Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Reminiscere, 24. Februar 2002
Predigt über Hebräer 11, 1.8-10, verfaßt von Kay-Ulrich Bronk

Liebe Gemeinde,

der Glaube ist eine Kraft, der die Menschen seit urdenklicher Zeit bewegt. Er sei „eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtverzweifeln an dem, was man sieht,“ sagt der Hebräerbrief. (Hebr. 11,1) Er bringt Menschen dazu, weiter zu machen, auch wenn die Umstände widrig sind. Er hilft uns aufzustehen, wenn wir gefallen sind. Er macht Hoffnung, wenn die Wirklichkeit bedrohlich ist, er gibt dem Leben Bilder vom Gelingen. Und so treibt er die Geschichten und die Geschichte voran.

Noah und Abraham haben diesen Glauben gehabt, Moses hat ihn gehabt, Paulus, Franziskus und Martin Luther, Dietrich Bonhoeffer und Martin Luther King haben ihn gehabt. Aber auch andere: Mahatma Gandhi oder Willy Brandt. Nicht die nur die frommen Christenmenschen. Eine Wolke von Zeugen umgibt uns, heißt es im Hebräerbrief. (Hebr. 12,1) Sie legen Zeugnis für die Kraft dieses Glaubens ab.

Selig ist jede und jeder, dem diese Kraft gegeben ist. Glücklich ist, wer einen Glauben hat, der ihn antreibt und nach „vorne bringt“,  auch wenn er noch nicht weiß wohin die Fahrt geht.

II.

Abraham brach auf und ging ins Weite. Ein mehrfacher Abschied. Abraham verließ Vater und Mutter, seine Heimat, die vertraute Umgebung, in der er behütet war; er verließ die Weiden, die sein Vieh nährten; die Wege, auf denen er als Junge spielte; die Bäume, in deren Schatten er über sein Leben nachdachte; er verließ die Gerüche, die ihm Heimatgefühl gaben; die Horizonte, die seiner Welt Konturen schenkten. Abraham ließ hinter sich, was sein Denken und Fühlen zutiefst prägte, was seine Anschauungen und sein Wesen formte. Er brach alle Brücken ab. Das war eine Fahrt ohne sichtbares Ziel und Landkarte, ein Tappen ins Dunkle. Rückkehr ausgeschlossen.

„Geh!“ Das ist eine happige Zumutung. Wagnis pur. Einzige Versicherung ist diese Stimme, die sagt: „Geh in ein Land, das ich dir zeigen werde. Dein Name wird groß, und du sollst zum großen Volk werden. Und Du wirst ein Segen sein.“ (vgl. Gen 12,1f)

Der Glaube ist eine Kraft, die dem, der größer als unser Herz ist, (1.Joh 3,20) stillhält. Er duldet keinen Stillstand. Er gibt Ruhe und Muße. Aber er heiligt nicht den Status quo. Die Kraft des Glaubens verlockt oder treibt zum Aufbruch. Wer glaubt, der traut sich Veränderungen und Ortswechsel zu, oder er muss sich ganz einfach aufmachen - einem (inneren) Ruf gehorchend. Das ist nicht unbedingt und jedes Mal geographisch, aber es bedeutet immer den Wechsel des Standpunktes. Manchmal wird daraus eine schweißtreibende Seelenarbeit! Sich zu verändern tut weh. Am Ende aber steht der Segen. Für Abraham: Land, Nachkommen und ein großer Name.

III.

Denk ich an Abraham, dann fällt mir meine Biologielehrerin ein. In meiner sehr jugendlichen Wahrnehmung war sie damals ein reizbarer und wenig großzügiger Mensch. Sie ließ sich von unseren pubertären Albernheiten in Bockshorn jagen. Sie wirkte unzufrieden, kantig und unfreundlich. Ein paar Jahre später brach sie auf. Sie hängte ihren Beruf an den Nagel, zog aufs Land und kaufte mit ihrer Familie ein altes, riesiges Haus, baufällig und abenteuerlich. Lange lebte sie provisorisch im unfertigen Haus. Zu zehnt besuchten wir sie nach dem Abitur. Unangemeldet. Irgendeiner war auf den verwegen Gedanken gekommen. Und wir erlebten einen anderen Menschen. Wir wurden zu einem üppigen Essen am Lagerfeuer gebeten. Wein war da, warme Worte  und ein zugewandtes, freundliches Gesicht. Zu später Stunde wurden wir eingeladen, im Haus zu übernachten, wenn wir wollten. Nichts schien ein Problem oder zuviel zu sein. Alles war von Großzügigkeit und Leichtigkeit durchweht. Meine ehemalige Biologielehrerin war offensichtlich ins Weite gekommen. Saft und Leben waren spürbar: Kraft! Sie war gesegnet und einen Abend lang ein Segen für uns.          

  IV.

Vor zwei Jahren hatten wir in unserem Kirchenkreis eine nordirische Jugendgruppe aus Derry zu Gast. Zwölf Jugendliche. Sechs Protestanten und sechs Katholiken. Feindeskinder. Stolz auf ihre jeweilige Herkunft. Union Jack und irische Trikolore. Zwölf Bürgerkriegskinder jenseits der Barrikaden. Miteinander in der Fremde. Geographisch ging’s von Nordirland nach Nordfriesland. Aber emotional ging es viel weiter: aus der Enge von Vorurteil und Hass in die Weite einer fairen Begegnung. Und in Nordfriesland lernten die Jugendlichen ihre Gemeinsamkeiten kennen. Die Fremde lehrt, den Nachbarn neu zu sehen. Nicht alles gelang. Es war schwierig miteinander. Aber immerhin, man war zusammen, redete, unternahm was, lachte zusammen. Auch das ein Aufbruch aus dem Gewohnten, dem schrecklich Gewohnten. Und dahinter - auch hier - die Kraft eines Glaubens, der sich nicht von Vorfindlichem irre machen lässt. Eine geradezu clowneske Hoffnung auf Versöhnung und Frieden. Nicht stehen bleiben im Elend des Misstrauens und Streits. Weitergehen. Weitermachen. Richtung Frieden.  

  V.                                  

Eine religiöse Frau litt über Jahrzehnte an einer psychischen Erkrankung, an einer Zwangsneurose. Alles, was je mit dem Boden oder mit anderen Menschen in Berührung kam, musste gesäubert werden. Und je mehr sie sich wusch, desto unreiner fühlte sie sich. Ging sie aus dem Haus, musste sie drei- vier- fünf- mal kontrollieren, ob der Herd aus war, ob sie abgeschlossen hatte, ob sie tatsächlich alles eingesteckt hatte, was sie mitnehmen wollte. Wieder und wieder. Die Tage waren in der Gewalt eines entsetzlichen Zwanges. Ein tiefsitzender Zweifel an sich selbst war zum Lebensprinzip geworden, unsäglicher Druck lastete auf der Frau. Nur wenn sie sich und ihre Welt immer wieder kontrollierte, konnte sie sich für ein paar Momente von diesem Druck befreien. Über Jahrzehnte war ihre Seele gefangen.

Aber irgendwann wollte sie heraus. Sie wollte sich nicht erstarren lassen. Sie entdeckte sie diese Kraft, dieses Nichtverzweifeln, diese Hoffnung gegen jede Chance. Sie kämpfte sich mit der Hilfe eines Therapeuten frei und kam ins Weite, in ein verheißenes Land. Sie schüttelte das enge Korsett, in dem ihre Seele steckte, ab. Eines Tages ging sie zwischen Wiesen spazieren. Sie überlegte sich, ob sie sich trauen sollte, einen Strauß Blumen zu pflücken. Erde und Gräser zu berühren, war bislang unvorstellbar gewesen. Aber sie warf ihr Herz über die Hürde und pflückt sich einen Strauß. Sie wählte die Gräser nach Schönheit aus und nicht nach dem Gradmesser von Sauberkeit und Verschmutzung. In einem Jahre später geschriebenen Buch schreibt sie darüber: „Und was dann geschah, ist unvorstellbar! Ich pflückte mit einer Gelöstheit und einem Glücksgefühl, immer nur die schönsten Gräser aussuchend, kein Mensch könnte mitvollziehen, was ich da empfand. Nun hatte ich also meinen Gräserstrauß in den Händen. Ich konnte nicht mehr am mich halten und weinte, es war ein maßlos befreiendes Weinen, mehr ein Schluchzen – und so viel Glück dabei!“1 Auch hier: Glaube als eine Kraft, die Aussicht auf Leben und Land gibt, Glauben als ein sich Aufrichten, ein Aufstehen Richtung Freiheit.          

                                                                  VI.

Es gibt eine Kraft, die seit urdenklicher Zeit die Menschen bewegt und Geschichte macht. Die Geschichten sind verschieden. Nicht alle sind dramatisch. Aber unausweichlich werden uns Aufbrüche zugemutet, die Glauben brauchen, die den Glauben des alten Nomaden, Abraham, brauchen.

Abraham ist zum Urbild des Glaubens geworden. Sein Auszug ist das Urdatum des Glaubens für Juden, Christen und Muslime. Es erzählt davon, dass ich Gottes Verheißung trauen kann, dass ich davon ausgehen darf, dass Gott mir nahe wird, wenn ich mich ins Ferne wage. Zu glauben heißt, sich von Gott verändern zu lassen. Ein neuer Mensch zu werden. Den alten Adam hinter sich lassen und ein Organ am Leibe Christi werden. Zu glauben heißt, Veränderungen riskieren und wachsen, sich selbst an Gott verlieren und auf diese Weise der werden, der man in Gottes Augen schon immer war.

Was wäre gewesen, wenn Mahatma Gandhi, die große Seele, wenn Martin Luther King, der fromme Bürgerrechtler, nicht geträumt, gehofft und geglaubt hätten? Was wäre gewesen wenn Martin Luther sich nicht mit aller Kraft auf seinen Glauben geworfen hätte? Was wäre mit unseren alltäglichen Lebensgeschichten, wenn sie keine Spur von Glaubenskraft hätten? Die Geschichte und die Geschichten wären anders verlaufen.  

Abrahams Glaube ist sicherlich kein Thema für Aussteiger. Er ist aber ein Thema für Menschen, die Gottes Führung an sich zulassen und dabei alles überwinden, was sie von seinem Ruf ablenkt - und seien es noch so liebe Gewohnheiten oder noch so festsitzende Krankheiten. Wer das tut, der wird ein Segen sein, weil er Erfahrungen gemacht hat - mit sich und mit Gott, weil er des Menschen Kleinheit kennt, aber auch des Menschen Möglichkeit: den Glauben, der ihn ins Weite führt.

                                                                  VI.

Ob wir mit abrahamitischen Aufbruchserfahrungen aufwarten können? Nicht jeder. Aber hier und da haben wir wohl schon einmal etwas riskiert, manchmal schon auf Glauben hin etwas gewagt. Bisweilen haben wir diese Kraft vielleicht gespürt, die uns heraus- und vorangetrieben hat. Wie auch immer: Aufbrüche liegen hinter uns und Aufbruch liegt noch vor uns. Möglicherweise der entscheidende noch. Trauen wir der Kraft des Glaubens. Wandeln wir in den Spuren der Zeugen. Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ sagt es so.

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und neu beginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
und wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegensenden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!  

Amen


1 Ulrike S./G. Crombach /H. Reinecker, Der Weg aus der Zwangserkrankung, Göttingen 2.Aufl. 1998, Seite 100.

 

Pastor Dr. Kay-Ulrich Bronk
Kirchenstraße 6
25899 Niebüll
E-Mail: kus_bronk@hotmail.com

 

 


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