Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

21. Sonntag nach Trinitatis, 20. Oktober 2002
Predigt über 1. Korinther 12, 12-14.26.27, verfaßt von Franz-Heinrich Beyer
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Liebe Gemeinde,

es ist immer wieder aufs Neue schön, diesen Text des Paulus zu hören oder auch nur zu lesen. Es ist die Anschaulichkeit darin, dass das das Bild sofort eingängig vor den Augen entsteht: Ja, natürlich, so ist der menschliche Organismus - ein Leib, ein Organismus und doch zugleich eine Summe ganz unterschiedlicher Teile, Glieder, mit unterschiedlichen, gleichwohl notwendigen Funktionen, Fähigkeiten, Empfindungen. Und das alles zusammenspielend in einem komplizierten Verbund von Knochen und Muskeln, von Nervensträngen und Blutgefäßen. Damit ist gewährleistet, dass eine Verletzung -selbst zugefügt oder von anderen erlitten- wahrgenommen und darauf reagiert werden kann. Und wir alle wissen zur Genüge, wie sehr etwa eine kleine Wunde an einem Fuß das Gesamtbefinden beeinträchtigt. Und so brauchen wir nicht erst eine medizinische Grundvorlesung zu besuchen, um uns vorstellen zu können, wovon Paulus hier spricht. - Ich lese noch einige weitere Verse aus dem 12. Kapitel des 1. Korintherbriefs (15-22):

Wenn aber der Fuß spräche: Ich bin keine Hand, darum bin ich nicht Glied des Leibes, sollte er deshalb nicht Glied des Leibes sein?
Und wenn das Ohr spräche: Ich bin kein Auge, darum bin ich nicht Glied des Leibes, sollte es deshalb nicht Glied des Leibes sein?
Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo bliebe das Gehör? Wenn er ganz Gehör wäre, wo bliebe der Geruch?
Nun aber hat Gott die Glieder eingesetzt, ein jedes von Ihnen im Leib, so wie er gewollt hat.
Wenn aber alle Glied wären, wo bliebe der Leib?
Nun aber sind es viele Glieder, aber der Leib ist einer.
Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht; oder auch das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht.
Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns die schwächsten zu sein scheinen, die nötigsten; ...

Alle Glieder, alle Teile des menschlichen Organismus gehören zusammen, machen erst zusammenwirkend das Leben des Leibes möglich. Nur im Miteinander aller ist der Organismus funktions- und überlebensfähig, auch fähig zu Schmerz und zu Freude, zu Angst und zu Hoffnung.

Und das alles nun ein Bild für die christliche Gemeinde? Paulus hat es im Blick auf die Gemeinden in Korinth und in Rom wohl so gemeint und gesehen. Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit. Das wäre dann wirklich ein Idealbild, eine nicht mehr zu übertreffende Vorstellung.

Es gibt nun aber doch, so meine ich, zwei Gründe, dieses so anschaulich entwickelte Bild heute kritisch zu sehen und zu bewerten.

Der erste Grund für eine solche kritische Betrachtung ist in der medizinischen Grundstruktur des Bildes angelegt. Es ist eben heute durchaus möglich, Körperteile, einzelne Organe oder auch nur kleinste Zellmengen isoliert vom Gesamtorganismus in künstlicher Umgebung überleben zu lassen. Auch Bilder haben also ihrer Zeit.

Der zweite Grund für eine kritische Betrachtung hängt mit dem Bild selbst zusammen. Es ist keinesfalls von Paulus erfunden, sondern übernommen worden. In der Antike wurde die Einheit des Staates etwa mit der Einheit des Leibes zum Ausdruck gebracht, wobei bereits hier von einem Mit-Leiden und einem Mit-Freuen der Glieder die Rede war. Und auch in den beinahe 2000 Jahren nach Paulus ist dieses Bild vom Leib und den Gliedern immer wieder aufgenommen worden - und zwar sowohl im Blick auf die Kirche als auch auf das Staatswesen. Dabei konnte das das Bild konstituierende Verhältnis zwischen den Gliedern und dem Gesamtorganismus für beides gebraucht werden: Es konnte einerseits die eigensinnige Beteiligung der Bürger, der einzelnen Glieder also, unterstützen, denn nur dadurch, so der Gedanke, bleibt der Gesamtorganismus lebensfähig. Ebenso aber konnte es dazu gebraucht werden, Einzelne im Namen etwa einer Volksgemeinschaft oder einer gemeinsamen Idee zu entmündigen; die einzelnen, die Glieder, erfahren sich dann nur als uhrwerkgleiche Rädchen, die das Funktionieren des Gemeinwesens oder auch einer Firma garantieren. Geht es dem einzelnen gut, geht es auch der Firma gut; geht es der Firma gut, wird es auch dem einzelnen gut gehen. Das ist die Ambivalenz eines solchen Bildes.

Wir können und wir wollen also dieses anschauliche Bild von dem einen Leib in vielen Gliedern nicht einfach als Schablone für Gemeinde gebrauchen. Es würde entweder Gemeinde uniform erscheinen lassen - alle Menschen in der Gemeinde müssten sich dann mit ihren Fähigkeiten an solchem Rahmen ausrichten. Und andererseits wäre die Gemeinde eindeutig nach außen abgegrenzt, als wäre in der heutigen Zeit eine so klare Zuordnung noch möglich.

Anders aber könnte es dort sein, wo wir dieses Bild nicht als Norm, sondern als Predigt, als Bild für die Ermöglichung christlicher Existenz hören können. Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, so heißt es bei Paulus. Wir suchen sicherlich manchmal nach uns sympathischen Menschen in der Gemeinde, mit denen wir gern etwas zusammen gestalten möchten. Auch davon sind unsere Entscheidungen zum Mitmachen abhängig und das ist ganz natürlich und auch durchaus lebensdienlich. Es kann ein Stück wichtiger Selbstbestätigung geben und es macht gemeinsam auch einfach Spaß.

Es sind dann aber auch immer eine ganze Reihe von Menschen, die wir vielleicht nur Weihnachten im Gottesdienst wahrnehmen, oder aus Anlass von Taufe, Konfirmation, Trauung oder gar nur Beerdigung. Durch einen Geist wir alle -wir und diese auch? Vielleicht müssen wir manchmal eher darüber das Staunen lernen, dass manche Menschen bei so wenigen Kontaktpunkten doch das erwarten und das erhalten, was ihnen wertvoll ist und sie weiter begleitet.

Kopf und Hand, Auge und Ohr und was wir noch alles aufzählen könnten, untereinander grundverschieden, unvergleichbar, scheinbar sogar unterschiedlicher Qualität - und doch nicht völlig voneinander trennbar, denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft. Nicht das Dazugehören, wie wir es sehen und beurteilen können, nicht das ist das Entscheidende, sondern der Geist Gottes, dessen Wirken wir nicht hervorrufen können und dessen Wirken wir auch nicht begrenzen können. Die Einsicht darin lehrt uns Bescheidenheit, was unsere Einschätzung von anderen Menschen betrifft. Und diese Einsicht kann aber gerade auch Begeisterung freisetzen. Kreativität und Ideen dazu, das Leben zu feiern, ansteckende Fröhlichkeit zu leben. Und: Die Schwierigkeiten, die körperlichen und die seelischen Wunden der Menschen um uns zu sehen, ihnen zur Seite zu stehen und für sie einzutreten. Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.

Wir werden immer erleben, dass die Welt trotz aller gute Impulse nicht zum Paradies wird. Nicht einmal alle Wunden können geheilt, nicht alle Leidendenden getröstet werden. Das einzusehen, zu ertragen ist schwer genug. Und da ist es gut daran erinnert zu werden, was wir bei Paulus gehört haben: Ihr aber seid der Leib Christi; und von diesen vielen, die hier im Blick sind, sind wir heute hier in dieser Kirche ein Teil, wahrscheinlich einige sehr unterschiedliche Glieder. Welche Fähigkeiten, welche Ideen, aber auch welche Empfindungsfähigkeit ist uns eigen, von Gott gegeben? - Wo Menschen sich davon angerührt erleben, da ist eine Hoffnung für unsere Welt, - heute und auch morgen.

Prof. Dr. Franz-Heinrich Beyer
Franz-Heinrich.Beyer@ruhr-uni-bochum.de

 


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