Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

23. Sonntag nach Trinitatis, 3. November 2002
Predigt über 1. Mose 18, 16-33, verfaßt von Ed Noort (Groningen, NL)
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Liebe Gemeinde!

Abraham, der Schacherer, verhandelt mit Gott um Leben und Tod. Der Einsatz: Städte und ihre Einwohner, die es verbockt haben. Die Namen dieser Städte sind bis zum heutigen Tag mit Verdorbenheit und Untergang verbunden. Sodom und Gomorra. Es ist eine Geschichte über Abraham, einen bemerkenswerten Wanderer, dessen Geschichten so ansteckend waren, dass sie ins Neue und ins Alte Testament genommen wurden, und auch im Koran zu finden sind. Abraham, Vater der Gläubigen für die Juden, die Christen und die Muslime.

Abraham verhandelt hier mit Gott wie ein Markthändler. Und Gott steigt darauf ein, zuerst anspruchsvoll und dann stets leiser und entgegenkommender.
Es sind Verhandlungen mit hohem Einsatz, Hunderte, vielleicht sogar Tausende Leben. Doch steht hier noch viel mehr auf dem Spiel. In diesem Gleichnis geht es auch um die Gerechtigkeit Gottes selbst, um das Recht des "Richters über die ganze Erde". Das "Gott sein" Gottes steht hier im Mittelpunkt und wir dürfen zuschauen wie Abraham Gott ganz höflich ins Kreuzverhör nimmt.

Vorher gibt es die Geschichte über Gott und seine Botschafter, die Sara und Abraham ein Kind versprechen. Das ist so unmöglich, dass Sara sogar darüber lacht. Der Satz, der diese beiden Geschichten verbindet, ist dieser: "Ist beim Herrn etwas unmöglich?" (V.14a). Obwohl das Schicksal von Sodom und Gomorra schon längst beschlossen scheint, wird das ganze wieder neu aufgerollt. "Ich will hinabgehen und sehen, ob ihr Tun wirklich dem Klagegeschrei entspricht, das zu mir gedrungen ist. Ich will es wissen (V.21). Gott geht buchstäblich auf Tuchfühlung zu den Menschen, weil das Klagegeschrei zu ihm gedrungen ist. Wer oder was ruft Gott? In der Bibel ist es oft unschuldig vergossenes Blut, so wie vom totgeschlagenen Abel, oder das Blut des unschuldig verfolgten Hiob. Dieses Blut schreit nach Gott. Opfer haben noch eine Stimme, auch die Opfer in Sodom und Gomorra.
Es geht hier um eine alles durchbrechende Fürsorge. Wo Opfer sind, nimmt Gott Anteil. Das Klageschrei ist nicht vergeblich, Gott kommt.

Und so nimmt die Geschichte ihren Lauf. In der heutigen Übersetzung der Bibel steht: "Abraham stand noch immer vor dem Herrn" (V.22). Aber dieser Text wurde durch Schriftgelehrte verbessert. In hebräischen Schriften steht etwas anderes. "Und Gott stand noch immer vor Abraham". Die Gelehrten fanden es zuwenig ehrfurchtsvoll und drehten es um. Es war Abraham, der Gott nähertrat und nicht umgekehrt. Gott selbst nimmt die Initiative und ermutigt Abraham sein Plädoyer vorzutragen. Und Abraham lässt nicht lange auf sich warten: "Wenn es nun 50 Gerechte in der Stadt gibt, willst du dann die Stadt auch vernichten? Das kannst du doch nicht tun, die Gerechten zusammen mit den Ruchlosen umbringen. Dann ginge es ja dem Gerechten genauso wie dem Ruchlosen. Willst du nicht doch der Fünfzig wegen dem Ort vergeben?

Die Kernfrage ist: Was kann in dieser schwierigen, verdorbenen Welt, wo das "ICH, ICH" im Vordergrund steht, noch als gerecht gelten?

Hier taucht ein biblisches Motiv auf: Die Liebe von wenigen kann die Härte von vielen brechen. Nur 50 müssen es sein und die ganze Stadt ist gerettet. Und dann beginnt das Feilschen. Würde Gott nicht Gnade und Barmherzigkeit zeigen, wenn vielleicht von den fünfzig fünf fehlen. Oder nur vierzig, oder dreißig, oder zwanzig, oder vielleicht zehn. Die monotone Antwort ist immer die gleiche. Gott wird die Stadt nicht vernichten, wenn es nur 45, 40, 30, 20, oder sogar 10 Gerechte sind. Mit jedem Schritt wird die Kraft von Menschen, die liebevoll handeln, die sich um ihren Nächsten kümmern, größer und größer. Um das Leben zu sichern werden nur 10 gebraucht, 10 Menschen die sich um ihren Nächsten kümmern.

Da ist die Grenze erreicht. Es wird nicht weiter verhandelt. Warum zehn? Warum nicht um fünf mehr fragen? Manche phantasiereiche Gelehrten haben es ausgerechnet. Sehr einfach. Rechnen Sie nach: Noah und seine Frau, drei Söhne, Sem, Cham und Jafeth und ihre Frauen: das sind Acht. Und alle waren Gerechte. Und die haben die Sintflut nicht aufhalten können. Acht waren also nicht genug. Und so gibt es noch mehr schöne Geschichten zur Erklärung.

Zehn Gerechte wurden also nicht gefunden und so ließ der Herr auf Sodom und Gomorra Schwefel und Feuer regnen. Sind solche Geschichten Glaubens-Nostalgie? Alles soll klar und geregelt sein? Verbrecher bestraft und Gerechte gerettet werden? Ein kraftvoller Eingriff in dieser verwirrten Welt? Vielleicht ursprünglich, aber es geht hier um etwas sehr Einfaches. Gott lässt mit sich reden, er will gefragt werden, er lässt sich ein mit Abraham, dem Schacherer. Er wartet richtig darauf, seiner Liebe und seiner Treue Vorrang zu geben vor dem, was wir "Gerechtigkeit" nennen. Gott ist überraschender als wir denken.

Und dann Abraham. Er ist nicht um die Gerechten besorgt, die eventuell auch im Feuer von Sodom umkommen werden. Nein, es geht ihm immer um die Stadt. Abraham hält ein Plädoyer für die verbrecherische Clique in Sodom. Hier traut sich jemand zu sagen: Wenn es ein paar Menschen gibt, die im Dienste ihren Mitmenschen leben wollen, willst du nicht dem Ort vergeben? Zehn retten eine Stadt. Die Ruchlosen werden durch die Gerechten am Leben gehalten. Manchmal kann eine kleine Minderheit wie Hefe wirken.

Zehn Gerechte... Könnte man die bei uns finden, wenn es ums Überleben geht? Diese Frage erschreckt mich manchmal. Ach, wir sind natürlich alle anständige Leute. Und doch … die Einwohner von Sodom und Gomorra waren nicht darauf aus, etwas Schlechtes zu tun. Sie taten einfach, was die anderen taten. Sie passten sich an. Mitläufer in der Gruppe, wo man sich wohl fühlt.
Was trägt uns dann, wenn etwas schief geht? In dieser Geschichte: Das Gebet. Vielleicht sind wir noch am Leben, weil andere für uns beten, sich selbstlos für ihre Umwelt und Mitmenschen einsetzen.
Vielleicht tragen Fürbitten mehr als wir denken.

Die zehn Gerechten, die Sodom gerettet hätten, sind auch Hoffnungsträger. Innerhalb der Kirche fallen wir heute langsam in eine Art Selbstmitleid. Tageszeitungen und Zeitschriften zeigen ein düsteres Bild. Die Kirche vergreist, die Jugend läuft davon, alles ist anders als früher. Der Einfluss der Kirche in der Gesellschaft geht zurück. Strukturell laufen wir Gefahr, eine Kirche mit einem Wasserkopf zu werden und alle jene Pastoren, die noch nicht ausgebrannt sind, sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Kirche ist out. Definitiv out. Ich träume von einer viel kleineren Kirche. Ein Haus, ein Zuhause, eine Art Gideonsbande. Ob das jetzt die 10 Gerechten sind, weiß ich nicht so richtig. Jedoch eine Kirche als Gemeinschaft, die sich traut zu suchen und zu fragen, ohne sich an Vergangenes anzuklammern, sondern aus der Geschichte lernt und vorausschaut, neugierig und phantasievoll, und nichts mehr selbstverständlich findet. Eine Kirche, die Worte findet, die Menschen befreien, leben und sterben lassen. Diese Menschen sind dann vielleicht eher das salzende Salz aus dem Neuen Testament als die 10 Gerechten von Abraham.

AMEN.

Prof.Dr.Ed Noort, Groningen, NL
e.noort@theol.rug.nl
Übersetzung: M.Deblonde/M.Nitsche, Wien


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