Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Reformationstag, 31. Oktober 2002
Predigt über Philipper 2, 12 - 13, verfaßt von Margot Käßmann
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Liebe Gemeinde,

der Predigttext für den heutigen Reformationstag stammt aus dem Philipperbrief. Paulus schreibt an die Gemeinde in Philippi, diesmal nicht so sehr, wie wir das aus den Korintherbriefen kennen, um die Gemeinde zu ermahnen, sondern wohl eher, um sie zu ermutigen und zu trösten. Wir müssen uns das vorstellen, er sitzt im Gefängnis, er hat einen Prozess, möglicherweise die Todesstrafe zu erwarten. Aus seinem Brief aber klingt eine ruhige Gelassenheit, und kurz vor unserem Predigttext steht jener berühmte Hymnus, jenes Lied, das wohl eines der ältesten Zeugnisse der Christenheit darstellt. Wenn Sie Zeit und Lust haben, lesen Sie einmal nach, das ist ein elementares Glaubensbekenntnis im Philipperbrief, Kapitel 2. Von diesem Bekenntnis her spricht Paulus die Gemeinde an. Nun hören wir den Predigttext:

"Also, meine Lieben - wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit - schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen."

Liebe Gemeinde, es geht also darum, wie der Mensch selig wird. Wie er glücklich wird, wie er Heil für die Seele erlangt. Mit dem Glücklich-Werden ist das heute so eine Sache. Zuallererst scheint Geld glücklich zu machen. Das jedenfalls suggeriert uns die Reklame. Kannst du kaufen, kannst du das Leben genießen. Wer sich allerdings einige der reichen Gestalten ansieht, erkennt, dass ein Boris Becker wahrscheinlich auch nicht unbedingt glücklicher ist als Marianne M., die jeden Tag bei Galeria Kaufhof an der Kasse steht. Und die Bekenntnisse eines Dieter Bohlen zeugen auch nicht gerade davon, dass dieser Mensch nun in tiefster Seele glücklich wäre.

Und die Liebe? Ja, die kann glücklich machen. Ein junges Paar, das sich innig umarmt, und sie strahlen von innen. Glücklich! Aber wir alle wissen, auch solches Glück ist geschenkte Zeit. Viel zu oft sehen wir mit Trauer und Wehmut, wie solches Glück vergeht, in Streit endet, manches Paar den Respekt vor einander verliert.

Und selig werden, durch was denn noch? In der vergangenen Woche haben wir anhören müssen, wie Terroristen meinen, näher zu Gott zu gelangen, indem sie andere in den Tod reißen! Glücklich durch Gewalt? Andere erniedrigen, schikanieren? Da wird in Hannover ein Prozess geführt gegen zwei Männer, die junge Mädchen aus Litauen, Polen und anderen osteuropäischen Ländern "gekauft haben", um mit der Zwangsprostitution Geld zu verdienen. Nein, liebe Gemeinde, nicht weit weg, mitten in Hannover. Welche pervertierten Wege suchen Menschen eigentlich, um Macht und Geld zu erhalten? Weil sie beides mit Glück verwechseln? Oder um Gewalt auszuüben?

Paulus sagt: Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Ist das nicht nun völlig unlutherisch? Wir können doch gerade nicht schaffen, dass wir selig werden, das hat Luther uns ja doch beigebracht. Darauf gründet unsere lutherische Kirche und unser lutherisches Bekenntnis, dass Glaube geschenkt wird, dass wir nichts, auch gar nichts zu unserem Selig-Werden tun können. Schaffen schon gar nicht, oder?

Die Furcht und das Zittern hat Luther allerdings sehr wohl gekannt. Diese Frage nach dem gnädigen Gott, sie hat ihn umgetrieben. Ihm war sehr bewusst, dass alles, was er tut, sein Seelenheil nicht erzeugen kann. Gerade deshalb hat er sich gefürchtet und gezittert. Das müssen wir ernst nehmen. Es geht um unsere ganze Existenz, nicht nur um das bisschen, was wir sehen und schaffen: ein Haus bauen, einen Beruf haben. Es geht um viel mehr, nämlich darum, unser Leben sinnvoll zu gestalten! Unser Leben in der Tiefe zu erden, zu begründen in unserer Gottesbeziehung. Nein, die können wir nicht erarbeiten, nicht schaffen, nicht herbeiführen, Gott nicht zwingen. Wir können darum ringen, dass unser Leben Sinn macht. Und das liegt ganz gewiss nicht an unserem Gehaltsstreifen und auch nicht an unserem Aussehen oder unserer Anerkennung durch andere Menschen. Das liegt allein darin begründet, ob es gelingt, eine Gottesbeziehung aufzubauen, Gott zu vertrauen, zu spüren: doch, Gott ist da, Gott trägt dich und hält dich, auch in den schlimmen Erfahrungen deines Lebens.

Fürchten und zittern, ob das eigene Leben gelingt, darum geht es. Und erkennen, dass ich fast nichts dazu beitragen kann. Das einzige, was wir wohl schaffen können, ist, uns öffnen für diese Gotteserfahrung, erkennen, dass ich Kind Gottes sein darf. Kind Gottes als höchste Auszeichnung, auch, wenn ich noch so erfolgreich und dynamisch bin. Viel so oft verschließen wir die Augen davor, wie zerbrechlich das Leben ist. Ein kleiner Unfall, und ich bin querschnittsgelähmt, ein kleiner Knoten, und ich bin in Todesgefahr. Ganz schnell wird der Mensch alt und pflegebedürftig, ganz leicht kann ihn eine Behinderung ergreifen. Ganz plötzlich kann alles vernichtet sein, was wir zu besitzen glaubten. Da geh ich in ein Theater an einem Abend und bin dem Terror ausgesetzt. Da kommt eine Flut und zerstört alles, was ich aufgebaut habe. Da entführt jemand mein Kind, und meine Lebensgrundlagen sind vernichtet. Das Leben ist zerbrechlich, das kann uns mit Furcht und Zittern bewegen. Angst. Angst um das Leben, Angst um den Sinn des Lebens.

Bei Luther können wir lernen - und daran erinnert uns der Reformationstag -, dass solche Angst dann überwunden wird, wenn ich mich öffne für Gott und mich Gott anvertraue. Wenn ich mir das zusagen lasse von Gott, dass er mich erhalten will. Wer das elementare Fürchten und Zittern überwunden hat, weil er oder sie sich Gott anvertrauen, der hört auf, vor Menschen und Mächten sich zu fürchten und zu zittern. Der steht da wie Luther und kann sagen: "Ich stehe hier und kann nicht anders." Der hat einen festen Standpunkt im Leben, der uns auch durchhalten lässt, wo andere uns anfragen und angreifen. Für mich ist das von zentraler Bedeutung, wo immer ich kritisiert werde, mich selbst in Frage stellen muss, mein Lebensentwurf nicht so gelingt, wie ich mir das wünsche: aufrecht stehen können, Furcht und Zittern überwinden, weil Gott mir einen Standpunkt gibt.

Wer aber so stehen will, muss den eigenen Glauben kennen und bekennen. Unser Bach-Chor singt uns heute nach der Predigt auf wunderbare Weise Bachs Interpretation des Nizänischen Glaubensbekenntnisses. Wir beten es nicht so oft wie das Apostolikum in unserer Kirche, aber es wird uns doch immer vertrauter, seit es in unserem Gesangbuch zur Verfügung steht. Unter der Nummer 805 können Sie es finden.

Immer wieder höre ich Anregungen: "Erneuern Sie doch die Bekenntnisse, das ist doch alles so alt, das muss doch in moderne Worte gefasst werden." Dagegen stelle ich mich ausdrücklich. Sicher, wir können auch heute neu formulieren. Dieses Nizänische Glaubensbekenntnis aber wurde bei einem Konzil vor bald 1700 Jahren als rechtgläubiges Bekenntnis verabschiedet. Wir müssen uns das einmal vorstellen, da wird im Sommer 325 eine Synode einberufen und bemüht sich darum, die gültige Lehre zu formulieren, und wir hören und sprechen diese Worte bis heute! Die zentrale theologische Entscheidung dieses Bekenntnisses trifft übrigens der Kaiser! "Homousios": Jesus Christus "eines Wesens" mit dem Vater. Diese Festlegung wurde zu einer zentralen theologischen Entscheidung, die durchaus andere ausgeschlossen hat. Und schließlich eine zentrale Entscheidung auch mit Blick auf den heiligen Geist, der "aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht". Dieses "filioque", "und dem Sohn", ist bis heute Teil einer Auseinandersetzung zwischen Ostkirche und Westkirche.

Ich finde es faszinierend, dass dieses Bekenntnis nun seit Jahrhunderten in unserer Kirche anerkannt ist. Und dass bestimmte Streitigkeiten über das Verständnis Gottes, die die Ökumene bis heute beschäftigen, so lange zurückreichen. Das macht ein Doppeltes sichtbar: Unsere Kirche steht in langer Tradition. Auch wir als lutherische Kirche sind Erbin der alten Kirche - allerdings erneuert durch eine grundlegende Reformation. Die Bekenntnisse der Reformationszeit sind für uns zu den Bekenntnissen der Alten Kirche hinzu getreten. Das Nizänum liegt nicht vor unserer Zeit, sondern ist Teil unserer eigenen Kirchengeschichte. Und wenn es heute Auseinandersetzungen mit der orthodoxen Kirche gibt, beruhen diese nicht nur auf der Trennung von 1054, sondern auch auf den theologischen Auseinandersetzungen, die so weit zurückreichen.

Manches Mal, wenn wir in aktuellen Fragen überlegen, ob wir wohl irren oder richtig entscheiden, bin ich dankbar dafür, dass wir auf so vieles zurückgreifen können, was langfristig angelegt ist. Wir sollten die alten Bekenntnisse nicht über den Haufen werfen, sondern uns immer neu damit auseinandersetzen, was sie damals bedeutet haben und heute für uns bedeuten können. Mit Menschen auf der ganzen Welt und Christinnen und Christen durch die Jahrhunderte hindurch bekennen wir auf diese Art und Weise je neu in unserer Kultur und unserem Kontext. Ja, das erdet.

Paulus schreibt an die Gemeinde in Philippi: Seid gehorsam. Er ist sich anscheinend ziemlich sicher, dass die Gemeinde in Philippi gehorsam ist. Aber er ermahnt sie, am Bekenntnis festzuhalten. Er baut auf diesen Hymnus, eines der allerersten Bekenntnisse der Christenheit, das er voranstellt: "Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist." Dieser Gehorsam gegenüber dem Bekenntnis, gegenüber der Tradition, gegenüber der Offenbarung der Auferstehung, er ist entscheidend für die Gemeinde. Sie muss wissen, wie sie sich gründet.

Liebe Gemeinde, den Begriff Gehorsam mögen wir heute nicht so gern. Freiheit, das ist doch auch sozusagen das Schlagwort der Reformation. Und heißt es nicht: die Schrift allein, Christus allein, allein die Gnade? In unserer Tradition aber bedeutet Freiheit nie: jetzt und jederzeit und sofort tun, was ich will. Nein, Freiheit bedeutet, dass ich mich binde an das Bekenntnis, an den Glauben. Ich finde Freiheit gerade darin, dass ich weiß, wo ich meinen Grund habe. Und dass ich aufstehe ohne Furcht und Zittern und sage: hier ist für mich mein Glauben, meine Kirche ein entscheidender Punkt, wo ich eintreten muss.

Reformatorische Freiheit kann deshalb von der Bibel her durchaus einen kritischen Blick auf Traditionen und Bekenntnisse richten. Diese Freiheit brauchen wir in der ökumenischen Auseinandersetzung. Das muss uns am Reformationstag neu bewusst werden. Ich denke, es ist eine gute Formel zu sagen: Evangelisch aus gutem Grund. Und ökumenisch aus gutem Grund! Es gilt, klar zu formulieren, was wir glauben und wo sich unsere Kirche gründet und auch unterscheidet von anderen Konfessionen. Gleichzeitig aber wissen wir und bekennen im Apostolischen Glaubenbekenntnis, das es nur die eine, heilige, apostolische und katholische Kirche gibt, die sich in vielen Konfessionen und Kirchen darstellt. Schließlich: der Glaube nötigt uns auch zu Konsequenzen in der Welt ohne Furcht und Zittern. Da gilt es einzutreten für den Frieden. Zu sagen: dass ein "pre-emptive strike" des amerikanischen Präsidenten keinen Frieden schaffen wird. Es ist eine Illusion, Sicherheit durch Waffen zu schaffen. Wir können nicht alle Opernhäuser, alle Schulen, alle Gottesdienste dieser Welt sichern. Sicherheit und Frieden entstehen nur durch Versöhnung und Gerechtigkeit. Und da haben wir einiges zu bewegen, liebe Gemeinde, das ist uns neu bewusst geworden. Wir können unsere Augen nicht verschließen vor den Konflikten in Indonesien, in Algerien, sonst werden wir im Urlaub auf Djerba oder Bali davon eingeholt. Wir können nicht ignorieren, dass in Grosny ein Krieg geführt wird, in dem Gräueltaten, Mord, Zerstörung an der Tagesordnung sind, ein Krieg in der Tat und ein schmutziger dazu. Sonst kann es uns ganz schnell in einem Theater einholen. Ja, wir leben in einer Welt der Globalisierung. Und wenn wir in dieser Welt ohne Furcht und Zittern leben wollen, dann haben wir einiges einzusetzen an Energie, ohne Furcht und Zittern einzutreten für Gewaltfreiheit und Versöhnung.

Schaffet, dass ihr selig werdet. Ja, das Glück, die Seligkeit schenkt uns Gott, dessen sind wir uns am Reformationstag ganz besonders bewusst. Aber: Gottes Zuspruch folgt immer Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben. Deshalb werden wir ohne Furcht und Zittern eintreten auf der Grundlage von Bibel und Bekenntnis unseres Glaubens für eine Welt, in der Versöhnung und Gerechtigkeit eine Spur legen von dem, was Gott uns eines Tages schenken wird: Gerechtigkeit und Frieden. Amen.

Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann, Hannover
Landesbischoefin@evlka.de


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