Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Kantate (4. Sonntag nach Ostern), 28. April 2002
Predigt über Offenbarung 15, 2-4, verfaßt von Paul Kluge

(-> zu den aktuellen Predigten / www.online-predigten.de)


Aktueller Nachtrag nach dem Amoklauf in Erfurt am 26. April:

Freitag, 26. April 2002. Vor Beginn einer Sitzung in Bremen höre ich erstmals von dem Geschehen in Erfurt; einer hat die Nachricht im Autoradio gehört. Von drei oder vier Toten ist die Rede. Sprachlosigkeit unter den Sitzungsteilnehmern.

Nach der Sitzung eile ich zum Bahnhof, um nach Erfurt zu fahren, wo ich am nächsten Morgen eine Sitzung mit der Johanniter-Unfall-Hilfe habe. Der Zug ist ziemlich voll. Bei mir im Abteil einige junge Menschen, Soldatinnen und Soldaten im Wochenende. Manche telefonieren aufgeregt und besorgt mit Müttern und Großmüttern, Freundinnen und Freunden. Den Gesprächen entnehme ich, daß die Telefonierenden nach Erfurt fahren. Höre erstmals die Zahl von 18 Toten. Nach Namen wird gefragt und ob er oder sie unter den Toten sei. Eine junge Frau glaubt, den Täter zu kennen. Außer den Telefonierenden spricht kaum jemand. Immer wieder höre ich die Frage, was in dem Täter vor sich gegangen sein könnte.

In Erfurt auf dem Bahnhof herzliche und, wie mir scheint, erleichterte Begrüßung der dort Wartenden. Mein Taxifahrer korrigiert die Zahl der Toten auf 17. "17 zu viel," sagt er und ist entsetzt, daß solch eine Tat in seiner Stadt, ja, überhaupt in Deutschland geschehen kann.

Am nächsten Morgen, wenige Minuten vor Sitzungsbeginn, werde ich um eine Andacht zu dem schrecklichen Ereignis gebeten. Einige der Anwesenden haben Freunde, Bekannte unter den Opfern und Lehrer ihrer Kinder. Die Tat hat die Menschen die Luft anhalten lassen. Es ist Zeit, wieder Luft zu holen. Den noch nicht aussprechbaren, nicht einmal denkbaren Gefühlen Raum geben. Der Opfer gedenken und der um sie Trauernden. Auch derer, die das Geschehen erleben mußten und überlebt haben. Und es wohl nie vergessen könne. Der Polizisten und Rettungsdienste, die im Einsatz waren, einige davon unter den Anwesenden. Auch den Täter in das Gedenken einbeziehen, seine Angehörigen und Freunde. Ein Opfer vielleicht auch er.

Beim Blättern in der Bibel bleibe ich an Psalm 69 hängen: "Das Wasser geht mir bis an die Kehle." Vielleicht die Situation des Täters. Sicherlich die Situation seiner Opfer. Und nun auch deren Angehörige und Freunde: Die Sinnlosigkeit der Tat macht so hilflos, daß man zu versinken meint. Keinen Grund mehr spürt, der einen trägt. "Ich bin versunken in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist." Eine Teilnehmerin - schwarz gekleidet, ein Freund ihres Mannes ist unter den Toten - läßt still ihre Tränen fließen. Andere sehen mich fragend an. Doch ich habe keine Antworten. Kann auch nur, wie der Psalmist, sagen: "Ich bete zu dir, o Herr, ... Errette mich aus dem Schlamm, daß ich nicht versinke."

Nach einer Zeit der Stille beten wir gemeinsam das Vaterunser. Bringen in ihm vor Gott, was wir mit eigenen Worten nicht sagen können. Das gemeinsame Beten erleichtert die Bedrückung im Sitzungssaal. Doch wir können nicht, noch nicht zur Tagesordnung übergehen und vertagen die Sitzung auf unbestimmte Zeit. Die Begegnung mit plötzlichem, unerwartetem Sterben, wie es jeden von uns überall treffen kann, macht Rechenschaftsberichte und Haushaltsplanung zu aufschiebbaren Nebensachen. "Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen. Wer ist, der uns Hilfe bringt, daß wir Gnad erlangen? Das bist du, Herr, alleine."

Paul Kluge
Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk
in der Kirchenprovinz Sachsen, Magdeburg
Paul.Kluge@t-online.de

 

Predigt zu Kantate:

Der Predigttext enthält eine Reihe direkter und indirekter alttestamentliche Zitate. Aneinandergefügt, ergeben diese einen kurzen Psalm:

Groß sind die Werke des Herrn, denkwürdig für alle, die daran gefallen haben.
Der Herr ist gerecht in allen seinen Wegen und gnädig in all seinem Tun.

Wer sollte dich nicht fürchten, König der Völker? Denn das gebührt dir; ist doch unter allen Weisen der Heiden keiner dir gleich.

Alle Völker, die du geschaffen, werden kommen und vor dir anbeten, werden deinen Namen ehren.

O Herr, du meine Stärke, mein Hort, meine Zuflucht am Tage der Not! Zu dir werden die Heiden kommen von den Enden der Erde.

(Zürcher Übersetzung)

Die folgende Predigt werde ich in der Kirche einer Diakonischen Einrichtung halten. Der Gottesdienst wird ins Krankenhaus, in Behinderten- und Altenheim übertragen.

Liebe Geschwister,

im Wald, da sind die Räuber, und darum pfeifen oder singen die Leute im Wald. Besonders, wenn er dunkel ist. Denn pfeifen und singen macht Mut.

Als der Seher die Johannisoffenbarung schrieb, muß es ihm ähnlich gegangen sein, und wie ihm ging es damals fast allen Christen. Wohl deshalb schrieb er den für heute vorgeschlagenen Predigttext: Offb 15, 2 - 4 ...

Nach der Überlieferung hieß dieser Seher Johannes. Er soll nach Patmos verbannt gewesen sein, eine kleine Insel vor der Türkischen Küste. Er muß wohl ein bekannter und bedeutender Mann der ganz frühen Kirche gewesen sein, daß er verbannt wurde. Andere Christen in jener Zeit kamen ins Gefängnis, mußten gegen wilde Tiere kämpfen oder wurden gleich gekreuzigt. Johannes - ich bleibe bei dem Namen - blieb immerhin am Leben. Ab und zu kamen Schiffe nach Patmos, und manchmal hatte einer der Schiffer einen Brief für Johannes, und manchmal auch ein Paket für ihn oder Geld. Geld war ihm lieber: Wenn er, was er brauchte, auf der Insel kaufen konnte, lernte er Leute kennen. Das tat gut, denn oft fühlte er sich sehr einsam. Viele seiner Freunde waren inzwischen gestorben, manche durch die staatlich angeordnete, zumindest geduldete Verfolgung von Christen, manche an unheilbaren Krankheiten, andere an Altersschwäche. Die vielen Dienstreisen, die er früher hatte machen müssen, waren ihm mit der Zeit beschwerlich geworden, doch hier, verbannt auf das kleine Patmos, vermißte er das Reisen doch sehr.

So gut es ging, hielt er die Verbindung zu den Gemeinden auf dem Festland und schrieb ihnen ab und an Briefe. Versuchte, sie bei der Stange zu halten, daß sie durchhielten trotz der Verfolgungen. Vor allem aber, daß sie in ihrer Angst vor Verfolgung nicht schon von der Fahne liefen. Das jedoch kam immer wieder vor, daß Christen aus der Angst, ihnen könnte Schlimmes und Böses geschehen, sich von der Gemeinde entfernten, sich nicht mehr zu ihrem Glauben bekannten.

Jedesmal, wenn er von solch einem Fall hörte, überkam ihn eine Trauer. Er wurde nicht wütend und nannte das auch nicht Verrat, wie manche andere das taten. Johannes wurde traurig. Denn er wußte, wie Angst auf Menschen wirken kann, was sie aus ihnen machen kann. Angst vor Leiden, Angst vor Schmerzen, Angst vor dem Sterben. Und daß, wer Angst hat, allein oft nichts dagegen tun kann.

Ihm selber war ja Angst nicht fremd, und nachdem man ihn damals verhaftet hatte, war sie fast stärker gewesen als sein Glaube. Aus Angst vor Folter, vor Schmerzen und Erniedrigung war er versucht gewesen, seinem Glauben abzusagen. Doch sie hatten ihn nicht gefoltert, sondern "nur" verbannt. Hatten ihm damit seinen Einfluß auf die Leute nehmen, ihn mundtot machen wollen, indem sie ihn abschoben.

Nun hatte er viel Zeit nachzudenken, über sein eigenes Leben, über die Situation der christlichen Gemeinden, über die Lage im Römischen Reich. Dies hatte, so schien ihm, seinen Höhepunkt überschritten. Die Herrscher versuchten krampfhaft und mit Gewalt, die einstige Größe festzuhalten. Bekämpften alles, was nicht in ihr System paßte, was sie als störend empfanden. Vor allem neue Ideen, wie die Christen sie hatten: Keinen Herrscher außer ihrem Gott erkannten die an und verweigerten doch tatsächlich dem Kaiser den Gehorsam; keinen Unterschied machten die zwischen oben und unten, und bei denen redeten Sklaven und Freie sich als Geschwister an. Das konnte der Staatsordnung gefährlich werden, und darum wurden die Christen verfolgt.

Dabei erwiesen manche sich als äußerst tapfer und mutig, was den Staat und seine Handlanger noch mehr verunsicherte. Daß die Mehrzahl der Christen nicht so mutig war, daß nicht wenige große Angst hatten, nahmen die Staatsdiener nicht zur Kenntnis. Den Verängstigten aber wollte Johannes Mut machen. Etwa mit dem Hinweis, daß dieser brutale Staat nicht ewig bestehen würde und daß es bereits Zeichen des Niedergangs gäbe. Und damit, daß auch staatliches Unrecht bestraft wird. Daß Gott das Gute für die Menschen will und die Übeltäter seinen Zorn zu spüren bekommen. Das hatte doch die Geschichte immer wieder gezeigt, daß jede Unrechtsherrschaft kläglich unterging. Zwar hatte das manches mal lange gedauert, und viele Menschen hatten unter dem Unrecht leiden müssen, waren ihm zum Opfer gefallen. Doch am Ende waren die Tyrannen gefallen, am Ende hatten Freiheit und Menschlichkeit gesiegt. Auf jeden Fall, da war Johannes sich sicher, würde das letzten Endes so sein.

Bis dahin galt es durchzuhalten, auszuhalten. Bis dahin war den Leidenden immer wieder zu sagen, daß jedes Leiden ein Ende hat. Daß auf jeden Karfreitag ein Ostern folgt.

In seiner Verbannung, in seiner Einsamkeit, in seinen Sorgen um die Gemeinden, in seinen eigenen Ängsten und Zweifeln hatte Johannes immer wieder die heiligen Schriften gelesen, etwa die Propheten. Dabei schien ihm, das alles schon mal da war, was er zur Zeit erlebte. Vom Auszug aus Ägypten las er gern, denn das gab ihm Hoffnung. Besonders gern aber las er im Psalter: Diese alten Lieder gaben ihm so viel Trost und gleichzeitig so viel Mut, daß stiller Friede über ihn kam, wenn er sie las oder sang. Manchmal am Ufer des Meeres, und manchmal unter einem alten Baum am Hang eines Berges. Dort saß er gern ganz früh morgens, sah über dem Festland die Sonne aufgehen und dachte an die Gemeinden. Bei besonders klarer Sicht konnte er Milet erkennen. Und Ephesus, wo er gelebt hatte. Dann sang er den einen oder anderen Psalm laut übers Meer und hatte das Gefühl, die Gemeinden dort würde ihn hören, würde Mut schöpfen aus seinen Liedern, aus den Liedern der Bibel. Würden einstimmen in diese Lieder gegen die Angst vor dem Leiden, in diese Lieder vom Sieg Gottes über alles Unrecht, über Schmerz und Geschrei und gewaltsamen Tod, in diese Lieder für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden. Und dann dachte er an Frieden zwischen Menschen und Völkern, dachte an Frieden von Menschen mit sich selbst und ihrem Leben, dachte an den Frieden von Menschen mit Gott. Und spürte: Das Singen der Psalmen bestärkte ihn darin, daß es so werden würde.

In solchen Augenblicken konnte er jedes Dunkel vergessen, die Bedrohung der Gemeinden und das Dunkel seiner Lebenslage der Verbannung an diesen abgeschiedenen Ort. Manchmal konnte er sich sogar auf das freuen, was danach kommen könnte, oder, wie ihm sicher war, kommen würde. Die Psalmen sagten ihm das.

Amen

Gebet:
Gott, wie schön es ist! Alles sprießt und blüht auf, es zwitschert und singt zu deiner Ehre. Wir können nur einstimmen in den Jubel der Natur. Denn Licht ist in die dunkle, Wärme in die kalte Welt gekommen, alles erwacht zu neuem Leben. Da können wir nur mit einstimmen, uns unseres Lebens, vor allem aber deiner Größe und Güte freuen.
Doch manchmal, guter Gott, gibt es Ereignisse, die es uns das Singen schwer machen, Ereignisse in unserem Leben, Ereignisse in der Welt. Wir bitten dich deshalb: Bewahre uns davor, auf die Schatten zu blicken und das Licht nicht mehr zu sehen. Und wo es für jemanden ganz dunkel ist, da schenke du Lichtblicke. Laß uns gegen alles Bedrohliche ansingen, daß wir unsre Angst überwinden, daß wir Mut bekommen und behalten. Denn du hast den Tod überwunden, du hast das Leben zum Sieg geführt. Dafür danken wir dir mit Herzen, Mund und Händen. Amen.
(aus: Ideenbörse Sonntagspredigt, Vlg: mvg)

Liedvorschlag
Lobt Gott getrost (Wochenlied) EG 243; Du meine Seele, singe, EG 302; Erd und Himmel sollen singen, EG 499; Laudato si, EG 515

Paul Kluge, Magdeburg
Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk
in der Kirchenprovinz Sachsen
Paul.Kluge@t-online.de

 


(zurück zum Seitenanfang)