Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Estomihi, 10. Februar 2002
Predigt über Jesaja 58, 1-9a, verfaßt von Peter Maser

(Zugleich Semesterschlußgottesdienst in der Universitätskirche Münster)

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder!

Die evangelische Universitätsgemeinde in Münster feiert heute Ihren Semesterschlußgottesdienst. Das Wintersemester 2001/2002 ist vor wenigen Tagen zu Ende gegangen. Die akademische Welt lebt ja in einem besonderen Zeitrhythmus, der außerhalb der Hochschulmauern kaum bekannt ist. Wir teilen unsere Zeit in Semester ein, also in Sechsmonate-Abschnitte. Diese Semester erlebt jede und jeder auf unterschiedlichste Weise. Es macht schon einen Unterschied, ob ich es mit einem Erstsemester, einem Examenssemester oder vielleicht einem Freisemester zu tun habe. Es macht auch einen Unterschied, ob einer mit diesem Semester vielleicht gerade sein zehntes Studiensemester hinter sich gebracht hat und sich fragt, ob nun nicht langsam an das Examen zu denken sei. Für mich war es, wenn ich es richtig berechnet habe, wohl das 48. Semester an dieser Universität Münster und in unserer Evangelisch-Theologischen Fakultät. Welch unterschiedliche Bedeutung nun aber dieses zu Ende gegangene Semester für jede und jeden von uns auch gehabt haben mag, in einem sind wir heute alle gleich: Wir schauen gemeinsam zurück auf ein Stück gemeinsamer Lebenszeit - und wir tun dies im Gegenüber zu einem Bibeltext aus der hebräischen Bibel, bei dessen Hören vielleicht mancher von Ihnen zunächst so etwas wie Mitleid mit dem Prediger des heutigen Tages empfunden haben mag. Die prophetische Botschaft vom falschen und richtigen Fasten: Was hat die mit diesem gemeinsamen Stück akademischer Lebenszeit zu tun, auf die wir heute zurückblicken? Fastenübungen stehen in unserem evangelischen Bewußtsein doch eher am Rande. Natürlich weiß auch ich davon, daß inzwischen immer mehr evangelische Christinnen und Christen sich an Aktionen wie "Sieben Wochen ohne" beteiligen und damit die am kommenden Mittwoch beginnende Fastenzeit für sich wieder auf eine neue Weise ernstzunehmen versuchen. Aber über den Sinn solcher Aktionen möchte ich heute nicht mit Ihnen nachdenken.

Als ich den heutigen Predigttext aus Jesaja 58 zum dritten oder vierten Mal gelesen hatte, da war ich mir plötzlich sehr gewiß: Dieses Stück prophetischer Botschaft, über das übrigens gerne auch zum Erntedankfest gepredigt wird, kann auch sehr direkt zu einer evangelischen Hochschulgemeinde am Ende eines Semesters im Jahr 2002 sprechen. Was der Prophet da seinem Volk in einer Zeit nach dem großen Exil und des wiederbeginnenden Aufbaus zu sagen hat, kann auch uns in einer Weise treffen, die so konkret ist, daß es vielleicht sogar weh tut. Wenn ich es nun doch wage, die Botschaft des Propheten Jesaja in unsere Welt, in unsere Westfälische Wilhelms-Universität Münster, in unsere Hochschulgemeinde hineinzuholen, dann geht es mir vielleicht wie dem Propheten damals, der von Gott so kräftig ermutigt werden mußte: "Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune!" Ich weiß nicht, ob die Stimme des Propheten dann wirklich wie eine Posaune gedröhnt hat. Vielleicht hat er seine Botschaft ja trotz solch kräftigen Zuspruch nur mit gedämpfter und stockender Stimme vorgetragen. Wichtig aber ist ja nur, daß das Wort gesagt wird in aller Unvollkommenheit, die sich nur durch die Gewißheit getröstet werden kann, daß hier ein Auftrag ausgeführt wird: "Rufe getrost, halte nicht an dich!"

Jesaja hatte es mit einer Fastenpraxis zu tun, die ganz offensichtlich zum frommen Brauch, vielleicht auch zu ungeliebten Last geworden war. Man fastete, weil es sich so gehörte. Ja, wahrscheinlich hungerte und dürstete man tatsächlich in der vorgeschriebenen Weise. Man machte es sich gewiß nicht einfach, aber es brachte einfach nichts. Die Beachtung des frommen Brauchs, das routinierte Einhalten der einschlägigen Gebote - es blieb ohne Antwort. All das Hungern, all das Kopfhängenlassen und in Sack und Asche durch die Gegend Laufen, brachte Gott nicht näher: "Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib, und du willst's nicht wissen?" So fragten die Frommen Juden damals voller Verzweiflung oder doch voller Unwillen, daß sich der ganze Aufwand offensichtlich nicht lohnt.

Versuchen wir nun einmal das, was wir da wie in einer Momentaufnahme aus dem Alltag des Volkes Israel erfahren, auf unsere Situation anzuwenden. Fasten, das nichts bringt: Was könnte das heute bedeuten? Könnte das nicht für uns bedeuten: Ihr begnügt Euch mit Eurer christlichen und kirchlichen Routine. Die Evangelisch-theologische Fakultät bietet das übliche, reichhaltige und manchmal auch schwer verdauliche Menü ihrer Lehrveranstaltungen an. Die theologische Forschung wird auf den unterschiedlichsten Feldern mit Hingabe vorangetrieben. Als Forschungsbeauftragter der Fakultät weiß ich, wovon ich spreche. In der Universitätskirche finden regelmäßig die akademischen Gottesdienste statt und immer wieder auch wunderschöne Kirchenkonzerte. Auch das Programm der Studierendengemeinde entfaltet ein breit gefächertes Angebot unterschiedlichster Aktivitäten und Gruppen. Was will man eigentlich mehr?

Die Menschen, mit denen der Prophet Jesaja es zu tun hatte, wollten offensichtlich mehr. Sie begehrten, daß "Gott sich nahe". Diese Aussage war die erste, an der ich wie an einem Widerhaken hängen blieb. Ist bei all der gelehrten und studentischen Betriebsamkeit, die wir so entfalten, bei uns noch der Wunsch wirklich lebendig, daß Gott sich uns nahe, daß er uns nahekommt? Ich weiß natürlich auch etwas davon, wie auch in unserer Gemeinde immer wieder einmal und bei einzelnen die Frage aufbricht: Ist Gott uns, ist Gott mir wirklich nahe? Aber trotzdem frage ich: Leben, studieren, lehren und forschen wir nicht oft so wie Leute, die einmal den Befehl "Vorwärts!" vernommen haben und nun loslaufen, ohne sich umzuschauen? Wo bleibt der, der uns da in Bewegung gesetzt hat? Laufen wir vielleicht nur noch um des Laufens willen? Wo kommt da der noch wirklich in unserem Alltag vor, der uns nahe sein will, der uns antworten will. Empfinden wir noch jenen Mangel, über den die Gemeinde des Jesaja klagte?

Jesaja hat es seinen Zeitgenossen sehr konkret und direkt gesagt, weshalb das bei ihnen mit ihrem Verhältnis zu Gott nicht funktioniert. Mit aller Schärfe analysiert er den großen Dissens, der zwischen allem frommen Reden und Tun und der Alltagspraxis besteht. Da wird gefastet, daß es wehtut, zugleich aber wird gehadert und gezankt, daß es nur so kracht. Da wird Unrecht getan -ohne Rücksicht auf Verluste. Da werden Menschen unterjocht und in Unfreiheit gehalten. Da werden die Augen fest geschlossen vor dem Elend des Mitmenschen.

Ich glaube, es fällt nicht schwer, das alles auf unsere Verhältnisse zu übertragen. Wenn es darum geht, sich durchzusetzen, dann stehen wir in nichts denen nach, denen Gottes Nähe oder Ferne gleichgültig ist. Wenn es darum geht, Zeit für den Menschen an unserer Seite zu haben, der - vielleicht auch ohne Worte bittet "Schenke mir etwas Zeit, ich brauche sie", dann ziehen wir unsere Terminkalender hervor. Wenn es darum geht, anderen ihre Art und Weise zu lassen in dem Wissen, daß auch sie geliebte Geschöpfe unseres Gottes sind, dann sind wir mit unseren Urteilen oft sehr schnell dabei. Dann verhalten wir uns - wie Menschen sich eben verhalten: eigennützig, unsensibel, selbstgerecht und tragen damit zu einer Gestaltung der Welt bei die Gott nicht will, von der er sich zurückzieht in ein Schweigen, das wir oft genug überhaupt nicht einmal merken.

Jesaja entwickelt gegenüber solchen Zuständen ein radikales Gegenprogramm. Er reiht sich damit in die lange Reihe jener Gotteszeugen ein, die immer wieder davon gesprochen haben, daß Gott uns in dem Menschen an unserer Seite oder uns gegenüber begegnet. Zusammenfassend könnte man vielleicht sagen: Bring dein Verhältnis zu diesem Menschen in Ordnung, dann braucht Dir nicht mehr bange um dein Verhältnis zu Gott zu sein. Martin Luther, der die Dinge immer wieder auf den Punkt zu bringen wußte, hat sich auch hier in brutalstmöglicher Weise geäußert: "Spricht Christus: Ich habe euch nur ein äußerlich Zeichen gegeben. Alle anderen, auch zum Sakrament gehen, können fehlen. Aber an dem einen sollt ihr erkennen, ob ihr meine Jünger seid. Willst du einen Christen, so suche kein ander Zeichen an ihm als Nächstenliebe. Laß sie beten und Kappen tragen. Hier ist beschlossen: Wenn ihr euch untereinander liebet, so seid ihr meine rechten Jüngerinnen und Jünger."

Ich weiß nicht, wie Ihre Bilanz im Rückblick auf das nun beendete Semester ausschaut. Da wird sich jeder und jede unter uns wohl auch mancher gedankenloser Fehler und bitterer Versäumnisse anklagen müssen. Dietrich Bonhoeffer hat beschrieben, mit welchen Fragen wir da vor uns selber, vor unseren Mitmenschen und dann eben auch vor Gott stehen: "Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen geworden und mußten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden - sind wir noch brauchbar? Nicht Genies, nicht Zyniker, nicht Menschenverächter, nicht raffinierte Taktiker, sondern schlichte, einfache, gerade Menschen werden wir brauchen. Wird unsere innere Widerstandskraft gegen das uns Aufgezwungene stark genug und unsere Aufrichtigkeit gegen uns selbst schonungslos genug [...] sein, daß wir den Weg zur Schlichtheit und Geradheit wiederfinden?"

Jesaja, der große Prophet, hat seiner Gemeinde ein radikales und sehr konkretes Gegenprogramm gegen unsere Normalverfassung verkündet:
- Laß die Gebundenen los!
- Gib frei, die du bedrückt hast! Reiß jedes Joch weg!
- Brich den Hungrigen dein Brot!
- Führe die Obdachlosen ins Haus!
- Kleide die Nackten!
- Halte dich nicht auf Distanz, die doch als Gottes geliebte Kinder deine Mitmenschen sind.

Liebe Gemeinde, diese Worte brauche ich wohl nicht mehr eigens in unsere Situation hinein zu übersetzen. Wir wissen alle, wo und wann und wem gegenüber wir auch in dem vergangenen Semester gefehlt haben. Da werden unsere üblichen Entschuldigungen ganz schnell fadenscheinig. "Wir wären gerne gut anstatt so roh, aber die Verhältnisse, die sind nicht so", dichtete Bert Brecht und die scheinbar zynische Feststellung war doch eigentlich eine bittere Anklage, denn wer ist denn für die Verhältnisse verantwortlich, wenn nicht wir.

In einigen Wochen werden wir uns wieder in dieser Kirche zu einem Semestereröffnungsgottesdienst zusammenfinden. Und wir werden es erneut versuchen, uns als Christen kenntlich zu machen - durch eine Nächstenliebe, die ihre Kraft allein aus dem schöpfen kann, der uns in unseren Mitmenschen begegnet. Wir werden auch in dem neuen Semester mit unserem eigenen Versagen konfrontiert werden, aber vielleicht kommen wir doch auf unserem gemeinsamen Weg ein Stück voran. Wo der Mensch dem Menschen zum Helfer wird, da soll jene große Verheißung sich zu verwirklichen beginnen, von der Jesaja in so machtvollen Bildern zu sprechen wußte. Dann wird Licht sein, dann wird die Heilung rasch voranschreiten und wir werden uns in einen Zug einreihen, dem unsere Gerechtigkeit voranschreitet, und die Herrlichkeit des Herrn wird unseren Zug beschließen.

Ich weiß nicht, ob wir tatsächlich so etwas auch nur in Ansätzen erleben könnten, und wie das aussähe, wenn wir in einem solchen Zug so daherkämen. Mir und vielleicht uns allen würde es ja wohl schon zur Gänze ausreichen, wenn an uns die Verheißung Jesajas wahr werden würde, daß wir rufen und der Herr uns antwortet. Daß wir schreien und die Antwort des Herrn hören: "Siehe, hier bin ich".

Amen

Prof. Dr. Peter Maser
von-Siemens-Straße 3B, D-48291 Telgte
Tel.: 02504/5399 Fax: 02504/3388
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