Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Rogate (5. Sonntag nach Ostern), 5. Mai 2002
Predigt über 2. Mose 32, 7-14, verfaßt von Charlotte Hoenen

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Liebe Gemeinde!

Im Gebet mit Gott zu reden - das ist ein großer Reichtum. An Gott als Gegenüber wenden sich Menschen im Glauben mit ihren äußeren und inneren Verletzungen, mit ihrer Erschütterung und Trauer, in Betroffenheit und Ratlosigkeit. Klage und Schreien finden im Gebet Worte, sie werden zu Signalen für die anderen. Zugleich sollen sie dazu dienen, das innere Gleichgewicht wieder zu finden und Hilfe von Gott zu erhoffen.

Wir stehen nach der vergangenen Woche heute unter dem Eindruck der Bluttat des Jugendlichen am Erfurter Gutenberg-Gymnasium vom 26. April, dem Tag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Wieder, wie in letzter Zeit so oft, haben viele Menschen Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet sich in Gottesdiensten zum Beten versammelt - Gläubige und Nicht-Gläubige, aber Fragende und Suchende. Antworten, vor allem schnelle oder einfache Antworten, sind nicht zu bekommen, aber: Wenn wir nicht beten können, weil die eigene Kraft verschüttet ist, merken wir die große Leere in uns und um uns. Vielleicht wird sogar auch derjenige, dem Gott bisher unbekannt geblieben ist, sich in der Not auf die Suche nach diesem rätselvollen Gott begeben und ein Zeichen der Hilfe von ihm erwarten. Besonders seit der Wendezeit 1989 gibt es Erfahrungen von dem, was Gebete bewirken können. Die "Revolution der Kerzen" hat einen großen Anteil an der friedlichen Veränderung der Verhältnisse, am Sieg über die Anwendung von Macht und Gewalt. Beispiele dafür gibt es auch weltweit, wie bei der Überwindung der Apartheid in Südafrika, aber noch nicht überall, wo sie nötig wären, wie in den Konfliktherden des Nahen Ostens und Asiens.
Klage und Fürbitte vor Gott - sie fordern Zeit, Anspannung und Kraft - ja intensivste innere Arbeit.

Ist die Not vorbei - dann bricht oft das Gespräch mit Gott ab. Eine junge Mutter erzählte mir im Rückblick auf die Erfahrungen bei der Geburt ihres Kindes: "Während der Wehen habe ich gerufen: Lieber Gott, hilf mir! Als das Kind geboren war, alles überstanden war und das Kind in meinen Armen lag, bin ich nicht einmal auf die Idee gekommen, Gott zu danken." Ist das dunkle Tal durchschritten und die Not vergessen, ist keine Zeit mehr für das Gespräch mit Gott. Aber was wären das für Gespräche ohne die Mitteilung von Freude und Dank, Gott gegenüber in der Sprache des Lobens und der Anbetung. Die jüdisch-christliche Tradition hat in ihren Psalmen, Liedern und Gebeten sowohl der Klage wie dem Lob gegenüber Gott immer wieder Sprache geben können.

Der Predigttext ist für diesen Sonntag vorgeschlagen, weil er von einer unglaublichen Kraft des Betens erzählt. Er steht 2. Mose 32 im Zusammenhang des Auszugs Israels aus Ägypten.
Mose war von Gott beauftragt, das Volk aus der Sklaverei in Ägypten in die Freiheit zu führen, in ein noch unbekanntes Land. Auf der unwegsamen Wüstenwanderung, auf der die Ziele immer weiter weg zu rücken schienen, musste Mose in Konflikte geraten und angefragt werden: Auf der einen Seite der Auftrag Gottes, den er zu vermitteln hatte - auf der anderen Hunger und Durst des Volkes, Murren und Protest. Nicht nur einmal wird vom Gebetskampf des Mose um die Gewißheit berichtet: Um der Freiheit willen lohnen sich Verzicht und Strapazen. Der unsichtbare Gott ist mit uns und führt uns ans Ziel in das verheißene Land.

In die Auszugsgeschichte Israels ist die "Sinaitradition" eingebettet: der Bundesschluss Gottes mit seinem Volk und der Übergabe der zehn Worte, nach denen das Leben geregelt werden soll. Um die Gebote Gottes in Empfang zu nehmen, muss sich der Vermittler Mose von seinem Volk trennen, muss er allein auf den Berg, der ihn verbirgt, weil er Gott begegnet. Die Zeit seiner Abwesenheit wurde lang. Für das Volk am Fuß des Berges war die Leitfigur, der Ansprechpartner und der Verantwortliche verschwunden. Ob er überhaupt noch am Leben war? Diese Unsicherheit wurde unerträglich. Wie kann man sie überwinden? "Wir machen uns Gott sichtbar. Wir können das selbst", so sprachen sie. Da wurde aus den mitgeführten Schätzen schnell ein Bild gemacht, ein sichtbarer Gott, den man nun anbeten und feiern konnte. Aaron, der Vertreter der priesterlichen Macht und des religiösen Kultes, hatte dem nichts entgegenzusetzen, im Gegenteil: er wurde zum Handlanger des Volkes, der zu Opfer und Freudenfest aufruft: "Wir haben es geschafft, wir haben Gott selbst gemacht. An dem, was wir sehen, können wir uns wieder ausrichten!"

Während das Volk unten in der Ebene feiert, redet Gott in der Höhe mit Mose.
Damit setzt der folgende Predigttext 2. Mose 32, 7-14 ein:
"V. 7: Der Herr sprach aber zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägypten geführt hast, hat schändlich gehandelt.
V.8: Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben`s angebetet und ihm geopfert und gesagt: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat.
V. 9: Und der Herr sprach zu Mose: Ich sehe, dass es ein halsstarriges Volk ist.
V. 10: Und nun laß mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie vertilge; dafür will ich dich zum großen Volk machen.
V. 11: Mose aber flehte vor dem Herrn, seinem Gott, und sprach: Ach, Herr, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast?
V. 12: Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem grimmigen Zorn und laß dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst.
V. 13: Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig.
V. 14: Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte."

(1) Anlass des Betens: Gottes Entschlüsse
Da steht also Mose allein vor Gott, verlassen von seinem Volk, das er führen sollte. Er steht dem Gott gegenüber, der vor Zorn brennt, weil dieses Volk sich von Gott abwandte, weil es ihn, Mose, nur eine kurze Zeit nicht sah, deshalb verging es sich gegen das Bilderverbot. Keine Macht der Welt konnte es von seinem Vorhaben abbringen, hartnäckig ist das Volk geworden, halsstarrig - sagt Gott. Mit steifem Nacken starren sie auf das selbstgemachte Bild, das sie für Gott halten und von dem sie ausgerechnet Orientierung in der Wüste erwarten. Gottes Beschluss ist unausweichlich: Mit diesem Volk ist es aus, Ende, Schluss! Dieses Volk ist nicht mehr Gottes Volk, darum wird es vom Erdboden vertilgt.
Doch Gottes Geschichte soll damit nicht zu Ende sein, mit Mose soll ein neuer Anfang gemacht werden. Gott bietet Mose an: Ich will dich zum großen Volk machen! Eine besondere Ehre, eine Anerkennung und Auszeichnung für Mose! Es klingt wie eine Versuchung, die Versuchung zur Macht, zur Berühmtheit, zum "Eingehen in die Geschichte". Doch Mose lässt sich sogar von Gott nicht verführen! Er lehnt ab, geht mit keinem Wort darauf ein. Er hat anderes im Sinn: Der Entschluss Gottes mit seinem Volk darf auf keinen Fall Wirklichkeit werden. - Stellen wir uns heute einen Augenblick vor, wie die Weltgeschichte verlaufen wäre ohne dieses Volk Gottes? -

(2) Die Kraft des Betens: Gott umstimmen!
Mose gibt sich nicht vor Gott geschlagen, sondern lässt sich darauf ein, mit ihm zu ringen: Das wäre nicht das erste Mal: damals war es Jakob, der seine körperlichen Kräfte einsetzte und so einer der Väter des Volkes wurde: "Israel - der mit Gott gekämpft hat" (1. Mose 32, 29). Für Mose geht es um die Kraft der Worte, die ihre Kraft gerade aus dem Vertrauen auf Gott selbst schöpfen! Das Vertrauen setzt nicht auf den erbarmungslosen Zorn, sondern auf gnädige Zuwendung, die Böses zum Guten wenden kann. Beten ist offensichtlich das Streiten mit Gott - um Gottes Geltung, darum müssen wir Menschen auch mit Gott selbst ringen.

Es sind zwei Argumente, die Mose vorbringt: Was sollen die anderen Völker, vor allem die Ägypter sagen, wenn Gott das eigene Volk umbringt, das er zuvor mit höchstem Einsatz befreit hat? Würde er sich damit nicht selbst unglaubwürdig machen, seine Ehre vor den Völkern aufs Spiel setzen? Durch die geglückte Flucht aus der Sklaverei hat der Gott Israels sich Ansehen bei den Ägyptern erworben. Wenn dieses Glück für Israel in Unglück gekehrt würde, wäre nicht jeder Glaube, jede Einsicht in das Wirken Gottes verloren? Der Unglaube würde verstärkt, der sich bei jedem Unglück bis zur Gegenwart immer wieder ausspricht: "An einen Gott, der das zulässt, kann ich nicht glauben". Dennoch ist das Argument nicht stark: Sollte Gott wirklich eine Rechtfertigung auf Grund des Bösen nötig haben? Bringt nicht das eigene Verschulden der Menschen sie selbst ins Unglück, missbrauchen sie nicht ihre Freiheit, indem sie sich nicht an Gottes Gebot halten?

Es muss noch ein weiteres Argument dazutreten: Gott muss bei seinem eigenen Wort und Willen behaftet werden: Deshalb erinnert Mose Gott an die früher gegebenen Verheißungen: an Israels Väter Abraham, Isaak und Israel. Sie sollen doch ein großes Volk werden. Sie sollen ein Land erben, das ihnen bis in Ewigkeit gehören soll.

Weil Mose sich an Gottes eigene Verheißung hält und auf sein Wort verlässt, kann er für sein Volk bitten, vor Gott beten um seine Rettung, sein Weiterleben. Nicht allein die bisher gemachten Erfahrungen sind Ausgangspunkt für seine Fürbitte, da gäbe es ja auch genug negative Erfahrungen, in denen Gott anders gehandelt hat, als Mose es wollte. Nein, Mose verlässt sich auf die ganz einseitige Zusage der Lebensverheißungen Gottes. Dieses Vertrauen, dieser Glaube stimmt Gott um! Gott lässt sich durch das Gebet des Menschen Mose zur Umkehr bewegen vom Zorn zur Gnade. Gott gereut etwas, er revidiert seinen ersten Entschluss! So menschlich nahe rückt uns Gott, dessen Handeln uns oft unbegreiflich erscheint, und er macht uns vor, was uns als Schwäche ausgelegt wird: Um des Lebens und der Wahrheit willen auch von gefaßten Entschlüssen zurückzutreten. Das Volk Israel erhielt die Chance zum Weiterleben. Menschen erhalten die Chance, Gottes Angebot zum Leben zu suchen und so die Gegenwart des unsichtbaren Gottes wahrzunehmen.

(3) Der Sinn des Betens: Mit Gott ringen und die Welt verändern
Im Blick auf diese Geschichte ist es für uns ermutigend: Es lohnt sich, mit Gott zu ringen. Ein einzelner hat durch seine Fürbitte das Leben seines ganzen Volkes gerettet. Auch wir können alles, was uns beschwert vor Gott bringen für uns, für andere und für unser Volk und unsere Welt im Vertrauen auf sein lebenschaffendes Wort. Nicht jede Bitte und Fürbitte werden erhört. Das besagt unsere Erfahrung. "Ich habe so gebetet, aber es hat nichts genützt!" Aber nicht unsere vergangenen positiven oder negativen Erfahrungen sind Ausgangspunkt für unser Beten, sondern Gott selbst.

Was ist das für ein Gott, der sich von Menschen beeinflussen läßt? Er ist nicht unbeweglich und starr, kein unbekanntes Es oder das unabwendbare Schicksal. Das Beispiel des Mose zeigt, dass er ein lebendiger Gott ist, der mit jedem Menschen in einer lebendigen Beziehung steht, der das sucht und will. So wie Menschen sich durch das Bitten anderer bewegen lassen, etwas zu tun oder nicht zu tun, so ist es auch bei Gott. Trotz festgelegter Vorgaben für menschliches Leben läßt er sich durch Bitten und Fürbitten bewegen, das Leben über das Zerstörerische siegen zu lassen. Da Gott Heil und Leben für uns will und das durch Jesus Christus in die Tat umgesetzt hat, können wir ihn daran erinnern. Das Schwierige für uns ist allerdings, dass wir dieses Tun Gottes nicht an der Geschichte ablesen können, nicht in unserem Handeln vorfinden. Gegenüber dem ersten Argument von Mose müssen wir erkennen, dass wir uns den Weg zum Leben oft selbst verbauen - mit unseren egoistischen Wünschen, mit unseren Machtstrukturen, die wir erhalten wollen.

Ich kehre an den Anfang zurück. Der Einwand gegen das Beten, im gewöhnlichen Alltag gäbe es keine Zeit, entspricht zwar der hektischen Realität unseres Alltags. Dagegen steht aber: Unser Reden mit Gott ist an keine Zeit und keinen Ort gebunden. Es gibt viele Gelegenheiten des Wartens - im Stau, an der Kasse im Supermarkt und wenn der Körper sagt: jetzt mach mal Pause. Da gibt es Zeit zum Nach-Denken vor Gott über Ereignisse und Erlebnisse und die Gedanken in Worte zu fassen an Gottes Adresse.

"Die Hände, die zum Beten ruhn, die macht er stark zur Tat. Und was der Beter Hände tun, geschieht nach seinem Rat" - so sagte es Jochen Klepper in dem Mittagslied "Der Tag ist seiner Höhe nah" (EG 457, 11).

Erst recht können Menschen, die wie ich im Ruhestand leben und nicht mehr in den Arbeitsprozess eingespannt sind, die wichtige Arbeit der Fürbitte für andere Menschen übernehmen. Hier ist Zeit, auch über Monate hin beharrlich Anliegen vorzubringen und durchzuhalten in der Hoffnung, dass das Beten seine erstaunliche Kraft und Wirkung entfalten kann. Dieses Ringen mit Gott ist eine Bereicherung des Lebens, an dem wir teilhaben können, auch wenn wir uns ohne Arbeitsstelle vom Klima der Gesellschaft her im "Aus" befinden.

Dann können sich Klage und Fürbitte sogar in Dank und Lob verwandeln für die erfahrene Veränderung und Hilfe und die Freude über Gott zum Ausdruck bringen, dass er sich als gegenwärtig und lebendig erweist. Als Betende können wir auch heute einstimmen in die Worte des Sängers aus dem 16. Jahrhundert: "Wenn wir dich haben, kann uns nicht schaden Teufel, Welt, Sünd oder Tod; du hast´s in Händen, kannst alles wenden, wie nur heißen mag die Not. Drum wir dich ehren, dein Lob vermehren mit hellem Schalle, freuen uns alle zu dieser Stunde. Halleluja. Wir jubilieren und triumphieren, lieben und loben dein Macht dort droben mit Herz und Munde. Halleluja. (EG 398, 2).

Amen.

Charlotte Hoenen, Superintendentin i.R.
Am Hasengarten 14a, 06120 Lieskau


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