Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Reminiscere, 24. Februar 2002
Predigt über Hebräer 11, 8-10, verfaßt von Charlotte Hoenen

Liebe Gemeinde!

Im Laufe des Lebens kommen wir ab und zu mal in die Lage, Erbe zu werden und den materiellen oder geistigen Reichtum, den Menschen vor uns erarbeitet haben, zu übernehmen.
Manchmal weiß man schon lange vorher: ich werde Erbe sein und warte voll Spannung darauf.
Ein lockendes Erbe veranlaßt Menschen entweder zu guten Aktivitäten oder auch zu Straftaten, weil sie den Zeitpunkt des Erbfalles nicht abwarten, sondern ihn selbst bestimmen wollen. Der Zeitpunkt und der genaue Inhalt des Erbes sind in der Regel unbekannt.

Zum Sonntag Reminiszere hören wir einen Abschnitt aus dem Hebräerbrief im 11. Kapitel. Die Glaubenden werden vom Verfasser des Briefs als potentielle Erben Gottes und Jesu Christi charakterisiert. Ein zukünftiges Erbe ist den Glaubenden zugesagt von alters her. Zum Teil wurde das verheißene Erbe schon sichtbar, zum anderen steht es noch aus. Es bleibt spannend und offen, was Inhalt, Zeitpunkt und Erbberechtigung betreffen.

Der Predigttext steht Hebräer 11, 8-10:
"V. 8: Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, in ein Land zu ziehen, das er erben sollte; und er zog aus und wußte nicht, wo er hinkäme.
V. 9: Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen in dem verheißenen Lande wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung.
V. 10: Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist."

Was beinhaltet das Erbe für Abraham?
Nach der Auslegung des Hebräerbriefes wurde ihm von Gott ein doppeltes Erbe verheißen:
- Zum ersten: das unbekannte Land, das Abraham und seine Nachkommen erben sollten,
- zum anderen: die zukünftige festgegründete Stadt, deren Architekt und Baumeister Gott selbst ist.

Das unbekannte Land, das einmal zur dauerhaften Heimat für seine Nachkommen werden sollte - diese Erbzusage Gottes ließ Abraham auswandern. Von der fremden neuen Heimat ergriff er dann aber nicht gewaltsam Besitz, sondern er lebte im Zelt, also immer im Provisorium, bereit zum erneuten Aufbruch. Seine Spuren im neuen Land sind die Altäre, die er als Zeichen der Begegnung mit seinem Gott baute. Nur eine Grabhöhle erwarb er, in der seine Frau Sarah bestattet wurde.
Mit ihm lebten andere, fremde Nomadenstämme im Land. In festen Häusern angesiedelt waren die Kanaanäer. Er ließ ihnen ihren Lebensraum und blieb fremd im eigenen Erbe.

Die politische Geschichte dieses Gebietes, des heutigen Palästina, erweist bis heute, welche Schwierigkeiten die dort lebenden Menschen mit ihren unterschiedlichen Kulturen und Religionen zu lösen hatten und haben.
Die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs reklamieren dieses Land seit Ausgang des 19. Jahrhunderts erneut für sich. Es wurde ihnen von der UNO 1947 als rechtmäßiger Staat "Israel" zur dauerhaften Heimat gegeben. Es sind die Palästinenser, die aus politischen und religiösen Gründen Anspruch auf Teile Palästinas erheben und endlich einen eigenen Staat, in ihrer bisherigen Heimat, gründen wollen.
Eine zwiespältige Situation, die wieder seit Monaten täglich Menschenopfer fordert und zu eskalieren droht! In beiden Völkern streiten religiöse Fanatiker dem jeweils anderen Volk das politische Existenzrecht ab. Menschlicher Wille und Verstand müßten Lösungen finden. Pläne liegen vor, wie zwei unterschiedliche Staaten das Zusammenleben regeln könnten. Aber politisches Wollen und menschlicher Verstand reichen bisher nicht aus, den Konflikt zu lösen.
Trotz der alten Zusage Gottes ist ein dauerhaftes und ruhiges Leben für Abrahams Nachkommen in diesem Land umstritten.

Bleiben die Glaubenden als die Erben Gottes gegenüber allem Besitz zugleich auch Fremde, so wie sich Abraham damals im Land verstand? Er teilte sein Heimatrecht mit anderen, lebte in Provisorien - nicht aus Not und Schwäche, sondern aus Glaubensstärke!
Warum nahm er eigentlich das Erbe nicht als Eigentümer in Besitz? Weil er auf ein anderes zukünftiges Erbe im Glauben wartete. Das hatte für ihn einen höheren Stellenwert.

Der Hebräerbrief bringt dieses Lebensgefühl von Glaubenden in die Worte: "Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir." (Hebr. 13,14). Die zukünftige Stadt, auf die nun auch wir warten können, ist Bild für ein heiles, friedvolles Leben.

Dieses zweite verheißene Erbe steht noch aus.
Es wird keine irdische, sondern eine himmlische Stadt sein, in der alle ein Lebensrecht haben, die sie erben. Dort gibt es keine Machtkämpfe, keine Tränen, keine Besitzansprüche gegen andere, sondern alle gemeinsam werden lachende Erben sein. Manchmal leuchtet diese Stadt auf, wenn wir sagen: Das ist der Himmel auf Erden! Da reicht die Zukunft schon in die Gegenwart hinein! Wie aber die himmlische Stadt aussehen wird, das bleibt zunächst einer genaueren Vorstellung entzogen, allein dass Gott ihr Architekt und Baumeister ist, läßt Vollendetes erahnen.

Für uns als Christen ist wichtig: Jesus Christus selbst ist aus den Nachkommen Abrahams als Erbe über alles (Hebr.1,2) von Gott eingesetzt worden, und er gibt diese Erbberechtigung an die Kinder, die Gott ihm gegeben hat, weiter. Als Christen sind wir Miterben der Verheißungen Gottes!

Bei einer Erbschaft ist es möglich, das Erbe auch auszuschlagen.
Das sieht der Hebräerbrief in aller Schärfe, weil damals viele Christen der Gemeinde den Rücken zukehrten und meinten, wir leben problemloser ohne den unsichtbaren Gott und ein von ihm verheißenes zukünftiges Erbe.
Wer Gott ablehnt und sein Herz hart macht gegenüber seinem Wort, für den gibt es ein Zu-spät. Aus dem Erbrecht ist uns das bekannt, wenn jemand erklärt, ich will die Erbschaft nicht antreten, der kann diesen Entschluß im Erbfall nicht rückgängig machen. So wirbt und mahnt der Hebräerbrief (3,7.8 u.ö.) mit dem Psalmwort: "Heute, wenn ihr seine Stimme hört, so verstockt euer Herz nicht"- ihr verspielt sonst endgültig die Chancen für eure Zukunft! Eine zweite Buße, eine erneute Umkehr gibt es nicht!

Wie wird man zum Erben Gottes?
In unserem Erbrecht gibt es eine gesetzliche Erbfolge und den Vorgang der Benennung eines Erben durch ein Testament.. Für Erben Jesu Christi fällt eine gesetzliche, natürliche Erbfolge aus. Es gilt der Vorgang der Benennung. Gott benennt durch Jesus Christus den einzelnen Menschen mit seinem Namen und redet ihn an. Das geschieht in der Taufe. Wie damals bei Abraham gilt es, auf Gottes Stimme zu hören und seinem Wort zu gehorchen. Dabei machen wir - wie Abraham - Gottes Wort zur eigenen Sache und nehmen es mit hinein in unser alltägliches Tun und Entscheiden. Wir erfahren, Gott schafft sich in unserem Innersten Gehör, vertreibt das Mißtrauen und die Unsicherheiten und ermöglicht uns mit Vertrauen und Gewißheit unseren Weg zu gehen. Dieser Weg endet nicht im "Dunkel" oder "Nichts", sondern bei ihm, in seiner Gegenwart. Bei ihm werden wir aufgehoben sein in der zukünftigen, fest gegründeten Stadt.

Ist dieses Erbe heute attraktiv?
Für viele Menschen nicht.
- Auf Gott zu hören paßt nicht zu dem Anspruch auf alleinige Selbstbestimmung.
- Auf ein Erbe in späterer Zukunft zuzugehen steht dem Bestreben entgegen, allein das Heute mit einem "Kick" zu genießen.
- Das allgemeine Sicherheitsbedürfnis widerspricht dem Mut zum Provisorium und dem Teilen des Besitzes mit anderen.
- Die Wirklichkeit des Unsichtbaren hat keine Realität für Menschen, die nur gelten lassen, was sie sehen, um es zu zählen, zu messen und zu wiegen.
Ein Erbe, das nicht sofort verfügbar ist und nicht materielle oder kulturelle Vorteile bringt, sondern in der Dimension des Glaubens Wirklichkeit wird - das hat wenig Attraktivität für Menschen in unserem Land. Doch wer sich auf Gott eingelassen hat und mit ihm in Beziehung steht, wird trotz aller Unverfügbarkeit fröhlich und hoffnungsvoll leben und an seine Lebensaufgaben gehen.

Wer rechnet sich heute selbst zu den Erben Abrahams?
Nicht nur wir Christen, sondern ebenso die Juden verstehen sich als die Erben Abrahams. Hinzu kommen die Muslime. Auch sie berufen sich auf Abraham. In der 2. Sure des Koran heißt es 125 ff: "Als sein Herr zu ihm (Abraham) sprach: "Werde Muslim", sprach er: "Ich ergebe mich völlig dem Herrn der Welten." Und Abraham legte es seinen Kindern ans Herz, und Jakob (sprach:) "O meine Kinder, siehe Allah hat euch eine Religion erwählt; so sterbt nicht, ohne Muslime geworden zu sein"....Sie sprachen: "Anbeten werden wir deinen Gott und den Gott deiner Väter Abraham und Ismael und Isaak, einen einigen Gott, und ihm sind wir völlig ergeben." Jenes Volk ist nun dahingefahren; ihm ward nach seinem Verdienst, und euch wird nach eurem Verdienst."

Wegen der gemeinsamen Wurzeln im Glauben Abrahams müßten die Religionen trotz der Unterschiede von Juden, Christen und Moslems daran arbeiten, ein friedliches Miteinander und Nebeneinander in Palästina und auf der Erde zu erreichen. Das erfordert harte Arbeit politisch, wirtschaftlich, pädagogisch. Auch das fürbittende Gebet für das Gelingen benötigt Kräfte und innerstes Engagement. Arbeit und Erbe gehören vom Wortstamm her zusammen. Es erfordert aber erstlich und letztlich Glauben, ein Vertrauen darauf, dass es der eine Gott ist, der auch seine Verheißungen gegenüber allen Menschen einlöst, ihnen Leben und Lebensraum zu geben. Ich denke, Gott erwartet von uns Glaubenden diese Arbeit durch "die feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht" (11,1) - durch den Glauben an das zukünftige Erbe.

Charlotte Hoenen, Superintendentin i.R.
06120 Lieskau
E-Mail via: rhoenen@t-online.de


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