Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

1. Sonntag nach Epiphanias, 13. Januar 2002
Predigt über Jesaja 42, 1-4, verfaßt von Christian-Erdmann Schott

Liebe Gemeinde!

Diese Worte aus dem Jesajabuch haben einen geheimnisvollen Klang. Sie berühren eine Sphäre, die unserem Zugriff weitgehend entzogen ist: Die Absichten Gottes für die Zukunft der Welt. Darum kann die Ausdrucksweise auch nur andeutend, bildhaft, geheimnisvoll sein.
Von dem Propheten, der uns diese Worte hinterlassen hat, wissen wir nicht viel. Sein Leben und sein Name sind im Dunkel der Geschichte verschwunden. Aus seiner Botschaft wissen wir, daß er in einer Zeitenwende gelebt hat: Im Jahr 539 vor Christus eroberte der Perserkönig Kyros Babylon. Das Weltreich der Babylonier zerbrach. Das Weltreich der Perser nahm seinen Aufstieg. In diesem Zusammenhang wurde die nach Babylon verschleppte Oberschicht der Juden frei. Das Ende des Exils, die Rückkehr nach Jerusalem zeichnete sich ab. Der Tag der Heimkehr, an den viele kaum noch zu glauben gewagt hatten, steht vor der Tür. Eine neue Epoche der Geschichte beginnt auch für das Judentum.

Während der Prophet Jesaja, nach dem das größte der prophetischen Bücher genannt ist, vor dem Exil gepredigt und seine Landsleute in leidenschaftlichen Reden vor der kommenden Katastrophe gewarnt hatte, predigt dieser andere, unbekannte Prophet am Ende der Gefangenschaft. Weil wir seinen wirklichen Namen nicht kennen, haben ihm die christlichen Theologen einen Kunstnamen gegeben: Deuterojesaja = der zweite Jesaja. Die Botschaft, über die heute zu predigen ist, handelt von einem nicht näher beschriebenen "Knecht", dem sogenannten Gottesknecht, von dem ab jetzt immer wieder bei Deuterojesaja und dann sogar im Neuen Testament die Rede ist. Es heißt: So spricht Gott, der Herr: "Siehe, das ist mein Knecht". Die Frage stellt sich: Wer ist dieser Knecht? Ist es der Prophet selbst? Das Volk Israel? Ist es der aufstrebende erfolgreiche Perserkönig Kyros? Ist es eine Gestalt der damaligen Gegenwart oder der Zukunft, einer, der noch kommen soll? Die Meinungen gehen weit auseinander.

Am überzeugendsten finde ich die Ansicht, daß es sich bei diesem Knecht um den Messias, also einen Gesandten Gottes handelt, der zu einem späteren, zukünftigen Zeitpunkt das Recht (Reich) Gottes auf der Welt aufrichten wird: und zwar auf der ganzen Welt bis an ihre Enden unter Einbezug der entferntesten Inseln, zu denen sonst kaum jemand vordringt. Wann der Zeitpunkt seines Auftretens sein wird, bleibt geheimnisvoll verborgen. Deuterojesaja kannte diesen Zeitpunkt nicht.

Deuterojesaia aber ist der erste, der von diesem Knecht Gottes spricht. Darum richtet sich auch an ihn die Frage: Warum ist gerade ihm diese Offenbarung zuteil geworden? Warum hat er von diesem Knecht Gottes sprechen dürfen, müssen? Oder anders gefragt: Warum wollte Gott, daß diese Botschaft zu diesem Zeitpunkt seinem Volk verkündigt wurde? Natürlich können wir in die Gedanken Gottes nur begrenzt eindringen. Sie bleiben sein Geheimnis. Aber es mag erlaubt sein, an eine Erfahrung zu erinnern, die uns ein Stück weiterhelfen kann. Wir haben sie alle gemacht und sie ist auch Israel nicht erspart geblieben. Die Erfahrung nämlich, daß in Geschichte und Leben Erwartung und Erfüllung in aller Regel nicht übereinstimmen.

Ein gutes Beispiel dafür ist die deutsche Wiedervereinigung 1989/90. Es waren große Hoffnungen, starke Erwartungen, die dadurch freigesetzt wurden. Das Wort von den blühenden Landschaften machte die Runde. Viele glaubten, daß eine neue Zeit angebrochen ist, manche glaubten sogar, daß nun auch ein neuer kirchlicher Frühling ausbrechen würde. Es hat nicht lange gedauert, bis sich Enttäuschungen einstellten. Freude und Dankbarkeit über dieses große Geschenk Gottes sind bei vielen Menschen im Osten wie im Westen im grauen Alltag untergegangen.

Ähnlich ist es den Europäern 1813/14 nach dem Sturz von Napoleon Bonaparte gegangen. Es herrschte großer Jubel, Begeisterung, Freude, Dank. Viele hatten jahrelang auf den Sturz dieses Mannes hingearbeitet. Nun war er gestürzt. Europa war frei. Eine neue Zeit konnte beginnen. Aber dann kam der graue Alltag. Die politische Restauration setzte sich durch. Die Freude war bald in Enttäuschung umgeschlagen, besonders bei der Jugend, die noch vor kurzem voller Hingabe und mit großem Einsatz zu den Freicorps geströmt war und in echter begeisterter Freiwilligkeit bereit war, Gesundheit und Leben im Kampf gegen diesen Feind einzusetzen.

Ich halte es für vorstellbar, daß Deuterojesaja seine Botschaft in seiner Zeitenwende so sagen mußte, weil die Enttäuschung der Jerusalem-Heimkehrer vorauszusehen war. Es war ja dann auch tatsächlich so. Im Exil kannten die Verbannten nur ein Ziel: Zurück, nach Hause, in die Heimat. Und dann durften sie nach Hause und waren am Ziel. Und dann war es doch sehr bald wieder nur Alltag, grauer Alltag mit vielen Entbehrungen, schwerer Aufbauarbeit, ein täglicher Kampf gegen Resignation und Zerstrittenheit in den eigenen Reihen. Vor diesem historischen Hintergrund und vor dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrungen wird verständlich, daß Gott durch diesen Deuterojesaja an eine große unaufgebbare Wahrheit erinnern will: Die wirkliche bleibende Erfüllung unserer Erwartungen kann nur Er selbst, kann nur Gott herbeiführen - wenn er es will. Und Deuterojesaja hatte den Auftrag, den Menschen zu sagen, daß Gott aus diesem Grund und mit diesem Ziel seinen "Knecht" senden wird.

Wenn er kommt, wird eintreten, was wir insgeheim und oft nicht ganz deutlich irgendwie immer mitgehofft haben; was sich in jeder Generation neu herausbildet; was uns - vielleicht - als eine Art Rest-Erinnerung an das Paradies nicht losläßt, was wir als Kraft der Phantasie und der Hoffnung auf ein wirkliches umfassend heiles, gerechtes, liebe- und friedevolles Leben unausrottbar in uns tragen. Dann, wenn der Messias-Knecht kommt, wird dieses Erhoffte Wirklichkeit werden. Diese umfassende Wende ereignet sich nicht in unseren Wenden in Geschichte und Leben. Wir hoffen es jedesmal wieder. Und sehen jedesmal wieder, daß es diese Wende nicht war - und nach Deuterojesaja auch nicht sein konnte. Diese wirkliche große Wende kann nur Gott selbst herbeiführen durch seinen Gesandten, den Knecht: "Ich erhalte ihn" Er ist "mein Auserwählter, an welchem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen".

Das wird dann auch ein friedevolles Zusammenleben der Völker bedeuten, ohne Unterdrückung der Kleinen, ohne Vertreibungen, ohne Exil. Vielmehr werden alle im Hause Gottes beieinander wohnen.

Diese Botschaft des Deuterojesaja ist auch für uns wichtig. Sie bedeutet, daß wir als auf Gott Hoffende und Vertrauende die Wenden in Geschichte und Leben nicht mit übermäßigen Erwartungen belasten oder überhöhen müssen. Wir brauchen auf keine neuen Versprechungen von "Führern", die uns das "Heil" bringen, zu warten. Wir brauchen keine neue Ideologie. Wir brauchen keinerlei neue oder wiedererweckte alte Heilslehre. Vielmehr werden wir durch den Glauben an die kommende große Wende durch das Eingreifen Gottes befreit zu Nüchternheit, Sachlichkeit, Menschlichkeit, die ihre Grenzen annimmt, weil wir das Heil, das Reich, die Herrlichkeit, die Erlösung in den Händen Gottes wissen und glauben, daß er zu seiner Zeit durch den Messias-Knecht sein Recht durchsetzen wird.

Darum kennen wir zwei Arten von offener Zukunft: Da ist die begrenzte Zukunft, die wir uns bauen durch Arbeit und durch Engagement. Und da ist die Zukunft, die nicht wir, sondern Gott schafft und gestaltet; die bleibende Zukunft, auf die wir hoffen. Beides sollten wir nicht vermengen.

Die Hoffnung auf den Messias teilen wir mit dem Judentum. Das ist allerdings nicht nur eine verbindende Hoffnung. Es ist auch ein trennendes Moment dabei, weil wir Christen glauben, daß in der Person des gekommenen Jesus Christus diese alte Messias-Hoffnung durch Gott noch einmal bestätigt und angefacht worden ist. In der Gestalt Jesu Christi sehen wir den kommenden Messias - noch war er nicht in der freien Herrlichkeit des Reiches und Rechtes Gottes unter uns, sondern unter den Bedingungen unseres jetzigen Lebens und Seins "unter dem Gesetz" (Galater 4,4). Aber der Wiederkommende wird die Züge des Gekommenen tragen. Darum wissen wir, wem wir entgegenwarten.

Dieser kommende Messias-Christus-Knecht Gottes wird so sein, wie er bereits unter uns war: Nicht wie ein menschlich-weltlicher Fürst, weder wie Kyros noch wie Augustus noch wie einer der Diktatoren, die wir erlebt haben, denen nur imponiert, was sie fürchten müssen, die die Möglichkeiten der Propaganda in den Häusern und auf den Gassen für sich arbeiten lassen: die die Kleinen schlucken und zertreten, weil sie sie weder fürchten noch lieben. Nein, dieser Fürst wird ein Knecht sein; ein Knecht, der die Weisungen Gottes umsetzt. Darum wird er schonen und nicht zertreten; Barmherzigkeit üben und nicht Rache: "Er wird nicht schreien und rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. Er wird das Recht wahrhaftig halten lehren".

Wird das sein? Wann wird das sein? Es wird sein, weil es zum Wesen Gottes gehört, sein Recht und sein Reich aufrichten zu wollen. Es wird sein, weil er es gesagt hat, zum ersten mal dem unbekannten Propheten Deuterojesaja. Wann es sein wird, ist das Geheimnis Gottes. Wir kennen die Stunde nicht. Auch Jesus Christus hat sie nicht gekannt. Aber er hat seine Gemeinde ermutigt, diese Wende fest im Auge zu behalten und nicht nachlassend auf den Tag zu warten und zu hoffen, wo das barmherzige Recht Gottes alles neu macht und endgültig siegt.

Amen.

Dr. Christian-Erdmann Schott
Elsa-Brandstroemstr. 21
55124 Mainz (Gonsenheim)
Tel.: 06131/690488
Fax: 06131/686319


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