Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

2. Weihnachtstag, 26. Dezember 2001
Predigt über 2. Korinther 8,9, verfaßt von Hartmut Jetter

Grundentscheidungen zur Predigt

" Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich würdet."

Um es vorweg zu sagen: Reiche Leute waren sie nicht, die Menschen in der Gemeinde von Korinth seiner Zeit. Das waren fast nur solche, die am unteren Ende der Vermögenden-Skala rangierten: Tagelöhner, einfache Hafenarbeiter, "sozial Schwache". An sie schreibt der Apostel.

"Brot für Jerusalem"
Sie, auch sie mögen sich doch bitte beteiligen an der für die Jerusalemer Urgemeinde angelaufenen Hilfsaktion, "Handreichung" genannt (bei uns im Gottesdienst nennen wir das "Kollekte"). Eine Spende erbittet Paulus von Menschen, für die jede kleine Münze nicht "nur" eine "Kollekte", sondern ein echtes Opfer ist. Wie soll er sie dazu gewinnen, ohne sie zu überfordern? Für Menschen weit, weit weg - ihnen völlig unbekannt!

Er fädelt den Aufruf geschickt ein und erzählt zunächst von den Gemeinden in Mazedonien, das ist ungefähr 250 km entfernt von Korinth. "Obwohl sie sehr arm sind, haben sie doch reichlich gespendet" (V. 1), weit über ihr Vermögen hinaus und haben so ein bemerkenswertes Vorbild selbstlosen Gebens geliefert, ein Beispiel dafür, wie Christenmenschen in der Not zusammen stehen - von Gemeinde zu Gemeinde: echte Partnerschaft! Dann aber kommt er zum Kern der Motivation:

Das Geheimnis von Weihnachten
Sie kennen, sagt Paulus, ein Geheimnis. Noch lange bevor man Weihnachten in der Christenheit gefeiert hat, kennen sie das Geheimnis von Weihnachten. Das hört sich in den Worten des Apostels so an: "Obwohl er reich ist, wurde er doch arm...". Ein kompakter Ausspruch, wie er nicht dichter sein kann. Bei Paulus finden wir ja keine eigene Weihnachtsgeschichte. Bei ihm gibt es kein Bethlehem und keinen Stall, keine Krippe und keine armen Hirten. Die ganze Szenerie der Heiligen Nacht, ohne die wir uns Weihnachten gar nicht vorstellen können - alles das kommt bei ihm ja nicht vor. Wer bei ihm nach einer geeigneten Epistel für die Christtagsliturgie sucht, tut sich schwer. Aber: Das Entscheidende von Weihnachten - das finden wir, sozusagen die Nuss in der Schale. Denn auch Paulus kommt nicht darum herum, hinter das Wort vom Kreuz und die Botschaft vom Auferstandenen zurückzufragen. Auch dann, wenn ihm der "Christus nach dem Fleisch" (Kapitel 5, 16) nicht besonders wichtig erscheint, muss er der Frage nachgehen: Wo kommt er denn her, der Messias Christus? Der so "ganz Andere"? Wie kommt er zu uns auf die Erde? Wie lässt sich das Geheimnis seines Kommens in Worte fassen? Der eine Vers unseres Predigttextes ist so ein Anlauf dazu. Der aber ist eingebettet in den profanen Opferaufruf "Brot für Jerusalem". Da geht es ja - auch! - ums Geld; genauer: um Menschen, die arm dran sind, kaum Geld haben, aber nun etwas geben sollen für andere, die offenbar noch ärmer dran sind. In diesem Zusammenhang, wo es um Arm und Reich geht, kommt ihm dieser Geistesblitz, ein möglicher Zugang zum Geheimnis von Weihnachten. Ein neuer Schlüssel zu dem Mysterium, das letztlich nur - wie bei den Hirten - angebetet und - wie bei den Engeln - im Lob Gottes verkündigt werden kann.

Was geschah damals?
"Er war reich und wurde arm". ER - an dieser Stelle wird Paulus geradezu liturgisch feierlich. Er gebraucht dies volle Würdebezeichnung "unseres Herrn Jesus Christus". ER gab alles dran, verzichtete auf allen himmlischen Reichtum und wurde arm. Paradoxer sagen kann man es nicht. Soll auch paradox klingen, bis heute - dieses "Gott wurde Mensch". Wie soll man es erklären? Ja, sie wollten es, die Theologen der ersten Jahrhunderte und die Konzilien der Alten Kirche, ,mit allen ihnen zur Verfügung stehenden denkerischen Mitteln. Sie konnten es nicht erklären, aber sie hielten es fest, das Geheimnis Jesu: "Wahr Mensch und wahrer Gott" (Evangelisches Gesangbuch Nr. 30, Strophe 3). Kein Mensch muss heute "lügen", wenn er zusammen mit der Gemeinde solchen Glauben bekennt. Auch kein evangelischer Christ! Im Gegenteil: Gerade den reformatorischen Vätern kam es auf dieses Element im Christusglauben an - denken wir zum Beispiel an die Strophe:

"Er äußert sich all seiner G'walt,
wird niedrig und gering
und nimmt an sich ein's Knecht Gestalt,
der Schöpfer aller Ding".

Oder in der nächsten Strophe: "... und gibt für uns ... die klare Gottheit dran" (Nikolaus Hermann, EG 27, 3+4). Seine arme Gestalt - die unverwechselbare Grundfigur seines Erdenlebens. "Am Kreuz war er ganz arm ... Wie er aber in seinem Ende war, so war er stets, immer so, dass er nichts auf Erden sein Eigentum nannte und nicht auf den Besitz sein Glück und seine Macht gründete, sondern auf Gott." (Adolf Schlatter). Oder in den Worten eines Erzählers aus unserer Zeit: "Er besaß nicht einmal eine Zahnbürste, soviel man weiß. Kein Gepäck, keine Möbelstücke, keine Wäsche, kein Taschentuch, keine Kennkarte, kein Bankbuch, keine Versicherungspolice, kein Haus (nicht einmal einen Winterpalast), er brauchte auch keine Briefe zu lesen und zu beantworten. So viel wir wissen, schrieb er nie eine Zeile. Heimat war für ihn, wo er sich gerade befand. Nicht wo er seinen Hut aufhängt, denn er besaß keinen." (Henry Miller)

Weihnachten - nur für arme Leute?
Doch das ist nur die eine Hälfte unseres Textes. Er geht folgendermaßen weiter: "Um euretwillen". Weihnachten ist also keine Selbstinszenierung Gottes. Sein Handeln steht im Zeichen des "für euch". Das zieht sich durch die ganze vita Jesu hindurch, bis zum letzten Mahl bei seinen Jüngern: "für euch gegeben". Zielgerichtete Aktion, nicht ohne Absicht, sondern "damit". Es soll etwas werden. "Damit ihr durch seine Armut reich würdet". Nochmals im weihnachtlichen Lied, bei Martin Luther selbst:

"Er ist auf Erden kommen arm,
daß er sich unser erbarm
und in dem Himmel mache reich".
(EG 23,6)

Wir Menschen - arme Leute? Arm seien wir dran, "Bettler" sogar, wie Luther in seiner Sterbestunde festhält. Welch eine Paradoxie! Heute, wo wir reich sind in einem nie gekannten Maß! Das kann einem, wenn man es vor unserem Predigttext bedenkt, schwer auf die Seele fallen. Wie können wir denn auch nur annähernd Weihnachten begreifen? Diese Botschaft: Ihr seid arm dran, wenn euch das Christkind nicht beschenkt?

Mir kommt es so vor, als ob es gerade wir heute besonders schwer damit hätten. Wer von uns Älteren denkt nicht unwillkürlich zurück an Weihnachten im Krieg und vor allem in den Jahren des Hungerns und Frierens nach dem Krieg? Waren wir da dem "armen Christkind" nicht näher, viel näher als heute? Die Feiertage - fast ohne schöne Geschenke und die wunderbaren Päckchen, aber dafür immer noch mit Lukas 2 und mit dem Quempas-Heft und mit einer letzten noch versteckten Kerze. Das hat uns niemand nehmen können. Ja, wir waren arm dran, aber dennoch reich beschenkt für unser hartes Leben im grauen Alltag.

"Reich an Gaben" (EG 70, 1)
Woran aber fehlt es uns reichen Leuten? Auch in dieser Frage lassen wir uns von Paulus weiterhelfen, wo wir doch schon den 2. Korintherbrief aufgeschlagen haben. Nur zwei Verse weiter zurück bescheinigt er seinen Adressaten: "Ihr seid reich (!) an Gaben", an Gnaden-Gaben! Zum Ersten:

Reich im Glauben
Das ist doch etwas!? Menschen, die glauben können, Leute, die mitten in dieser Welt voller Ängste und Sorgen, voller echten, aber oft auch eingebildeten Befürchtungen einen Halt haben, ihren Glauben, aus dem sie Kraft und Mut und Zuversicht schöpfen! Sie fehlen uns doch! heute, in unseren verworrenen Zeiten, mit dem Stempel "seit dem 11. September ist nichts mehr so wie vorher". Ach, wenn doch an Weihnachten 2001 viele Menschen wieder Mut fassen würden! Den Mut des Glaubens - das wäre etwas! Als nächstes nennt Paulus:

Reich am Wort
Was könnte er damit meinen? Lesen wir dazu Kolosser 3, 16: "Lasset das Wort Christi unter euch reichlich wohnen!" Paulus weiß, wie durch das gute Wort Gottes in den Herzen der Menschen ein Licht angezündet werden kann. Wenn wir die Seligpreisungen Jesu, seine Heilandsworte und seine Gleichnisbilder "hören und bewahren in einem feinen, guten Herzen" (Lukas 8, 15) - sind wir dann nicht reiche Menschen? Oder anders herum: Wie arm sind wir dran, wenn keiner mehr das Wort Christi in den Mund nimmt, wenn es alle vergessen haben, wenn sein Wort vollends aus unserem Alltag verschwindet! Wie schön, wenn z.B. immer noch in einer Traueranzeige ein kräftiger Bibelspruch zitiert wird oder ein glaubensstarker Liedvers. Und schließlich als drittes:

Reich an Liebe
Gewiss - wir wollen weder übersehen noch unterschätzen, was auch in unseren Zeiten aus Liebe zu Jesus getan wird: Die Dienste von Caritas und Diakonischem Werk. Dazu alles, was ganz im Verborgenen geschieht aus Liebe, ganz und gar selbstlos. Wenn das einmal total versanden und versickern würde in reiner Tarifpolitik und in blutleerer Sozialgesetzgebung, dann wären wir arm dran. Wie viele Kinder erfahren es, müssen es hinnehmen: Große Geschenke für teures Geld - aber: es ist keine Liebe drin! Das angesagte Endzeit-Stadium mit seinem "und es wird die Liebe in vielen erkalten" (Matthäus 24, 12) steht schon längst vor der Tür. Auch unser Wohlfahrtsstaat wird sie nie und nimmer ersetzen können - die Menschen, die "reich an Liebe" sind.

Beschenkte Armut - begnadete Geber
So schließt sich der Gedankenweg des Paulus. In der Tat - menschlich gesehen eine Überforderung! Mein Ansinnen, daß auch ihr Korinther euch an der Opfersammlung "Brot für Jerusalem" beteiligen sollt. Selbst mit dem Vorbild der Gemeinden in Mazedonien: Eine Zumutung. Meine Bitte an euch kann ich letztlich nur mit diesem einen, aber ganz starken theologischen Glaubenssatz untermauern: Denkt an die Armut unseres Herrn! Ihr kennt doch dieses besondere Kapitel!? So hoffe ich, ihr habt es auch verstanden.

Und wir?
Wir haben es in der Tat nicht leicht, uns das Credo des Paulus ganz zu eigen zu machen. Wie ein fremder Gast schneit es herein in unsere ganz andere Zeit mit ihrem ganz und gar anders ausgerichtetem Denken. Aber - es führt kein Weg daran vorbei: Weihnachten ist anders nicht zu haben als so:

"Wer da hingibt, der empfängt;
wer sich selbst vergisst, der findet."

(die bekannten Worte, die dem Franziskus von Assisi zugeschrieben werden). Machen wir uns auf den Weg! Gott wurde Mensch, damit wir Menschen würden. Menschen nach dem Bilde Gottes, nach dem Sinn Christi. Menschen, wie Paulus sie sich wünscht: Reich an Glauben, an Liebe und Hoffnung - weil sie sich haben reich beschenken lassen von der "Armut Christi".

Amen.

Grundentscheidungen zur Predigt:

1. Die kompakte Formel des Paulus zur Umschreibung des Wunders der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ist in der Christologie der Reformatoren wieder besonders aufgenommen worden (Kenosis-Theologie). Sie lebt fort vor allem in den älteren Chorälen. Die Predigt nennt Beispiele, die dann auch im Gottesdienst zu singen wären.

2. Die Formel ist eingebettet in einen bemerkenswerten Kontext: Der Opferaufruf. Ein Beispiel für den theologischen Zusammenhang von Sozialethik und Dogmatik. Die Predigt bezieht ihre Anschaulichkeit aus diesem Kontext, auch wenn sie sich zunächst nur auf den Vers 9 bezieht. Gott schafft mit der Botschaft von seiner Menschwerdung ein Volk, eine Gemeinde, die in der Not zusammensteht. Sie schafft Menschen, die ihren Besitz nicht für sich alleine behalten, die aber auch erfahren, daß Teilen zur Gnade, Hergeben zum Segen wird.

3. Seelsorgerlich wichtig scheint mir zu sein, daß der große Unterschied von uns heute zu damals nicht überspielt wird und daß uns der Zugang zu diesem Evangelium - bildlich: der Weg zur Krippe - durch unsere so ganz anders eingestellte Mentalität schwer gemacht ist. Letztlich gefragt: Wie kann unsereins bei uns heute diesen Text ehrlich predigen? Vielleicht eher in anderen Gegenden der Ökumene als in unserer so satten Gesellschaft?

Dr. Hartmut Jetter, Oberkirchenrat i.R.
Bernsteinstr. 143
70619 Stuttgart
Tel.: 0711-443003

 


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