Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Reminiscere, 24. Februar 2002
Predigt über Hebräer 11, 8-10, verfaßt von Pertti Luumi (Finnland)

Es kommt die Zeit

Die Zeit ist etwas sehr Rätselhaftes. Was ist die Zeit eigentlich? Ist die Zeit, wie wir gelernt haben, die vierte Dimension neben der Länge, der Breite und der Tiefe? Ist sie etwas, was keinen Anfang und kein Ende hat?. Kann man mit der Zeit auch die Ewigkeit messen?
Oder ist sie nur eine menschliche Erfahrung über etwas? Oder ist sie vor allem eine Grunderfahrung des Menschen?

Wir können eigentlich die Zeit nur beschreiben oder nur symbolisch von der Zeit sprechen. Die Zeiten wechseln, sagen wir. Die Zeiten wechseln im Lauf der Jahre, die alte Zeit bleibt hinter uns und die neue ist vor uns. Die Zeit wechselt in noch grösseren Kreise: das Altertum, das Mittelalter, die Neuzeit, die moderne Zeit, die postmoderne Zeit. Die Zeit misst Veränderung.

Die Zeit vergeht.
Mit einer guten, gemütlichen Stunde vergeht die Zeit schnell. Die Gesellschaft der guten Freunde, das Engagement in einer interessanten Aufgabe, ein packendes Buch lassen die Zeit laufen. Man merkt nicht wie die Zeit verfliesst. Die Zeit misst die Erfahrung. Aber die Stunden des Wartenden oder eines leidenden Menschen sind lang - die Zeit verläuft nicht.

Die Zeit entflieht.
Als Kind hatte ich oft das Gefühl, dass ich endlos Zeit habe. Aber wenn man zu seinen eigenen Kindern oder Kindeskindern schaut, versteht man, wie schnell die Zeit entflieht. Ich begreife, wie meine eigene Zeit entflohen ist. Und die entfliehende Zeit hat ihre Aufgabe erfüllt und ihre Spuren in mir hinterlassen. Ûber das Entfliehen der Zeit berichten die Gesichtsfurchen, das grau gewordene Haar und kürzer gewordene Schritte.

Die Zeit bleibt stehen.
Die Zeit bleibt stehen, wenn Du die Nachricht über den Hingang eines lieben Menschens empfangen hast. Es war nur die Stunde. Die Zeit bleibt stehen, wenn Du dich verliebt hast. Es war nur die Stunde. Die Zeit hat dich zum Stillstand gebracht.

Was ist die Zeit? Eine Maßeinheit? Die vierte Dimension? Nur eine menschliche Erfahrung? Speziell eine menschlice Erfahrung?

"Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde." Dieser jahrtausende alten Wahrheit begegnen wir in unserer Heiligen Schrift. Alles Vorhaben hat seine Stunde. Und der weise Prediger fügt hinzu: "Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit, abbrechen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit."

Wenn ich auf diese Weisheit - einfache aber zeitlose Weisheit - höre, verstehe ich gleichzeitig etwas von unserer Zeit, etwas von der Zeit meines eigenen Lebens. Die Zeit ist eine Gabe, aber eine verschwindende Gabe. Die Zeit vergeht, verfliesst oder bleibt stehen und das geht jeden von uns an. So hat es die Zeit immer gemacht und wird es immer machen. Meine Frage ist: Wofür habe ich gerade jetzt Zeit? Fürs pflanzen oder fürs ausreißen? Fürs bauen oder fûrs abbrechen? Fürs weinen oder fûrs lachen? Für Hass oder für Liebe? Wofür gebrauche ich meine Zeit?

Der Verfasser des Briefes an die Hebräer zitiert einen profetischen Text aus dem Alten Testament, aus dem Buch des Profeten Jeremia: "Siehe, es kommen die Tage, spricht der Herr."
Jeremia, der Profet des Herrn, behauptet mit Gottes Autorität, dass eine neue Zeit kommen wird. Dabei wird neues Leben an die Stelle des vernichteten Lebens treten; dabei wird Gott einen neuen Bund an Stelle des alten machen und dabei wird die heilige Stadt, die Stadt des Herrn, neu gebaut, so dass man sie nicht mehr zugrunde richten kann. Wenn diese Tage kommen, wird der liebe Gott sein Gesetz in die Herzen der Menschen schreiben und alle werden Gott erkennen.

In unserer Bibel hat die Zeit eine doppelte Bedeutung. Die Zeit, die wir haben, ist eine für uns gegebene Zeit. Diese Zeit darf man nicht verschwenden. Diese Zeit muss man richtig verwenden. Carpe Diem!, ist eine bekannte Aufmunterung dafür.

Aber es gibt auch die Zeit Gottes, die wir auch sehen sollten. Unsere Bibel sagt, dass es manchmal für uns sehr schwierig ist zu sehen, was der Herr gerade jetzt macht und schafft: "Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr´s denn nicht?" Die Glaube an Gott bedeutet, dass wir nicht nur diese Stunde recht gebrauchen sondern auch beobachten müssen,was um uns geschieht. Was sehen wir am Horizont? Was für eine neue Perspektive für das Leben, für die Geschichte und für die Begebenheiten der Welt wird gerade jetzt entstehen? Wo wird solches Neues erzeugt, das unabhängig von unseren lieben Realitäten ist?

Eine Anekdote erzählt, dass im vorigen Jahrhundert während der zwanziger Jahren in der Steppe Sibiriens die Eisenbahn gebaut wurde. Die Eisenbahn ging geradeheraus über die Steppe. Man hat den Eindruck bekommen, dass die Eisenbahn sich bis an die Ewigkeit, bis an den Himmelssaum erstreckt.
Aus der Hauptstadt kam eines Tages ein Beamter, ein politischer Beamter, um das Bauunternehmen zu besichtigen. Der politische Beamte war politisch kompetent, aber seine andere Lebenserfahrungen waren unbedeutend und seine Ausbildung gering. Mit dem Ingenieur, der den Bau leitete, betrachtete der Beamte die Bauarbeit. Er schaute die über die Steppe laufende Eisenbahn an. Er war sehr erstaunt als er merkte, dass die Gleise weit in der Steppen ineinander zu greifen schienen. Es schien so, als wäre da nur 1 Gleis. Der politische Beamte dachte sogleich, dass da etwas falsch sein müsste. Wütend erkundigte er sich bei dem Ingenieur nach dem Grund dafür, dass die Gleise da in der Ferne ineinander greifen. "Geehrter Kamerad", antwortete der Ingenieur ruhig, "es liegt an der Horizont und Perspektive." Diese Antwort ließ den Beamten brüllen: "Da darf keine Horizont und keine Perspektive sein. Sie müssen sofort weggenommen werden!"

"Es darf keine Perspektive sein." Dieses könnte heute eine Erfahrung oder eine Meinung vieler Menschen sein. Es darf keine "Es kommt die Zeit" - Erwartung sein. Unsere hitzige und hektische Zeit lebt eine grosse "Hier und jetzt" - Stunde. Wir sind stolz darüber, dass viele Sachen, die früher sehr viel Zeit gekostet haben, jetzt - wie wir sagen - "in der Realzeit" geschehen. Wir unterhalten uns in Realzeit mit einem Menschen - vielleicht mit einem unbekannten - der auf der anderer Seite der Erde wohnt. Tag für Tag gewöhnen wir uns an die schnelle Besorgung unserer Sachen. Die Stunde "Jetzt", diese Stunde und dieser Tag sind immer wichtiger. "Die Schnellen besiegen die Langsamen" sagt man oft im Geschäftsleben. Die Kinder und Jugendlichen folgen uns Erwachsenen in dieser hektischen Lebensweise. Alles muss man bekommen - und sofort! Eine Schülerin erzählte in einer Tageszeitung ihre Erfahrungen von dem pespektivlosen Leben ihrer Eltern: "Die heutigen Eltern leben" - so schrieb sie - "in einer Instant-Kultur. Sie vollen von dem Leben nur das was angenem ist entgegennehmen. Und das wollen sie sofort bekommen. Sie wollen dann ein Kind auf die Welt bringen, wenn es ihr Leben nicht stört, sie trennen sich, wenn ihnen die Ehe nicht mehr gefällt; sie laden eine neue Partnerin oder einen neuen Partner ein, in userem Heim zu wohnen, ohne darüber nachzudenken, was die Kinder darüber denken. Und dann werfen sie die neuen Freunde und Freundinnen raus, wenn der erste Reiz vorbei ist und das Haus voll ist von schmutzigem Geschirr und Müllsäcken. Die Kinder können nur zuschauen, wie die Eltern ihre menschliche Verhältnisse "erneuern".

Es ist gefährlich, nur in der Realzeit zu leben. Das nimmt leicht den Horizont und die Perspektive aus dem Leben. Die Perspektive für das Leben bedeutet, dass man die Fähigkeit hat zu warten, dass man die Fähigkeit hat, geduldig zu sein, die Fähigkeit, die Zeit so zu nutzen, dass die wichtigen Sachen verinnerlicht werden, die Fähigkeit, die erste Grille abzuwenden, die Fähigkeit zum Zuhören, was gerade jetzt Neues kommt und was Gott alles Neues schafft, was jetzt in dem Horizont aufgeht. Ohne Perspektive zu leben bedeutet auch, dass wir als postmoderne Menschen unhistorisch geworden sind. Nur diese Stunde ist wichtig.

Unser christlicher Glaube ist in seiner Zeitauffassung paradox. Wir müssen diese Stunde bewerten - carpe diem! -, aber gleichzeitig sollen wir vorsichtig sein, nur in dieser Stunde zu leben. Wir sollen auch unsere Zeitgenossen warnen, dass sie sich nicht nur mit der Realität der jetzigen Stunde verbinden; und gleichzeitig müssen wir von dem Gott erzählen, der Neues schafft - schon in der Zukunft, die wir sehen können. Wir müssen die Einmaligkeit der heutigen Entscheidungen und dieser Zeit betonen, aber wir müssen auch gleichzeitig von der Ewigkeitsperspektive sprechen. Leben nur in der Realzeit entfremdet uns von Gott.

Warum ist es so gefährlich nur in der Realzeit zu leben? Vielleicht deswegen, weil es uns blind macht, die grosse Perspektive des Lebens zu sehen. Jeremia, der Profet, mit dem der Verfasser des Briefes an die Hebräer einverstanden ist, braucht gern zwei Worte: "Die Zukunft" und "Die Hoffnung". Gott verspricht uns beides. Leben nur in der Realzeit raubt uns den Glauben. Der Glauben an Gott dagegen gibt uns Hoffnung und Zukunft. Hoffnung und Zukunft im Leben helfen andererseits, Gott zu sehen. Die Zukunft ist Gottes Zukunft. Wenn es überhaupt eine Zukunft ist, ist es Zukunft von Gott. Wenn es überhaupt Hoffnung ist, ist die Hoffnung von Gott gegeben.

Jemand hat konstatiert, dass unsere abendländische Lebensweise heute in irgendeiner Weise geprägt ist von Furcht vor Religion. Das stammt wahrscheinlich zum Teil aus den furchtbaren Ereignissen, die wir während der letzten Monaten verfolgt haben. In diesen Taten ist die Religion missbraucht worden. Die Furcht vor Religion kann auch aus der Tatsache resultieren, dass wir die Leerheit dessen, nur in der Realzeit, in einer perspektivlosen Zeit zu leben erfahren haben. Vielleicht fangen wir an zu ahnen, dass etwas fehlt, aber wir sind noch nicht fertig zu bejahen, was uns fehlt. Unser Gott verspricht, dass er sein Gesetz in unsere Herzen schreiben wird. Wir alle werden Gott erkennen. Dann ist Humanität nicht mehr ohne Divinität.

Pertti Luumi
E-Mail: pertti.luumi@lastenkeskus.fi


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