Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres - Volkstrauertag, 17. November 2002
Predigt über 2. Korinther 5, 1-10, verfaßt von Hellmut Mönnich
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Liebe Gemeinde,

Volkstrauertag ist heute. "Volkstrauertag"? fragte ein Schüler. "Sagt mir nichts." - Ich erinnere mich: Ein Geburtstagsbesuch. Ein Wohnzimmer. Ein alt gewordener Wohnzimmerschrank, gerahmte Fotos standen aufgereiht. Ich sah auf ein schon blass gewordenes Foto: ein junger Soldat, in Luftwaffenuniform. "Das ist mein - das war mein Mann" sagte die alt gewordene Frau, die meinem Blick gefolgt war. "1944 abgestürzt. Ich habe unsere drei Jungen allein groß gezogen. Manchmal träume ich noch von ihm. Wir hatten uns das alles anders gedacht." - Volkstrauertag. Erinnern. -

Mir fällt ein Foto in einem Dokumentationsbuch ein. Ein Foto von einem wie selbst gebastelten Kreuz mit einer Inschrift darauf in Schreibschrift: "In der Nacht vom 22./23. 10. 43 fielen: Albert Röhn 35 Jahre, Mathilde Röhn 34 Jahre, ihre Kinder Herbert 15 Jahre, Ursula 12 Jahre, Heinz 10 Jahre, Walter 6 Jahre, Werner 2 Jahre, Wolfgang 10 Monate und Oma Walter. Ruhet sanft". Das Kreuz hatte in Kassel vor einem ausgebombten Haus gelegen. Volkstrauertag. Erinnerung an weit zurück liegende schreckliche Ereignisse.

Ach, da müsste noch so viel gesagt werden von erlittenem Leid. Und von all dem Leid, das Deutsche anderen angetan haben millionenfach. Nicht zuletzt in Polen, in Russland, in den Konzentrationslagern, in den Vernichtungslagern, in Kriegsgefangenenlagern. Ein Gedenktag an Krieg, Tod und Verbrechen ist nach wie vor sinnvoll und sogar nötig. Kriege und Leiden haben ja nicht aufgehört! - Der Volkstrauertag - kein Heldengedenktag! - ist immer noch ein nötiger Gedenktag.

In einem Pavillon auf einem großen Kriegsgräber-Friedhof hatte jemand in das Besucherbuch geschrieben: "Wir müssen unseren Kindern von den Leiden dieser und Millionen anderer Kriegsopfer erzählen und mithelfen, dass Kriege der Vergangenheit angehören und kein Mittel sind, Meinungsverschiedenheiten zu lösen." Ja.-

Um Sterben und Tod geht es auch in dem Bibeltext, der für unser Nachdenken heute ausgesucht worden ist. Nicht für den Volkstrauertag ausgesucht. Nein. In dem vorgeschlagenen Bibeltext geht es um grundsätzliche Glaubensfragen. Paulus hat ihn geschrieben in einem Brief an die Gemeinde in Korinth. Im vorgeschlagenen Abschnitt argumentiert er gegen die Auffassung in Korinth, dass die getauften Christen die Schwelle des Todes schon überschritten hätten und sie so zu sagen schon himmlische Kinder Gottes seien, für die Sünde und Schuld kein Thema mehr sei. Paulus weiß dem gegenüber: wir leben noch diesseits der Auferstehung. Und er schreibt nach Korinth, was er über Sterben, Tod und Auferstehung weiß. Seine Ausführungen sollen uns heute helfen, unser Glaubenswissen zu diesen Themen zu klären.

Bevor wir uns Paulus zuwenden, muß noch etwas vorweg gesagt werden: Paulus spricht in diesem Briefabschnitt in Bildern, in uns fremden, ja befremdlichen Bildern. Er vergleicht unseren Leib mit einer Hütte, einer Wohnung, einem Haus, einem Kleid. Er erwartet eine Verwandlung, ein "Überkleidet-Werden" des irdischen Leibes in den Auferstehungsleib, den Gott im Himmel bereithält. Wissenschaftler, die den Predigtabschnitt erklärt haben, stellen fest, "dass unser Abschnitt nach wie vor in seiner Deutung umstritten ist" (TRE 4,455). Deshalb ist es vielleicht geraten, den schwer verständlichen Text nicht zunächst einfach vorzulesen, - man kann dabei nämlich weder alles verstehen noch auch behalten - sondern sich auf einige wichtige Argumente des Paulus zu beschränken und über sie nachdenken, um Klarheit zu gewinnen Als Übersetzung des griechischen Textes soll die Lutherübersetzung dienen.

Paulus beginnt so (5, 1): "Wenn unser irdisches Haus abgebrochen wird, ... haben wir einen Bau, von Gott erbaut ... ewig im Himmel." Das heißt, dass der heute oft gehörten Ansicht, mit dem Sterben und dem eingetretenen Tod sei alles aus und zu Ende, dass es keine Auferstehung gebe, von Paulus widersprochen wird. Sicher: wem von uns ist nicht klar, dass zu unserem Leben das Sterben und der Tod gehören. Natürlich. Im wahrsten Sinn des Wortes: von Natur aus. Aber Paulus hat das Glaubenswissen von Ostern. Seit den Erscheinungen des Auferweckten weiß er mehr als vor Ostern. Nämlich: wenn wir sterben, erwartet uns Getaufte Gottes Neuerschaffung - und wir werden sein in seiner Gegenwart, jenseits der Zeit.

Paulus fährt fort (5,4) : "Solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir .... weil wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen....... Wieder die fremdartige Bildersprache. Aber was Paulus meint, gilt damals wie heute: Wenn wir unser eigenes Sterben ungeschönt ins Auge fassen, dann möchten wir nicht der Nacktheit, dem Nichts ausgeliefert sein. Wir können aber glaubensgewiß sein: Wir fallen sterbend nicht in den Tod, nicht ins Bodenlose: Wir fallen - um nun unsererseits auch ein Bild zu gebrauchen - in Gottes Hand. Luther hat zu dieser Paulusstelle angemerkt: "Das ist aller Kreatur natürlich, Christus, die Apostel ... haben sich vor dem Tod entsetzt". Lieber wäre es uns, "dass die Engel kämen und entrissen uns aus diesem Leben und verklärten unsere Leiber."

Fast schlagwortartig formuliert Paulus nun: "Solange wir im Leibe wohnen ... wandeln (wir) im Glauben und nicht im Schauen" (6f). In der Tat: Glauben und schauen, glauben und sehen sind höchst unterschiedliche Vorgänge. Glauben ist vertrauen, ist "bauen auf", ist "sicher sein". Glauben bedeutet auch anderes als der Satz meint: "Ich glaube, heute Nacht gibt es Frost." Wer das sagt will doch sagen: "Ich vermute, dass es heute Nacht friert" oder "Ich gehe davon aus, dass es heute Nacht Frost gibt."- Vielleicht könnte man das, was Paulus sprichwortartig ausdrückt, etwa so neu formulieren: Im Vertrauen auf Gott leben - ohne durch eigenen Augenschein überzeugt zu sein. Übrigens: Die Debatte, ob Gott bewiesen werden könne, ist längst ausgefochten. Gott ist nicht beweisbar - und das gilt auch für andere Glaubenssachen und -fragen. Solche für unsere Existenz grundlegende Erscheinungen wie etwa auch Liebe, Hoffnung oder z.B. Angst lassen sich lediglich an ihren Auswirkungen erkennen und sehen. Aber Liebe, Hoffnung, Angst und eben auch Glauben gehören zu unserer Existenz.

Mit zwei weiteren Überlegungen beendet Paulus in unserem Briefabschnitt sein Gespräch mit den Korinthern (5,9f): "Darum setzen wir unsere Ehre darein, ... dass wir ihm (Gott) wohlgefallen." Auch hier gilt, dass wir uns nicht an der altfränkisch klingenden Übersetzung stören lassen. Sehr kurz gesagt meint Paulus: Zum Glauben gehört das entsprechende Handeln. Und man kann es auch heute nicht deutlich genug sagen: Glauben und entsprechendes Handeln als Folge des Glaubens gehören zusammen und zwar untrennbar. Macht man sich das sehr klar, erschrickt man wohl über sich selbst und über die Christen heute und früher, über die Kirchen durch die Jahrhunderte und heute noch. Um nicht auszuweichen und ohne in Schwarz/weiß-Malerei zu verfallen: Was tun wir Christen in den wohlhabenden Ländern z.B. gegen die nach Aussage der Vereinten Nationen wachsende Armut in der Welt und alles Elend, das damit zusammenhängt? Gegen den wachsenden Hunger, fehlendes Trinkwasser, sich ausbreitende Krankheiten wie Aids, fehlende oder mangelhafte Bildung, Unterdrückung der Frauen, Verstümmelung und oft damit den Tod junger Mädchen? Ist dem allen durch militärischen Antiterrorkampf beizukommen? Der hat ganz anderen Anlass - es bleibt aber die Frage: helfen wir Christen den Menschen unserer Erde hinreichend, dass sie leben können? Wir sprechen im Glaubensbekenntnis von Gott, dem Schöpfer, und sagen damit, dass unsere Welt seine Welt ist. Dürfen wir das Glaubensbekenntnis sprechen und für den Schalom, für das Wohlergehen seiner, unserer Welt so wenig, viel zu wenig tun? Eine Predigthilfe für unseren Abschnitt formuliert: "In Wahrheit fällt unsere Hilfe für die dritte Welt so schamlos gering aus, weil wir den Tod, ja schon die Armut Jesu an uns auf gar keinen Fall herumtragen wollen" (GPM 1984 z.St.).

Die letzte Überlegung des Paulus an die Korinther lautet folgendermaßen: (10) "Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat zu Lebzeiten.....". Dass im Neuen Testament nicht nur von Paulus von einem Gericht am Ende unseres Lebens gesprochen wird, kann einen schon beklommen machen und richtig Angst auslösen. Aber nun ist gleich ganz deutlich zu sagen, dass wir das Neue Testament falsch verstehen, wenn wir den Hinweis auf das Gericht so verstehen, dass damit gedroht würde, dass uns Angst gemacht werden soll. Nein. Das Gericht mit Christus als Richter dient mitnichten dazu, Strafe zu verhängen über die Untaten unseres Lebens, über unser Versagen, unsere Schuld. Das Gericht hat vielmehr die Aufgabe, die Wahrheit unseres irdischen Lebens aufzudecken, ans Licht zu bringen, wie es wirklich ist. Das kann sein die Wahrheit verfehlten Lebens, es kann sein die Wahrheit vergebener Sünde ebenso, wie empfangener und gelebter Liebe und insofern erfüllten Lebens. Paulus beschreibt das Richten an anderer Stelle als ein "Ans-Licht-Bringen" des Verborgenen. Überraschenderweise folgt dort darauf der Satz: "Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteil." Ich verstehe das so: Gott mit dem Gesicht Christi nimmt mich mit meinem Leben ernst. Am Ende stellt er mich mit meinem Leben vor den Spiegel - und dann ist nichts als die Liebe Gottes Grund, Maßstab und Ziel dieses Gerichts. Und wir können darauf vertrauen, dass Sein-in-seiner-Gegenwart der geschenkte Lohn ist. Müssen wir Angst haben, Lebensangst? Nein. Wir können froh sein, dass wir mit diesem Gott leben dürfen bis zum letzten Atemzug und dann erweckt werden in seine Gegenwart.

Liebe Gemeinde, ich finde diesen Predigttext in dieser trüben Jahreszeit wider Erwarten richtig tröstlich. Und was er sagt, gilt ja auch für alle die vielen, die in den hier in Europa schlimmen Zeiten vor dem Krieg, im Krieg und nach dem Krieg umgekommen sind. Wie gut, das nicht zu vergessen!

Hellmut Mönnich, P.i.R.
Ewaldstraße 97
37075 Göttingen

 


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