Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

19. Sonntag nach Trinitatis, 6. Oktober 2002
Predigt über 2. Mose 34, 4-10, verfaßt von Roland Rosenstock
(-> zu den aktuellen Predigten / www.online-predigten.de)

Heilung durch Versöhnung

Hinführung zum Kyrie
Gott will,
dass wir leben sollen.
Er führt uns heute zusammen,
mit all dem,
was uns noch beschäftigt,
aus den vergangenen Tagen.
Unsere Gedanken
wollen wir jetzt vor Gott bringen:
unsere Sorgen,
die wir uns machen,
und unsere Schuld,
die uns belastet.
Vor Gott dürfen wir loslassen:
Er will uns entlasten.
in der Stille bringen wir jetzt vor Gott,
was uns auf dem Herzen liegt,
und ihn um Vergebung bitten
wo wir ihm etwas verschwiegen haben ... (Stille)
Heile du mich, Herr, so werde ich heil;
hilf du mir, so ist mir geholfen, Herr erbarme dich!

Hinführung zum Gloria
Unser Gott ist ein heilender Gott
Gottes Gnade verwandelt
unsere Schuld in einen neuen Anfang
Gottes Geduld verwandelt
unsere Sorgen in Zuversicht
Gottes Treue verwandelt
unsere Ängste in Mut
So spricht er uns zu:
"Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig,
und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich" (Ex 33,19/ Röm 9,15)

Darum danken wir Gott
und loben seinen Namen

Tagesgebet
Allmächtiger Gott und Vater,
du kommst uns nahe mit deiner Barmherzigkeit.
Wir bitten dich:
Komm mitten unter uns.
Komm mit deiner befreienden Kraft,
die Verschlossenes öffnet.
Komm mit deiner Wärme, die wohl tut und heilt,
dass wir aus uns herausgehen können
und einander offen begegnen.
Dazu hilf uns in Jesus Christus,
durch die Kraft des Heiligen Geistes. Amen

Predigtlied EG 642 (Wir strecken uns nach dir)

Fürbitten mit Vaterunser
Gott,
du willst, dass wir heil werden,
und rufst uns in deine Nachfolge,
dass wir heilen.
Laß unter uns deine Vergebung spürbar werden,
und schenke uns deine Gnade.
Wir bitten dich für die Menschen,
die in unseren Augen halsstarrig,
die starr und verbohrt erscheinen,
die an ihrem Denken festhalten,
unfähig,
ihr Antlitz uns zuzuwenden,
sich zu öffnen
für unsere Gefühle.
Versöhne uns
führe uns zusammen durch deine Gnade. ...

Predigt
Heilung durch Vergebung;
oder: Versöhnung ist gesund

Liebe Gemeinde!

Versöhnung ist weiblich und gesund! So lautet die frohe Botschaft der Oktoberausgabe von "Maxi". "Die Kunst des Verzeihens. Nicht leicht, aber sinnvoll", heißt es auf der Titelseite. "Denn: Wer vergibt, lebt länger." Wissenschaftliche Studien hätten belegt: Frauen sind besser im Versöhnen. Und: Menschen, die Wut und Ärger bewältigen können, leiden seltener unter Bluthochdruck, Schweißausbrüchen und Schlafstörungen. "Auge um Auge, Zahn um Zahn? Der Körper dankt`s auf keinen Fall", weiß die Zeitschrift für die junge und modebewußte Frau. "Eine kleine Rache kann zwar einen seelischen Ausgleich schaffen, aber Herz und Kreislauf werden extrem belastet. Also los: Verzeihung!"

I.

Nun klappt das mit dem Verzeihen aber nicht so einfach. Auch wenn es gesünder ist. Dazu gehören ja mindestens zwei. Manchmal braucht man sogar einen dritten, der unbeteiligt ist, um wieder zueinander zu finden. Vor dem Vergeben steht ja die Verletzung. Da hat etwas weh getan. Und die Beziehung ist belastet. Und dann beginnt oft ein Spiel, ein Spiel, dass es so schwer macht mit dem Versöhnen: das Spiel mit den Schuldzuweisungen, die Möglichkeit sich selbst und anderen Vorwürfe zu machen.

Wir kennen das aus den Familien: Eltern machen ihren Kindern Vorwürfe weil sie die Tapete vollgemalt, oder weil sie das Studium abgebrochen haben. Und Kinder machen ihren Eltern Vorwürfe, weil sie zu wenig Zeit für sie haben, oder den Lebenspartner nicht akzeptieren wollen.
Und dann machen sich wieder die Eltern Vorwürfe: Mütter fragen sich noch nach dreißig Jahren "Habe ich alles für mein Kind getan?". Aber dabei bleibt es nicht: Sie spielen den Ball wieder an ihre Kindern zurück, "Was hast du uns angetan...". Auch Kinder haben ein schlechtes Gewissen, nicht nur weil sie genau wissen, dass sie eigentlich in Papas Weinkeller nichts zu suchen haben, die Flasche aber doch zerbrochen ist. Und sie spielen den schwarzen Peter wieder zurück: "Wenn du nicht damals, dann ...". Ein Kreislauf von Vorwürfen zwischen den Generationen.

Und Ehepartner beherrschen dieses Spiel mit ausgeklügelter Perfektion. Die Zahnpastatube ist sicherlich noch eine untere Spielstufe. Und eins macht dieses Spiel im Unterschied zu anderen Spielen überhaupt nicht: Spaß! Wenn dann noch der Rosenkrieg beginnt, freuen sich selbst nicht einmal mehr die Anwälte über das Honorar.

Man kann dieses Spiel auch zwischen Ost- und Westdeutschen spielen, am Tag der deutschen Einheit! Wir können denen dadrüben wieder Ihre Nostalgie vorwerfen, die Liebe zu dem, was gewesen ist - als Maßstab für das, was ist. Und sie werfen uns dann unsere Herablassung vor, und dass wir den Osten nur als Markt sehen; und: Die Unfähigkeit die 40 Jahre als gemeinsame Geschichte auf der Wanderung durch die Nachkriegswüste zu begreifen.
Aber da hat sich scheinbar was verändert, nach dieser großen Katastrophe, dem Hochwasser. 2,7 Milliarden Euro Spenden. Eine umfassende Solidarität. War das Hochwasser die zweite Chance zur Wiedervereinigung? Mußte erst etwas dramatisches geschehen, jenseits des Spieles, damit sich die Spielregeln ändern?

II.

Liebe Gemeinde! Warum ist das mit der Vergebung so schwer? Weil diesem Spiel eins fehlt: es fehlt im die Gnade. Das Spiel mit den Vorwürfen spielt sich ein, wird zu einer Spirale, die sich immer weiter dreht. Irgendwann spielt der eigentliche Grund gar keine Rolle mehr. Verschwimmt, vernebelt sich, was eigentlich anliegt. Man wird das Gefühl nicht los: Da kommt man nicht mehr raus. Da kann man auch daran zerbrechen. Entweder es kommt zu einer Katastrophe. Und alle reißen sich wieder zusammen, die Folgen zu beheben. Oder es braucht jemand von außen, der die Spielregeln ändert. Ist es gut zu hören, dass da einer ist, der uns fühlen läßt, dass wir die Kränkungen tragen und überstehen können. Ein neuer Anfang möglich ist.

Auch Mose und das Volk Israel waren ein Teil dieses Spiels. Schon einmal war Mose mit den Tafeln auf dem Berg, bei der Rückkehr erlebte er eine böse Überraschung. Sie erinnern sich:

[Die Mosegestalt tritt auf, mit Tafeln in seiner Hand:]
Der Gott unserer Väter hat das Volk aus Ägypten befreit! Jetzt sind wir in der Wüste, vor dem Berg Sinai. Und das Volk macht mir Vorwürfe:
"Hungrig sind wir, nach Brot; durstig nach Leben; ausgezehrt von der Hitze, heimatlos! Wo ist denn nun Dein Gott, Mose? Vielleicht dort auf dem Berg? Warum ist er nicht mitten unter uns? Hat uns wohl vergessen!"
Und ich, Mose, sage: "Ihr werdet schon sehen, wer Recht behält, ihr störrischen Böcke. Halsstarrig seid ihr und Dumm! Ich geh jetzt da hoch, und dann komme ich wieder und bringe die Tafeln mit. Und da steht dann drauf, wie ihr euch verhalten sollt. Und wehe einer tanzt aus der Reihe!"
Na ja, das Tänzchen haben sie dann ja gewagt, ein erbärmliches Tänzchen. Kaum bin ich nach oben, auf den Berg, sammeln sie ihren Schmuck ein, gießen einen goldenen Stier daraus. Haben ihren Gott schön gemacht. Wie konnten sie mich so enttäuschen. Na, die können etwas erleben! Sie sind es überhaupt nicht wert, Gottes Gesetze zu empfangen. Das sollt ihr mir büßen! [Mose zerschmettert die Tafeln] Das Tischtuch zwischen uns ist zerschnitten. Gottes Zorn sollen sie spüren ...

Ein grimmiges Spiel! Der Mann ist wirklich wütend, auf sein Volk. Er will das Beste für sie, aber die wollen das gar nicht. Halsstarrig sind sie, wie kleine Kinder, die genau das tun, was ihre Eltern nicht wollen. Das kann einen bis zur Weißglut reizen. Sich dann wieder zu fangen ..., ein Neuanfang ist gar nicht mehr einfach. Und das Volk in einer Ecke, wo es nicht mehr rauskommt, halsstarrig sind sie.

Man kann sich aufreiben in diesem Spiel! Es gibt sogar Opfer, weil er die Menschen in Gute und Böse aufteilt, die Achse des Bösen deutlich vor sich sieht. Obwohl es Mose gut meint, zerstört er, nicht nur die Tafeln. Die meisten von den Israeliten werden zwar verschont, fürchten sich aber, dass sie die Strafe Gottes doch noch ereilen wird. Um Buße zu tun, müssen sie das Gold trinken, woraus sie den Stier gefertigt hatten. Fein zerstoßen, Goldstaub mit Wasser. Alle Schmuckstücke, die sie noch besessen, legen sie ab. Schmucklos und schutzlos sehen sie sich Mose und seinem Gott ausgeliefert. Und dann wurde es gefährlich, lebensgefährlich: 3000 sollen damals umgekommen sein. Mose scharrte die Seinen um sich, bestrafte die, die er für schuld hielt, allesamt Brüder, Freunde, Nächste. Ohne Gnade! Nach seiner Vorstellungen von Gerechtigkeit und mit himmlischen Beistand, das stand für ihn außer Frage.

III.

Doch stand Gott im Spiel mit der Schuld wirklich auf seiner Seite? Gott bittet Mose erneut auf den Berg. Wieder soll er zwei Steintafeln ausmeißeln. Es kommt zu einer atemberaubenden Begegnung: Mose sieht Gott von Angesicht zu Angesicht. Und Gott spricht zu Mose. Und sagt: Ich bin Gott. Und: Ich heiße so wie ich bin. Und das sind meine Namen:

[Stimme aus dem Off:]

Ich bin Gott,
voll von Erbarmen
und Gnade.
Ich habe Geduld,
bin reich an Güte
und Treue.

Ich bewahre Treue bis ins tausendste Geschlecht.
Ich vergebe
Schuld
Verbrechen
und Sünde.
Doch gedenke ich
der Schuld der Väter
bis sie wieder gut gemacht ist,
von den Kindern oder Enkel.

Der Name Gottes verändert die Spielregeln. Nicht mehr: Wie muss ich Buße tun, das er mich wieder akzeptiert. Sondern: Ich habe einen gnädigen Gott. Und der war schon immer gnädig. So hat sich Gott bekannt gemacht, nach dem Tanz um das goldene Kalb. Und Gottes Worte fahren Mose durch die Glieder. Er wirft sich nieder.
"Wenn das dein Wesen ist, Gott, dann komm in unsere Mitte! Und vergib uns! Auch wenn wir halsstarrig sind, wir wollen ganz Dir gehören." Und Gott antwortet: "Ich lebe in einer tiefen Verbundenheit mit euch. Von Anfang an! Wenn ihr an die Kraft der Vergebung glaubt, dann können wunderbare Dinge geschehen und ihr, eure Kinder und Enkel werdet eine Zukunft haben!"

IV.

Vielleicht waren es die Namen Gottes, die Mose aufgeschrieben hat - für sein Volk. Damit klar war, was das für ein Gott ist, der hier seine tiefe Verbindung zu den Seinen mitgeteilt hat. 10 Worte auf zwei Tafeln. Schauen wir sie uns noch einmal an.

Auf der ersten das Wesen Gottes. Wie können diese Worte uns entlasten?

(1. Tafel)
Gott Ich heiße so, wie ich bin
1. erbarmend bin voll Mutterliebe: Versöhnung ist weiblich!
2. gnädig bin in Christus: In ihm siehst du mein Antlitz
3. geduldig zögere, zornig zu werden: Du kannst umkehren
4. reich an Güte Ich halte an dir fest, auch wenn du mich verletzt hast
5. und Treue bin zuverlässig und verbindlich

Und was verändern diese Worte der ersten Tafel? Was folgt daraus für das Spiel mit der Schuld? Es geht weiter, aber es geht nicht mehr um die Würde. Nicht mehr um Bestehen und Vergehen. Das Grimmige, das Tödliche ist heraus aus dem Spiel. Von jetzt an spielt die Gnade mit, als unsichtbare Hand.

Auf der zweiten Tafel Worte, die für unsere Beziehungen wichtig sind:

(2. Tafel)
6. bewahrt Treue In der Solidarität mit anderen bewährt sich der Glaube
7. trägt Schuld Die Welt in Gut und Böse zu teilen, führt nicht weiter
8. Verbrechen Evangelium und Vergeltung schließen einander aus
9. Sünde Liebe, die nur mir Spaß macht, muß überprüft werden
10. gedenkt der Schuld der Väter Was für eine Entlastung, dass unserem Volk vergeben worden ist.

V.

Gottes hat den Bund der Entlastung geschlossen, mit zehn Worten, die das Spiel der Schuld entlasten sollen, die Spielregeln verändern. Denn so ein Spiel kann auch sein Gutes haben. Wenn es ehrlich gemeint ist und nicht zur Bestrafung verkommt. Wenn es wirklich um den Streitpunkt geht und nicht mehr nur um den Streit. Dann können wunderbare Dinge geschehen, dass Menschen sich wieder verstehen. Von nun an spielt die Gnade mit, mitten unter den Menschen. Menschen versöhnen sich nach langer Zeit wieder, wenn der Grund für die Schuld geklärt ist. Und: Man kann persönlich bei diesem Spiel reifen. Das Spiel spielen als einer, der selbst geliebt ist und sich mit seinen Schwächen akzeptiert; weil er weiß: Gott hält zu mir!

Dann braucht man auch eigene Schuld nicht von sich selbst wegzuschieben, auf die anderen, begreift, dass wir Kränkungen tragen und ertragen können. Verletzungen - mit Gottes Hilfe - auch überstehen. Rache ist dann passe. Wir setzen unsere Kraft daran, den wirklichen Konflikt zu lösen, zu vergeben.

Liebe Gemeinde, Vergebung ist weiblich und gesund! So lautet die frohe Botschaft von Maxi. Und ich stimme ihr zu!: "Die Kunst des Verzeihens. Nicht leicht, aber sinnvoll". "Denn: "Wer vergibt, lebt länger." Und die Tafeln mit den Worten der Entlastung machen Hoffnung darauf, dass das möglich ist: Versöhnung, Neuanfang, Verbundenheit durch die Verletzung hindurch. Ob Frauen darin wirklich besser sind? Wir Männer sollten ihnen jedenfalls darin nicht nachstehen. Und nicht vergessen: Menschen, die Wut und Ärger bewältigen können, leiden seltener unter Bluthochdruck, Schweißausbrüchen und Schlafstörungen. "Auge um Auge, Zahn um Zahn?" Nicht mit dem Gott, der so heißt wie er ist: Erbarmend und gnädig! Also los: Verzeihen wir, Versöhnung ist gesund! Amen.

Dr. Roland Rosenstock, Pucheim bei München
R.Rosenstock@evtheol.uni-muenchen.de


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