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Rogate (5. Sonntag
nach Ostern), 5. Mai 2002 |
Liebe Gemeinde! Im Gebet mit Gott zu reden - das ist ein großer Reichtum. An Gott als Gegenüber wenden sich Menschen im Glauben mit ihren äußeren und inneren Verletzungen, mit ihrer Erschütterung und Trauer, in Betroffenheit und Ratlosigkeit. Klage und Schreien finden im Gebet Worte, sie werden zu Signalen für die anderen. Zugleich sollen sie dazu dienen, das innere Gleichgewicht wieder zu finden und Hilfe von Gott zu erhoffen. Wir stehen nach der vergangenen Woche heute unter dem Eindruck der Bluttat
des Jugendlichen am Erfurter Gutenberg-Gymnasium vom 26. April, dem Tag
der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Wieder, wie in letzter Zeit so
oft, haben viele Menschen Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet
sich in Gottesdiensten zum Beten versammelt - Gläubige und Nicht-Gläubige,
aber Fragende und Suchende. Antworten, vor allem schnelle oder einfache
Antworten, sind nicht zu bekommen, aber: Wenn wir nicht beten können,
weil die eigene Kraft verschüttet ist, merken wir die große
Leere in uns und um uns. Vielleicht wird sogar auch derjenige, dem Gott
bisher unbekannt geblieben ist, sich in der Not auf die Suche nach diesem
rätselvollen Gott begeben und ein Zeichen der Hilfe von ihm erwarten.
Besonders seit der Wendezeit 1989 gibt es Erfahrungen von dem, was Gebete
bewirken können. Die "Revolution der Kerzen" hat einen
großen Anteil an der friedlichen Veränderung der Verhältnisse,
am Sieg über die Anwendung von Macht und Gewalt. Beispiele dafür
gibt es auch weltweit, wie bei der Überwindung der Apartheid in Südafrika,
aber noch nicht überall, wo sie nötig wären, wie in den
Konfliktherden des Nahen Ostens und Asiens. Ist die Not vorbei - dann bricht oft das Gespräch mit Gott ab. Eine junge Mutter erzählte mir im Rückblick auf die Erfahrungen bei der Geburt ihres Kindes: "Während der Wehen habe ich gerufen: Lieber Gott, hilf mir! Als das Kind geboren war, alles überstanden war und das Kind in meinen Armen lag, bin ich nicht einmal auf die Idee gekommen, Gott zu danken." Ist das dunkle Tal durchschritten und die Not vergessen, ist keine Zeit mehr für das Gespräch mit Gott. Aber was wären das für Gespräche ohne die Mitteilung von Freude und Dank, Gott gegenüber in der Sprache des Lobens und der Anbetung. Die jüdisch-christliche Tradition hat in ihren Psalmen, Liedern und Gebeten sowohl der Klage wie dem Lob gegenüber Gott immer wieder Sprache geben können. Der Predigttext ist für diesen Sonntag vorgeschlagen, weil er von
einer unglaublichen Kraft des Betens erzählt. Er steht 2. Mose 32
im Zusammenhang des Auszugs Israels aus Ägypten. In die Auszugsgeschichte Israels ist die "Sinaitradition" eingebettet: der Bundesschluss Gottes mit seinem Volk und der Übergabe der zehn Worte, nach denen das Leben geregelt werden soll. Um die Gebote Gottes in Empfang zu nehmen, muss sich der Vermittler Mose von seinem Volk trennen, muss er allein auf den Berg, der ihn verbirgt, weil er Gott begegnet. Die Zeit seiner Abwesenheit wurde lang. Für das Volk am Fuß des Berges war die Leitfigur, der Ansprechpartner und der Verantwortliche verschwunden. Ob er überhaupt noch am Leben war? Diese Unsicherheit wurde unerträglich. Wie kann man sie überwinden? "Wir machen uns Gott sichtbar. Wir können das selbst", so sprachen sie. Da wurde aus den mitgeführten Schätzen schnell ein Bild gemacht, ein sichtbarer Gott, den man nun anbeten und feiern konnte. Aaron, der Vertreter der priesterlichen Macht und des religiösen Kultes, hatte dem nichts entgegenzusetzen, im Gegenteil: er wurde zum Handlanger des Volkes, der zu Opfer und Freudenfest aufruft: "Wir haben es geschafft, wir haben Gott selbst gemacht. An dem, was wir sehen, können wir uns wieder ausrichten!" Während das Volk unten in der Ebene feiert, redet Gott in der Höhe
mit Mose. (1) Anlass des Betens: Gottes Entschlüsse (2) Die Kraft des Betens: Gott umstimmen! Es sind zwei Argumente, die Mose vorbringt: Was sollen die anderen Völker, vor allem die Ägypter sagen, wenn Gott das eigene Volk umbringt, das er zuvor mit höchstem Einsatz befreit hat? Würde er sich damit nicht selbst unglaubwürdig machen, seine Ehre vor den Völkern aufs Spiel setzen? Durch die geglückte Flucht aus der Sklaverei hat der Gott Israels sich Ansehen bei den Ägyptern erworben. Wenn dieses Glück für Israel in Unglück gekehrt würde, wäre nicht jeder Glaube, jede Einsicht in das Wirken Gottes verloren? Der Unglaube würde verstärkt, der sich bei jedem Unglück bis zur Gegenwart immer wieder ausspricht: "An einen Gott, der das zulässt, kann ich nicht glauben". Dennoch ist das Argument nicht stark: Sollte Gott wirklich eine Rechtfertigung auf Grund des Bösen nötig haben? Bringt nicht das eigene Verschulden der Menschen sie selbst ins Unglück, missbrauchen sie nicht ihre Freiheit, indem sie sich nicht an Gottes Gebot halten? Es muss noch ein weiteres Argument dazutreten: Gott muss bei seinem eigenen Wort und Willen behaftet werden: Deshalb erinnert Mose Gott an die früher gegebenen Verheißungen: an Israels Väter Abraham, Isaak und Israel. Sie sollen doch ein großes Volk werden. Sie sollen ein Land erben, das ihnen bis in Ewigkeit gehören soll. Weil Mose sich an Gottes eigene Verheißung hält und auf sein Wort verlässt, kann er für sein Volk bitten, vor Gott beten um seine Rettung, sein Weiterleben. Nicht allein die bisher gemachten Erfahrungen sind Ausgangspunkt für seine Fürbitte, da gäbe es ja auch genug negative Erfahrungen, in denen Gott anders gehandelt hat, als Mose es wollte. Nein, Mose verlässt sich auf die ganz einseitige Zusage der Lebensverheißungen Gottes. Dieses Vertrauen, dieser Glaube stimmt Gott um! Gott lässt sich durch das Gebet des Menschen Mose zur Umkehr bewegen vom Zorn zur Gnade. Gott gereut etwas, er revidiert seinen ersten Entschluss! So menschlich nahe rückt uns Gott, dessen Handeln uns oft unbegreiflich erscheint, und er macht uns vor, was uns als Schwäche ausgelegt wird: Um des Lebens und der Wahrheit willen auch von gefaßten Entschlüssen zurückzutreten. Das Volk Israel erhielt die Chance zum Weiterleben. Menschen erhalten die Chance, Gottes Angebot zum Leben zu suchen und so die Gegenwart des unsichtbaren Gottes wahrzunehmen. (3) Der Sinn des Betens: Mit Gott ringen und die Welt verändern Was ist das für ein Gott, der sich von Menschen beeinflussen läßt? Er ist nicht unbeweglich und starr, kein unbekanntes Es oder das unabwendbare Schicksal. Das Beispiel des Mose zeigt, dass er ein lebendiger Gott ist, der mit jedem Menschen in einer lebendigen Beziehung steht, der das sucht und will. So wie Menschen sich durch das Bitten anderer bewegen lassen, etwas zu tun oder nicht zu tun, so ist es auch bei Gott. Trotz festgelegter Vorgaben für menschliches Leben läßt er sich durch Bitten und Fürbitten bewegen, das Leben über das Zerstörerische siegen zu lassen. Da Gott Heil und Leben für uns will und das durch Jesus Christus in die Tat umgesetzt hat, können wir ihn daran erinnern. Das Schwierige für uns ist allerdings, dass wir dieses Tun Gottes nicht an der Geschichte ablesen können, nicht in unserem Handeln vorfinden. Gegenüber dem ersten Argument von Mose müssen wir erkennen, dass wir uns den Weg zum Leben oft selbst verbauen - mit unseren egoistischen Wünschen, mit unseren Machtstrukturen, die wir erhalten wollen. Ich kehre an den Anfang zurück. Der Einwand gegen das Beten, im gewöhnlichen Alltag gäbe es keine Zeit, entspricht zwar der hektischen Realität unseres Alltags. Dagegen steht aber: Unser Reden mit Gott ist an keine Zeit und keinen Ort gebunden. Es gibt viele Gelegenheiten des Wartens - im Stau, an der Kasse im Supermarkt und wenn der Körper sagt: jetzt mach mal Pause. Da gibt es Zeit zum Nach-Denken vor Gott über Ereignisse und Erlebnisse und die Gedanken in Worte zu fassen an Gottes Adresse. "Die Hände, die zum Beten ruhn, die macht er stark zur Tat. Und was der Beter Hände tun, geschieht nach seinem Rat" - so sagte es Jochen Klepper in dem Mittagslied "Der Tag ist seiner Höhe nah" (EG 457, 11). Erst recht können Menschen, die wie ich im Ruhestand leben und nicht mehr in den Arbeitsprozess eingespannt sind, die wichtige Arbeit der Fürbitte für andere Menschen übernehmen. Hier ist Zeit, auch über Monate hin beharrlich Anliegen vorzubringen und durchzuhalten in der Hoffnung, dass das Beten seine erstaunliche Kraft und Wirkung entfalten kann. Dieses Ringen mit Gott ist eine Bereicherung des Lebens, an dem wir teilhaben können, auch wenn wir uns ohne Arbeitsstelle vom Klima der Gesellschaft her im "Aus" befinden. Dann können sich Klage und Fürbitte sogar in Dank und Lob verwandeln für die erfahrene Veränderung und Hilfe und die Freude über Gott zum Ausdruck bringen, dass er sich als gegenwärtig und lebendig erweist. Als Betende können wir auch heute einstimmen in die Worte des Sängers aus dem 16. Jahrhundert: "Wenn wir dich haben, kann uns nicht schaden Teufel, Welt, Sünd oder Tod; du hast´s in Händen, kannst alles wenden, wie nur heißen mag die Not. Drum wir dich ehren, dein Lob vermehren mit hellem Schalle, freuen uns alle zu dieser Stunde. Halleluja. Wir jubilieren und triumphieren, lieben und loben dein Macht dort droben mit Herz und Munde. Halleluja. (EG 398, 2). Amen. Charlotte Hoenen, Superintendentin i.R. |
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