen.
Wie können wir denn auch nur annähernd Weihnachten begreifen?
Diese Botschaft: Ihr seid arm dran, wenn euch das Christkind nicht beschenkt?
Mir kommt es so vor, als ob es gerade wir heute besonders schwer damit
hätten. Wer von uns Älteren denkt nicht unwillkürlich zurück
an Weihnachten im Krieg und vor allem in den Jahren des Hungerns und Frierens
nach dem Krieg? Waren wir da dem "armen Christkind" nicht näher,
viel näher als heute? Die Feiertage - fast ohne schöne Geschenke
und die wunderbaren Päckchen, aber dafür immer noch mit Lukas
2 und mit dem Quempas-Heft und mit einer letzten noch versteckten Kerze.
Das hat uns niemand nehmen können. Ja, wir waren arm dran, aber dennoch
reich beschenkt für unser hartes Leben im grauen Alltag.
"Reich an Gaben" (EG 70, 1)
Woran aber fehlt es uns reichen Leuten? Auch in dieser Frage lassen wir
uns von Paulus weiterhelfen, wo wir doch schon den 2. Korintherbrief aufgeschlagen
haben. Nur zwei Verse weiter zurück bescheinigt er seinen Adressaten:
"Ihr seid reich (!) an Gaben", an Gnaden-Gaben! Zum Ersten:
Reich im Glauben
Das ist doch etwas!? Menschen, die glauben können, Leute, die mitten
in dieser Welt voller Ängste und Sorgen, voller echten, aber oft
auch eingebildeten Befürchtungen einen Halt haben, ihren Glauben,
aus dem sie Kraft und Mut und Zuversicht schöpfen! Sie fehlen uns
doch! heute, in unseren verworrenen Zeiten, mit dem Stempel "seit
dem 11. September ist nichts mehr so wie vorher". Ach, wenn doch
an Weihnachten 2001 viele Menschen wieder Mut fassen würden! Den
Mut des Glaubens - das wäre etwas! Als nächstes nennt Paulus:
Reich am Wort
Was könnte er damit meinen? Lesen wir dazu Kolosser 3, 16: "Lasset
das Wort Christi unter euch reichlich wohnen!" Paulus weiß,
wie durch das gute Wort Gottes in den Herzen der Menschen ein Licht angezündet
werden kann. Wenn wir die Seligpreisungen Jesu, seine Heilandsworte und
seine Gleichnisbilder "hören und bewahren in einem feinen, guten
Herzen" (Lukas 8, 15) - sind wir dann nicht reiche Menschen? Oder
anders herum: Wie arm sind wir dran, wenn keiner mehr das Wort Christi
in den Mund nimmt, wenn es alle vergessen haben, wenn sein Wort vollends
aus unserem Alltag verschwindet! Wie schön, wenn z.B. immer noch
in einer Traueranzeige ein kräftiger Bibelspruch zitiert wird oder
ein glaubensstarker Liedvers. Und schließlich als drittes:
Reich an Liebe
Gewiss - wir wollen weder übersehen noch unterschätzen, was
auch in unseren Zeiten aus Liebe zu Jesus getan wird: Die Dienste von
Caritas und Diakonischem Werk. Dazu alles, was ganz im Verborgenen geschieht
aus Liebe, ganz und gar selbstlos. Wenn das einmal total versanden und
versickern würde in reiner Tarifpolitik und in blutleerer Sozialgesetzgebung,
dann wären wir arm dran. Wie viele Kinder erfahren es, müssen
es hinnehmen: Große Geschenke für teures Geld - aber: es ist
keine Liebe drin! Das angesagte Endzeit-Stadium mit seinem "und es
wird die Liebe in vielen erkalten" (Matthäus 24, 12) steht schon
längst vor der Tür. Auch unser Wohlfahrtsstaat wird sie nie
und nimmer ersetzen können - die Menschen, die "reich an Liebe"
sind.
Beschenkte Armut - begnadete Geber
So schließt sich der Gedankenweg des Paulus. In der Tat - menschlich
gesehen eine Überforderung! Mein Ansinnen, daß auch ihr Korinther
euch an der Opfersammlung "Brot für Jerusalem" beteiligen
sollt. Selbst mit dem Vorbild der Gemeinden in Mazedonien: Eine Zumutung.
Meine Bitte an euch kann ich letztlich nur mit diesem einen, aber ganz
starken theologischen Glaubenssatz untermauern: Denkt an die Armut unseres
Herrn! Ihr kennt doch dieses besondere Kapitel!? So hoffe ich,
ihr habt es auch verstanden.
Und wir?
Wir haben es in der Tat nicht leicht, uns das Credo des Paulus ganz zu
eigen zu machen. Wie ein fremder Gast schneit es herein in unsere ganz
andere Zeit mit ihrem ganz und gar anders ausgerichtetem Denken. Aber
- es führt kein Weg daran vorbei: Weihnachten ist anders nicht zu
haben als so:
"Wer da hingibt, der empfängt;
wer sich selbst vergisst, der findet."
(die bekannten Worte, die dem Franziskus von Assisi zugeschrieben werden).
Machen wir uns auf den Weg! Gott wurde Mensch, damit wir Menschen würden.
Menschen nach dem Bilde Gottes, nach dem Sinn Christi. Menschen, wie Paulus
sie sich wünscht: Reich an Glauben, an Liebe und Hoffnung - weil
sie sich haben reich beschenken lassen von der "Armut Christi".
Amen.
Grundentscheidungen zur Predigt:
1. Die kompakte Formel des Paulus zur Umschreibung des Wunders der Menschwerdung
Gottes in Jesus Christus ist in der Christologie der Reformatoren wieder
besonders aufgenommen worden (Kenosis-Theologie). Sie lebt fort vor allem
in den älteren Chorälen. Die Predigt nennt Beispiele, die dann
auch im Gottesdienst zu singen wären.
2. Die Formel ist eingebettet in einen bemerkenswerten Kontext: Der Opferaufruf.
Ein Beispiel für den theologischen Zusammenhang von Sozialethik und
Dogmatik. Die Predigt bezieht ihre Anschaulichkeit aus diesem Kontext,
auch wenn sie sich zunächst nur auf den Vers 9 bezieht. Gott schafft
mit der Botschaft von seiner Menschwerdung ein Volk, eine Gemeinde, die
in der Not zusammensteht. Sie schafft Menschen, die ihren Besitz nicht
für sich alleine behalten, die aber auch erfahren, daß Teilen
zur Gnade, Hergeben zum Segen wird.
3. Seelsorgerlich wichtig scheint mir zu sein, daß der große
Unterschied von uns heute zu damals nicht überspielt wird und daß
uns der Zugang zu diesem Evangelium - bildlich: der Weg zur Krippe - durch
unsere so ganz anders eingestellte Mentalität schwer gemacht ist.
Letztlich gefragt: Wie kann unsereins bei uns heute diesen Text ehrlich
predigen? Vielleicht eher in anderen Gegenden der Ökumene als in
unserer so satten Gesellschaft?
Dr. Hartmut Jetter, Oberkirchenrat i.R.
Bernsteinstr. 143
70619 Stuttgart
Tel.: 0711-443003
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