Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Gedenktag der Entschlafenen, 24. November 2002
Predigt über Hebräer 4, 9 - 11 , verfaßt von Karin Klement
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Bemerkungen

Liebe Gemeinde,
liebe Angehörige und Freunde unserer Verstorbenen in den zurückliegenden Wochen und Monaten!

HEUTE sind wir mitten drin in bedrückenden, schmerzhaften und leidvollen Erinnerungen. HEUTE sitzen wir still auf unserem Platz. Die äußerliche Arbeit ruht, die lauten, herausfordernden Ablenkungen unserer Zeit, der Aufgaben- oder Vergnügungs-Stress, unsere mehr oder weniger mühevollen Vermeidungsstrategien greifen nicht mehr. Rettungslos sind wir der RUHE ausgeliefert - und dem Nachdenken, dem Erinnern.

HEUTE berühren uns Erinnerungen, die schmerzen, Bilder, die wir längst eingesponnen und zart, aber dauerhaft verpackt glaubten. HEUTE spüren wir noch einmal, was wir mit all unserer Arbeit, mit Ablenkung und Verdrängung nicht überdecken konnten: Die Zeit heilt keine Wunden; unter dem Pflaster und Schorf des Alltagslebens bleibt eine Narbe. Ein Erinnerungszeichen, unübersehbar und beunruhigend. Gerade weil äußerlich alles ruhig erscheint, spüren wir noch einmal die innerliche Unruhe, unser Aufgewühltsein angesichts des Todes, der uns geliebte Menschen von der Seite riss.

19 Mitglieder unserer beiden Gemeinden, Männer und Frauen im Alter von 51 bis 102 Jahren, mussten wir im vergangenen Kirchenjahr zu ihrer letzten Ruhe geleiten. Lang vertraute Väter und Mütter, geliebte Ehemänner und -frauen, Söhne und Töchter hatten wir zu verabschieden. Darunter ein Ehepaar, das nur wenige Tage nacheinander verstarb und nach langer, krankheitsbedingter Trennung nun im Tod und in der Beisetzung wieder vereint wurde. Auch ein Sohn und ein Vater wurden ihrer Familie im selben Jahr entrissen. Eine hoch angesehene, unermüdliche Mitarbeiterin unserer Gemeinde, eine geliebte Ehefrau und Mutter musste viel zu früh von uns gehen. So viele Menschenleben, so viele reich erfüllte Beziehungen, unersetzlich-kostbare Schätze unserer Gemeinschaft, sanfte Ruhepole und schöpferische Aktivposten, haben wir verloren. Sie wurden uns entzogen, herausgerissen aus ihren gewohnten Lebensbezügen, aus ihrem intensiven Arbeiten oder aus einem wohlverdienten, geruhsamen Lebensabend. Sie mögen nun ihren Frieden, ihre Ruhe gefunden haben, aber was ist mit den Hinterbliebenen? Mit jenen, die ihre geliebten Toten nicht vergessen können, die sich innerlich wie zerrissen fühlen, abgetrennt von dem, was einst untrennbar mit ihrem Herzen verbunden schien?

Der Tod kommt immer überraschend, überwältigend, auch wenn er manchmal schon vorhersehbar und unaufhaltsam war. Er bringt uns aus der Ruhe, wühlt Herzen auf. Manchmal macht er Menschen sprachlos, irritiert, enttäuscht oder zornig - und immer wieder unendlich traurig. Niemanden lässt der Tod eines vertrauten Mitmenschen gleichgültig. Was aber können wir tun? Wie können wir umgehen mit solcher leidvollen Erfahrung? Wie finden Herz und Gedanken ihren Frieden mit dem, was geschehen ist?

Unruhig ist unser Herz - bis es Ruhe findet in Gott! "In Gott zu ruhen" ist ein Bild der Hoffnung, das ermutigt den Tod zwar als unabwendbare Realität zu akzeptieren, doch ihm nicht das letzte Wort und Bild zu überlassen.

Ähnlich tröstend und ermutigend klingen drei Sätze aus dem Hebräerbrief, die uns in den heutigen Erinnerungstag begleiten wollen. Sie nehmen die Exoduserfahrungen des alten Volkes Israel auf und übertragen sie auf die Menschen ihrer Zeit. Sie zielen darauf, Menschen auf ihrem anstrengenden, durch beunruhigende Wüstenerfahrungen erschwerten Lebensweg in ihrem Vertrauen gegenüber Gott zu bestärken. Auch am Ende aller menschlichen Kräfte, am Ende aller Hoffnungen, bei Erfahrungen nahe an der Grenze des Todes gibt es immer noch etwas zu erwarten:

Es ist also noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes. Denn wer zu Gottes Ruhe gekommen ist, der ruht auch von seinen Werken so wie Gott von den seinen. So lasst uns nun bemüht sein, zu dieser Ruhe zu kommen, damit nicht jemand zu Fall komme durch den gleichen Ungehorsam.

Eine Ruhe wird versprochen, eine Ruhe jenseits aller Stressfaktoren von Unerledigtem oder defizitärer Lebensbilanzen, jenseits aller Begrenzungen und scheinbar unlösbaren Schwierigkeiten des Lebens. Eine Ruhe, die nicht einfach bloß Entspannung und Erholung verspricht oder das Sammeln neuer Kräfte für weiteres Abrackern, sondern eine Erfüllung im weitesten, umfassendsten Sinn: Frieden mit Gott und mit sich selber!

GOTTES RUHE ist - nach dem Hebräerbrief - das Ziel aller Schöpfung; ein Wunsch- und Hoffnungsbild wie die Bilder vom "Paradies" oder von "Gottes Himmelreich auf Erden".

Wenn wir heutigen Menschen das Stichwort RUHE hören, verbinden wir es - je nach Lebensalter und Situation - mit ganz unterschiedlichen Gedanken und Gefühlen.

Wer jung, dynamisch, voller Neugierde auf alles, was das Leben bieten kann, stattdessen RUHE zugesprochen bekommt, mag darunter eher ein Ausbremsen, einen Zwang zur Selbstbeschränkung verstehen. Viele befürchten ein unterdrückendes, erzwungenes Stillewerden, ähnlich der Todesruhe, die uns Angst macht.

Anders mag ein Mensch im mittleren Alter RUHE ein- und sogar wertschätzen. Als ein notwendiges Innehalten im spannungsreichen Lebensalltag. Als eine sinnvolle Pause zum Nachdenken und Sich-auf-das-Wesentliche-besinnen. Andererseits, wer alltäglich auf der Flucht ist vor Karriere- und Geschäftskonkurrenten, für den bedeutet RUHE womöglich auch soviel wie Stillstand, Rückschritt, Abgehängt-sein.

Und wie sieht das aus bei der sogenannten "älteren Generation", den 60-(?) oder 70jährigen und darüber? Tragen Menschen dieser Generation, je näher sie dem erwarteten Lebensende rücken, schon so etwas wie Lebens-MÜDIGKEIT in sich? Sind sie erschöpft von den zahlreichen Lebenserfahrungen, die sich immer wieder ähneln und dennoch neu bewältigt werden müssen? Spüren sie Sehnsucht danach, von jahrzehntelangen Anstrengungen endlich einmal auszuruhen - und welche Hoffnungen bewegen sie dabei? Erwarten sie in oder nach der Ewigen Ruhe noch etwas vollkommen Neues, Unbeschreibliches??

GOTTES RUHE wird im Hebräerbrief als ein höchst positives, erstrebenswertes Ziel angesehen. Und die menschliche ruhige, vertrauensvolle Gelassenheit erscheint mir wie ein Abglanz davon. Es gibt sie ja, Mitmenschen, die "die Ruhe weg haben", die sich niemals in Hektik bringen lassen, die unerschütterlich darauf vertrauen, dass Gott alle Zeit in seinen Händen hält und sie zu ihrer eigenen Lebenszeit nichts dazu- oder davon wegtun können.

Und dennoch - ist ihre - unsere - schlicht menschliche Ruhe einfach gleichzusetzen mit GOTTES RUHE? Wohl kaum. Aber was verbirgt sich dann hinter diesem Begriff für uns Heutige? Unser Problem ist, dass wir alles Göttliche in menschliche Bilder fassen müssen, um es für uns einleuchtend, glaubhaft und verständlich zu machen.

Vielleicht hilft uns auf der Suche nach GOTTES RUHE eine Filmgeschichte. Sie erzählt unter dem Titel "The Sixth Sense" (auf deutsch: "Der sechste Sinn") die Geschichte von Menschen in außergewöhnlichen Situationen. Eines ist allen Mitspielenden gleichermaßen eigen: Sie sind Menschen, die keine Ruhe gefunden haben, unruhige Geister auf der Suche nach Vollendung.

Einer der beiden Hauptdarsteller ist der Kinderpsychologe, Dr. Malcolm Crowe. Er wird von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen gequält. Ein halbes Jahr zuvor hatte ein ehemaliger Patient, dem er nicht helfen konnte, auf ihn geschossen und sich anschließend selbst getötet. Nun trifft der Arzt auf einen neunjährigen Jungen, Cole, der ähnliche Symptome zeigt wie sein ehemaliger Klient. Ein düsteres Geheimnis scheint Cole zu umgeben und versetzt ihn in Angst und Schrecken. Gleichgültig ob am Tage oder in der Nacht, bis in den Schlaf hinein wird er von toten Menschen verfolgt, die seine Aufmerksamkeit suchen. Sie finden keine Ruhe und belasten ihn mit ihrem vergangenen Leben und ihren grauenvollen Schicksalen. Die Kamera fixiert, was der Junge sieht.

Äußerlich sehr ruhig, doch innerlich gespannt wie ein "unruhiger Geist", drängt es den Psychologen, dem Kind zu helfen. Er sieht eine Chance das wieder gut zu machen, was er gegenüber seinem anderen Patienten versäumt hatte. Seine intensiven Bemühungen zahlen sich aus; Cole fasst Vertrauen zu ihm und erzählt ihm sein Geheimnis: "Ich sehe tote Menschen, aber sie wissen nicht, dass sie tot sind. Sie sind überall. Und sie sehen nur, was sie sehen wollen." Der Kinderarzt widersteht der Versuchung, diese Aussagen tiefenpsychologisch zu deuten. Er lässt sich einfach darauf ein; auch wenn er selbst natürlich nirgendwo Geister sehen kann. Er ermutigt Cole, die Toten danach zu fragen, was sie von ihm wollen.

Die Kamera schaut mit den Augen des Jungen, der nun nicht mehr ängstlich wegläuft, sondern sich den grausigen Bildern stellt, die er wahrnimmt. Unter anderem deckt er dabei einen Mord auf. Cole findet mit Hilfe des Kinderpsychologen einen Weg, den Toten ihre Ruhe wiederzugeben - und sich selbst ebenfalls. Zuletzt vertraut er sich seiner Mutter an, die vor lauter Sorge um ihr Kind schon nicht mehr ruhig schlafen konnte. Was ihr Sohn von der verstorbenen Großmutter erzählt, erscheint ihr glaubhaft und beide finden damit endlich Frieden.

Zwischendrin erscheinen immer wieder Szenen zwischen Malcolm Crowe und seiner Frau. Ihr beider Leben scheint immer stärker parallel als gemeinsam zu verlaufen. Beim Abendessen oder Frühstück steht nur ein Gedeck auf dem Tisch; die beiden begegnen sich kaum noch und reden nicht mehr miteinander. Ein junger Mann versucht Crowes Frau einzuladen; aber sie bleibt reserviert. Eines Abends betritt der Kinderpsychologe ein nobles Restaurant; dort sitzt seine Frau in festlicher Garderobe ganz allein am Tisch. Als er sich niederlässt, wird gerade die Rechnung gebracht. Beide greifen danach, doch die Frau ist schneller. Er versucht sich für sein Zuspätkommen zu entschuldigen, doch sie schaut ihn nicht einmal an, steht nur auf und sagt leise: "Ein schöner Hochzeitstag!"

Zuhause entdeckt er im Badezimmerschrank ein antidepressives Mittel, das seiner Frau verschrieben wurde. Sein Arbeitszimmer im Keller ist verschlossen. Crowe spürt unruhig, dass alles sich verändert hat: seine Frau, sein Leben. Er muss sich entscheiden, ob der dem Jungen weiter helfen will oder seine Ehe retten soll. Seine Schuldgefühle gegenüber beiden verstärken seine innere Unruhe.

Bei seiner letzten Begegnung mit Cole, spricht dieser ihn auf sein trauriges Gesicht an. Und entgegen aller psychologischer Praxis erzählt der Kinderarzt, was ihn belastet. "Sie müssen mit Ihrer Frau reden, wenn sie schläft. Dann wird sie Ihnen zuhören", rät ihm der Junge. Dann nehmen beide von einander Abschied, aber so als sollte es ein Wiedersehen geben.

Malcolm geht nach hause. Dort findet er seine Frau schlafend auf dem Fernsehsessel vor dem laufenden Hochzeitsvideo. "Du fehlst mir! Warum hast du mich verlassen?" flüstert sie wie im Traum. "Aber ich habe dich doch gar nicht verlassen!" widerspricht Malcolm. In diesem Augenblick öffnet sich die geschlossene Hand der Frau und ein Ehering kullert über den Boden. Erstaunt blickt Malcolm auf seine Hand; tatsächlich es ist sein Ring. Aus dem leicht geöffneten Mund seiner Frau dringt warme Luft, als ob sie von Eiseskälte umgeben ist. So wie es immer bei Cole war, wenn ihm ein Toter begegnete. In diesem Augenblick wird Malcolm klar, was geschehen ist. Er spürt das Blut der Einschusswunde auf seinem Rücken und durchlebt noch einmal die letzten Sekunden seines irdischen Lebens. Jetzt kennt er sein Geheimnis und akzeptiert den Tod. Er hat seine Arbeit vollendet, seine Schuld ist bezahlt; alles Unerledigte, was ihm keine Ruhe ließ, ist erledigt.

Nun endlich kann er Abschied nehmen von seiner Frau, sie weiterleben lassen in einer veränderten Welt, die nicht mehr die seine ist. Er kann ihr die notwendige Ruhe gönnen für neue Beziehungen, neue Erfahrungen in und mit dieser Welt, schöpferische Kraft für den Aufbruch in das Leben, das vor ihr liegt. Und er kann für sich selber FRIEDEN finden, einen Frieden für den es hier noch keine Worte, keine Bilder gibt, der alles umfasst, was wichtig, gut und wunderbar ist. Ein Frieden in GOTTES RUHE.
AMEN

VORBEMERKUNGEN ZUM SCHLUSS
Die drei Verse aus Kapitel 4 des Hebräerbriefes sind aus ihrem Zusammenhang herausgerissen. Ihre Konnotationen (z.B. im Blick auf Begriffe wie: Volk Gottes, Gottes Ruhe, zu Fall kommen, gleicher Ungehorsam) lassen sich eigentlich nur im Zusammenhang mit dem Kontext (3, 7 - 4, 11 Midrasch zu Psalm 95) angemessen verstehen.
Inhaltlich geht es darin um eine Warnung vor dem Unglauben, der als Ungehorsam beschrieben wird. Auf dem generationenlangen Wüstenwanderweg wäre es fatal für die Menschen ihre Zuversicht, ihr Vertrauen gegenüber Gott zu verlieren. "Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht!" lautet die immer wieder neue, drängende Aufforderung. Die Verheißung der "Ruhe Gottes" als angestrebtes letztes Ziel kann verloren gehen, wenn Menschen auf ihrem (Lebens-)weg durch wüste Zeiten ausschließlich mit Gott hadern und in Bitterkeit/Verbitterung versinken.
Mit der "Ruhe Gottes" ist allerdings kein irdisches Ziel gemeint, sondern die Vollendung allen Lebens in und bei Gott - analog zu biblischen Bildern wie: "Gottes Himmelreich auf Erden", "Paradies" oder "Leben" (bei Johannes).
Das ist die eine Seite, die andere ist die Situation unserer GottesdienstbesucherInnen am Totensonntag und ihre Erwartungen im Blick auf das, was sie hören werden. Assoziationen von "Friedhofsruhe", "Grabesruhe", "Letzte Ruhe" als milde Umschreibung für das endgültige Aus scheinen unvermeidlich. Diese Bilder positiv zu füllen, ohne das Schmerzliche zu übersehen, Hoffnung, Vertrauen und Zuversicht in den Schöpfer und Bewahrer des Lebens zu stärken, wäre mein Wunsch.

Einfälle zum Stichwort "RUHE":
- Gerade in unserer hektisch-stressigen Zeit braucht jeder Mensch einen Ort der Ruhe zur Entspannung und Erholung.
- Ein meinen Bedürfnissen entsprechend gestalteter Raum der Ruhe (Bildergalerie, Musiksaal, Waldspaziergang...) lässt mich durchatmen, nachdenken und neue Kraft schöpfen.
- Das Alltagsleben ist unruhig, voller Sorgen und kaum zu bewältigenden Anforderungen. Immer wieder laufe ich meinen unerledigten Werken hinterher. Vertrauensvolle Gelassenheit fehlt mir oftmals.
- Andererseits, gibt es nicht auch eine heilsame UN-Ruhe, die uns anleitet das Beunruhigende, Verdrängte, Totgeschwiegene "aufzuarbeiten"?
- Sabbat-Ruhe als Entlastung von unerledigten Aufgaben und dauernden Anforderungen, von der Sorge um eine unerfüllte Lebensbilanz. In Gottes Ruhe ist das Stückwerk all unseres Handelns längst vollendet; bei Gott kommt unsere Hektik, Unzufriedenheit, aber auch unsere Sehnsucht zur Ruhe.
- Friedhof als Ort der letzten Ruhe - doch voller Leben und tröstend schön für die Lebendigen!

Pastorin Karin Klement
Lange Straße 42
37077 Göttingen
email: karin.klement.@evlka.de


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