Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 10. November 2002
Predigt über 1. Thessalonicher 5, 1-6 (7-11), verfaßt von Andreas Kern
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Liebe Gemeinde,

im Sommer wurde mir mein Fahrrad gestohlen. Vom heimischen Grundstück, es hatte an der Hauswand gelehnt, ich hatte vergessen, es in den Schuppen zu stellen. Anzeige bei der Polizei und der Versicherung, Bescheinigungen vom Fundbüro usw - ein kleiner Ärger im Vergleich zu manch anderem, was wir so erleben.

Das Schlimme an der Sache mit dem geklauten Fahrrad war etwas anderes: bis zu diesem Zeitpunkt war uns die Umgebung unserer Wohnung überschaubar und heil vorgekommen. Die Nachbarn kennen wir doch alle, und die vorbeiziehenden Menschen - morgens und mittags auf dem Schulweg - sie grüßen freundlich, sind uns wenigstens vom Sehen bekannt. Natürlich schließen wir unsere Wohnung ab, wenn wir wegfahren, aber eigentlich rechnen wir nicht wirklich damit, daß irgendwelche Diebe in der Nacht umherschleichen und uns bedrohen. Wir vertrauen auf unser gutes Gefühl, wir schlafen ruhig.

Der Diebstahl des Fahrrades - so direkt vor der Haustür, wir waren alle zuhause - hat diese ruhige Haltung für ein paar Tage und Wochen beschädigt. Da war die Unbefangenheit plötzlich hin; das Böse, die böse Welt, war in die vermeintlich heile Welt eingedrungen, hatte sie zerstört. Glücklicherweise passiert so etwas ja nicht jeden Tag, und so können wir inzwischen wieder ruhig leben.

Aber geht es uns nicht - im kleinen oder größeren Maßstab - immer wieder einmal genauso? Buchholz als netter kleiner Ort, in dem glücklicherweise von dem Übel der Welt nicht so viel zu spüren ist - und dann plötzlich Berichte über die Vergewaltigungen einer Schülerin, mitten unter uns. Oder Hamburg vor unserer Haustür: der Metropole traut man schon einiges mehr zu an Unberechenbarem, Unvorhersehbarem - aber daß die Terroristen des 11. September 2001 direkt nebenan lebten, finden wir alle ziemlich schaurig.

Was wir daran lernen, liebe Gemeinde:
Das Lebens-Verändernde kommt unvorhersehbar. Das, was uns umwirft, was unsere Gewißheiten und Sicherheiten umstößt, kommt zu einem Zeitpunkt, den wir nicht wissen. Der Tag des Herrn, sein Erscheinen, das Ende der Welt: sie sind unberechenbar.

Macht uns das Angst? Singen wir die Liedzeile 'Wir warten dein, O Gottessohn, und lieben dein Erscheinen' - aber gleichzeitig erschaudern wir beim Gedanken daran, daß damit alles Gewohnte zuende ist, alle Sicherheit dahin?

Aber das, liebe Gemeinde, ist genau die Spannung, in der wir als Christenmenschen leben!

Paulus will uns ja nicht erschrecken. Er schreibt zwar einige Szenarien auf, die einem unbefangenen Leser oder Hörer tatsächlich Angst machen können: der Einbrecher in der Nacht, die Schwangere, die plötzlich von Wehen überfallen wird.

Aber Paulus weiß auch, und er schreibt das auch, daß wir keine Angst zu haben brauchen. 'Denn ihr seid alle Kinder des Lichtes und des Tages.'

Keine Angst: das sagt sich so leicht. Das Unvorhersehbare, das Ende, das muß doch Angst machen?!
Die Schrecken, die Paulus uns vorführt, sind ja auch in unserer Zeit immer noch aktuell: ein paar Beispiele habe ich genannt, und sicher kann jeder von uns noch ein paar aufzählen.

Aber anders als Paulus sehen wir darin nicht das Kommen Gottes. Wir verlassen uns - vielleicht ein wenig naiv - auf die stetige Liebe Gottes, der uns nahe kommen will, ohne uns zu erschrecken. Und wir tun das in aufmerksamer Gelassenheit. Wir sollen nicht schlafen, aber auch nicht hektisch werden. Wir brauchen uns nicht zu verzehren in der Sorge um sein kommen, aber wir sollen ihn auch nicht vollständig vergessen.

Wir sind Söhne und Töchter der Helligkeit, der Klarheit, auch wenn wir die Frage nicht beantworten können, wann und wie Gott kommt. Denn wir wissen, was er will, was er vorhat mit uns, wenn er kommt: 'Denn Gott hat uns nicht zum Zorn bestimmt, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unseren Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit wir zugleich mit ihm leben - ob wir wachen oder schlafen.' Deswegen warten wir sein Kommen ohne Angst ab.

Ich glaube, liebe Gemeinde: schrecklich wird die Begegnung mit Gott für denjenigen, der überhaupt nicht damit rechnet: der wird wirklich aus der Bahn geworfen, den schubst Gott glatt um, macht ihn platt - und will doch auch ihn wieder aufrichten.

'Da bin ich aber platt', sagte mir der Vater eines vierjährigen Taufkindes am Ende des Taufgottesdienstes - und sie hören das Wortspiel heraus. Was die Familie wie ein etwas peinliches Spektakel angesehen hatte - die etwas verspätete Taufe ihrer kleinen Tochter -, das war zu einer tollen Begegnung geworden.

Das hatten sie - ganz unerwartet und plötzlich - ganz intensiv erlebt: die Lesungen und Gebete, die Lieder, die Tauf-Fragen nach ihrem Weg mit ihrem Kind und dessen Weg mit Gott, die Taufhandlung an ihrem Kind, den Segen für ihre Tochter und für sie selbst.
Und dann am Ende des Gottesdienstes schnappte sich der Vater mit feuchten Augen das fröhlich umherspringende Kind und drückte die Kleine fest an sich.

Etwas ganz Bewegendes, Aufrührendes war ihm begegnet. Gott war, so würde ich sagen, in sein Leben eingebrochen - Gott als Lebens-Einbrecher, in diesem Fall nicht des Nachts, sondern mitten am Tag.

So, liebe Gemeinde, stelle ich mir den 'Tag des Herrn' vor: daß er mir immer wieder passiert, immer wieder begegnet, mich positiv oder negativ erschüttert und anrührt. Daß Gott ein (nächtlicher oder täglicher) Lebens-Einbrecher ist, der mich überfällt, auch wenn ich vorbereitet bin - oder weil ich nie wirklich vorbereitet bin?
Angst habe ich nicht, will ich nicht haben. Angst verbinde ich mit etwas Bösem, das mir begegnet.

Aber hier will einer mir nahekommen, mich vielleicht überraschen, der mich liebt und der Heil und Segen für mich will. Ob ich schlimme Dunkelheiten des Lebens durchmache oder fröhlich im Hellen lebe: ich will jederzeit gerne mit Gott rechnen - auch wenn ich mich immer verrechne. Aber ich weiß: bei ihm bin ich im Hellen, bei ihm lebe ich.

Amen.

Pastor Andreas Kern
Ev.-luth. Kirchengemeinde St. Paulus, Buchholz in der Nordheide
Tel. (04181) 7714
Fax (04181) 2349669
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